Читать книгу Der schottische Bankier von Surabaya - Ian Hamilton - Страница 16
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ОглавлениеAVA ÖFFNETE DIE AUGEN und blinzelte in das grelle Kabinenlicht. Sie blickte aus dem Fenster auf das Südchinesische Meer, das in der Morgensonne glitzerte und mit Schiffen gesprenkelt war, deren Anzahl mit jedem Kilometer, den sie sich Hongkong näherten, zunahm. Ava stand auf und streckte sich, dann ging sie in den Waschraum, um sich frischzumachen und einen klaren Kopf zu kriegen.
Chek Lap Kok International gehörte zu einer Reihe von neueren asiatischen Flughäfen – wie Bangkok, Singapur, Kuala Lumpur und Beijing –, die einzig darauf ausgerichtet waren, Menschen und Gepäck so effizient wie möglich durchzuschleusen. Der Flughafen besaß nichts von dem Charme des alten Kai Tak Airport in Kowloon, den man nach einer scharfen Kurve entlang der Berge direkt über die Hochhäuser Hongkongs zur Landebahn im Victoria Harbour angeflogen hatte, so dass die zum Trocknen aufgehängte flatternde Wäsche fast die Flügel des Flugzeugs zu streifen schien.
Lap Kok war auf einer künstlich erheblich veränderten Insel etwa zwanzig Kilometer von Hongkong entfernt errichtet worden. In Avas Augen besaß dieser Flughafen den Vorzug, dass sie nur etwa fünfzehn Minuten brauchte, um aus dem Flugzeug zu steigen, den Zoll zu passieren und ihr Gepäck (sofern sie es aufgegeben hatte) abzuholen. Um ins Stadtzentrum zu fahren, konnte sie den Airport Express-Zug nehmen oder mit dem Taxi die sechsspurige Schnellstraße in Küstennähe zurücklegen. Kai Tak war zwar nur eine zehnminütige Taxifahrt von Onkels Wohnung entfernt gewesen, aber es hatte länger gedauert, die Pass- und Zollkontrolle hinter sich zu bringen – die Schlangen in der Ankunftshalle reichten oft bis in die Gänge hinein – und für ein Taxi anzustehen, als die Fahrt von Chek Lap Kok aus.
Wie gewöhnlich, war Ava binnen Minuten durch die Pass- und Zollkontrolle und in der Ankunftshalle. Sie strebte auf den Taxistand zu, als sie hörte, wie jemand hinter ihr ihren Namen rief. Sie wandte sich um und erblickte Sonny. Er stand unter dem Zeichen mit der Aufschrift MEETING POINT.
Sie blinzelte und hielt dann nach Onkel Ausschau. Er war nirgends zu sehen. Sonny winkte unbeholfen. Ava ging auf ihn zu, und ihr stiegen Tränen in die Augen. Bei ihrer letzten Begegnung hatte er sie auf seinen Armen aus dem Haus in Macao getragen. Für die andere Seite war die Auseinandersetzung böse ausgegangen: drei Tote und ein Schwerverletzter; Ava war die Einzige, die auf ihrer Seite verwundet worden war. Sonny hatte ihr vermutlich das Leben gerettet.
»Hey, Boss!«, sagte er. Er trug einen schwarzen Anzug, ein weißes Hemd und eine schwarze Krawatte, was ihn aber nicht weniger bedrohlich aussehen ließ. Er war gut eins achtzig groß, stämmig und trotz seiner Masse unglaublich agil. Ava kannte keinen Mann, der körperlich mehr zu fürchten war.
»Sonny«, sagte sie und streckte die Arme aus.
Sie umarmten einander – das war neu in ihrer Beziehung; das hatte Macao verändert.
»Schön, dich zu sehen. Wir waren nicht sicher, ob du zurückkommen würdest.«
»Ich auch nicht.«
Er griff nach ihrem Handgepäck. Sie wehrte sich dagegen, aber nur für einen Moment. Seite an Seite gingen sie zum Ausgang. Neben Sonny war sie sich immer klein vorgekommen, und jetzt, wo die Erinnerungen an Macao sie bestürmten, umso mehr. Sie hatte nicht über die Ereignisse nachgedacht, wie sie feststellte. Oder hatte es vorgezogen, alles zu vergessen. Wie auch immer – mit Sonny kam nun alles zurück.
»Ich habe Onkel gebeten, nicht zum Flughafen zu kommen«, sagte sie.
»Er hat mich trotzdem geschickt.«
Sie verließen das Flughafengebäude und hatten nur wenige Schritte bis zu dem silbernen S-Klasse-Mercedes, Onkels neuem Wagen. Er stand in einer Parkverbotszone; daneben ein Polizist. Der lächelte Sonny an, und einen Augenblick dachte Ava, er würde ihnen die Türen öffnen. Stattdessen nickte er leicht und entfernte sich. Ava wollte die Beifahrertür öffnen, aber Sonny legte ihr die Hand auf den Arm und öffnete die hintere Tür. »Onkel nimmt immer hinten Platz, wie du weißt.«
Sie zögerte und sah, wie Sonny die Stirn runzelte. Sie glitt auf den Rücksitz und stellte ihr Handy an, während sie das Terminal verließen. Es gab eine Sprachnachricht von Maria, die sehr viel niedergeschlagener klang als zuvor, als Ava verkündet hatte, dass sie ihre Arbeit wieder aufnehmen würde. In Toronto war es früher Abend, und Ava hätte sie erreichen können. Sie entschied sich dagegen. Wenn sie einem Auftrag nachging, versuchte sie ihr Privatleben und alle Ablenkungen, die damit verknüpft sein mochten, im Hintergrund zu halten. Es war eine gute Angewohnheit, die sie gleich wieder annahm.
»Wir fahren nicht ins Mandarin«, sagte Sonny und sah sie im Rückspiegel an. »Onkel hat gesagt, als du das letzte Mal hier warst, hättet ihr jook in Kowloon gegessen und das hätte euch Glück gebracht. Er möchte dich in demselben Restaurant treffen.«
»Ist gut«, sagte Ava.
Den ersten Teil der Fahrt nach Hongkong legten sie schweigend zurück. Sonny war selbst zu besten Zeiten nicht besonders gesprächig, Ava empfand Stille als absolut angenehm, und so war Schweigen für sie beide völlig natürlich. Doch als sie die Tsing-Ma-Brücke überquerten und Hongkong in Sicht kam, sagte Sonny: »Ich kann dir gar nicht sagen, wie glücklich er ist, dass du hier bist und dass ihr beide zusammen wieder einen Auftrag übernommen habt.«
»Ich freue mich auch, ihn wiederzusehen.«
»Er hat das gebraucht.«
»Was meinst du damit?«, fragte Ava.
»Er hat etwas gebraucht, das sein Interesse wieder weckt«, erklärte Sonny. »Lourdes und ich haben uns Sorgen um ihn gemacht.«
»Du machst mir Angst«, sagte Ava hastig. »Gibt es etwas, das ich wissen sollte?«
Sonny wandte sich kurz zu ihr um. »Wir sind uns nicht sicher.«
»Sonny, rede mit mir – bitte!«
»Im Grunde gibt es nichts, über das wir reden müssten. Es gibt keinen echten Grund zur Besorgnis. Es ist bloß so, dass es Tage gegeben hat, an denen er nicht aus dem Haus gegangen ist, und du weißt ja, dass das gar nicht seine Art ist. Und dann wieder gab es Tage, an denen er allein unterwegs war, ohne mir etwas zu sagen. Das ist auch nicht seine Art.«
»Weißt du, wo er war?«
»Nein.«
»Das ist wirklich merkwürdig.«
An seinen Augen im Rückspiegel sah sie, dass er unschlüssig war. »Lourdes denkt, dass er einfach bloß alt wird.«
»Er ist alt.«
»Natürlich ist er das, aber er hat sich nie alt verhalten. Sein Verstand war immer so scharf, und körperlich war er nie ein Mann, der Wehwehchen und Zipperlein hatte.«
»Was hat sich verändert?«
Sonny zögerte, und sie wusste, dass es ihm schwerfiel, über Onkel auf eine andere Weise zu reden als mit äußerstem, bedingungslosem Respekt. Selbst ihm gewöhnliche menschliche Gebrechlichkeit zuzuschreiben musste ihm wie eine Art Verrat vorkommen.
»Wir sind wie eine Familie, Sonny«, sagte sie.
»Er hat mit mir über die alten Zeiten geredet«, sagte Sonny langsam. »Wir sind nun schon seit mehr als zwanzig Jahren zusammen. Er hat mir damals aus der Patsche geholfen, weißt du. Ich war früher ziemlich aufbrausend, hab nie lange gefackelt. Ich hab immer gleich reagiert, ohne groß nachzudenken. Tja, und einmal bin ich zu weit gegangen. Ich war damals Anführer einer Gang in den New Territories. Onkel war der Boss – der große Boss –, und es war an ihm zu entscheiden, was mit mir passieren sollte. Er hätte einfach den Befehl geben können, aber stattdessen hat er nach mir geschickt und mit mir geredet. Ich war ihm nie zuvor begegnet. Es stellte sich heraus, dass wir eine ähnliche Kindheit gehabt hatten – es gab da eine Verbindung, wenn auch nur grob. Er hat gesagt, er glaubt, ich könnte ihm nützlich sein, wenn ich es schaffen würde, mich unter Kontrolle zu haben. Ich habe ihm gesagt: ›Ich weiß nicht, wie das geht.‹ Und Onkel hat geantwortet: ›Tu genau das, was ich dir sage. Versuch nicht länger, selbst zu denken. Auf die Art wird das Leben einfacher für dich.‹ Und so war es dann auch.«
Ava spürte, wie ihre Wangen heiß wurden. Die besondere Beziehung zwischen Sonny und Onkel war ihr nicht entgangen, aber sie hatte nie versucht, sie zu analysieren oder zu hinterfragen. Sie stand für sich und war Außenstehenden verschlossen. Ava hätte nie gedacht, dass Sonny derjenige sein würde, der sie zum Thema machte. Außerdem war sie überrascht, wie lange er geredet hatte. Sie hatte ihn nie mehr als zwei oder drei aufeinanderfolgende Sätze sagen hören. »Du sagst, er habe über die alten Zeiten geredet?«
»Ja, und das hat er vorher noch nie gemacht. Klar, wenn er mit Onkel Fong oder ein paar von seinen alten Gefährten zusammen war, dann haben sie schon über die Vergangenheit gesprochen, aber mit mir hat er das nie getan. Und jetzt tut er das.«
Sie verließen die Brücke und näherten sich im Schneckentempo dem Cross-Harbour-Tunnel nach Kowloon.
»Was hat er dir erzählt?«
»Es quält ihn, was mit den Gesellschaften passiert ist. Es gipfelte darin, als er dir bei der Sache mit dem Arschloch in Macao nicht helfen konnte. Er hat mir erzählt, als er Vorsitzender war, glaubte er Struktur in die Organisation gebracht zu haben und dass ein Schwur wieder etwas wert war. Doch sobald er ihnen den Rücken gekehrt hatte, ging alles wieder den Bach runter. Er hat das Gefühl, seine Zeit verschwendet zu haben – dass ein Teil seines Lebens vergeudet war.«
»Er hat immer noch so vieles, auf das er stolz sein kann.«
»Das scheint er nicht hören zu wollen.«
»Nun, ich werde mit ihm sprechen.«
Sonny verfiel wieder in Schweigen, und Ava fragte sich, ob ihm ihr Vorschlag missfiel. Aber dann sagte er: »Ja, ich glaube, das solltest du. Du bist vermutlich der einzige Mensch, dem er wirklich zuhört. Ich und Lourdes – wir sind wie alte Möbelstücke.«
Vor dem Tunnel hatte sich eine Schlange gebildet, und Ava wünschte, sie hätten sich an ihren Plan gehalten, sich auf der Hongkong-Seite zu treffen.
»Es wird nicht lange dauern«, sagte Sonny, als könnte er ihre Gedanken lesen.
»Diese Wehwehchen und Zipperlein, von denen du gesprochen hast – gibt’s da irgendwas Konkretes?«
»Er scheint öfter Magenprobleme zu haben als sonst, und er isst nicht mehr so viel wie früher. Lourdes sagt, er hätte Gewicht verloren.«
»Mir hat er erzählt, er hätte zu oft billiges Sashimi gegessen.«
»Blödsinn. Er hat seit Monaten nicht japanisch gegessen, es sei denn hinter meinem Rücken. Er hat sonst immer einen gesunden Appetit gehabt, aber in letzter Zeit stochert er im Essen bloß noch herum, und er hat eine Menge Gerichte von seinem Speiseplan gestrichen. Ich glaube, deshalb will er dich in Kowloon treffen. Morgens isst er jetzt immer Congee, und Lourdes sagt, manchmal auch abends.«
Ava fühlte sich ein wenig schuldbewusst, weil sie wegen des Cross-Harbour-Tunnels genervt gewesen war. »Hat er einen Arzt aufgesucht?«
»Das wissen wir nicht.«
»Wäre es möglich, dass er an den Tagen, an denen er ohne dich das Haus verlässt, vielleicht zum Arzt geht?«
Sonny schüttelte den Kopf und seufzte. »Daran habe ich noch gar nicht gedacht … Mist, warum bin ich nicht darauf gekommen?«
»Wenn er dir keinen Grund zu der Annahme gegeben hat – warum solltest du?«
»Aber du bist gleich darauf gekommen.«
»Ich bin genauso hinterlistig wie er.«
Sonny hieb mit der Hand aufs Lenkrad. »An den Tagen, an denen er mich nicht braucht, wie er sagt, werde ich meinen Hintern draußen vor dem Haus parken. Ich werde ihn beschatten.«
»Gute Idee«, erwiderte Ava, obwohl sie sich kaum vorstellen konnte, dass Onkel Sonnys Anwesenheit entgehen würde. »Und du könntest noch etwas tun: Sprich mit Lourdes und finde heraus, wer sein Arzt ist. Das würde ich nämlich auch gern wissen.«
»Mach ich«, sagte Sonny, als sie in den Tunnel eintauchten und die letzte Etappe nach Kowloon in Angriff nahmen.
Das Restaurant war in Tsim Sha Tsui, in der Nähe des Star Ferry Piers. Die Straße war mit Bussen und Taxis verstopft, und selbst Sonny konnte keinen Parkplatz finden, weder einen legalen noch einen illegalen. Er ließ sie am Eingang des Restaurants aussteigen und bat sie, ihn auf dem Handy anzurufen, wenn sie fertig waren.
Onkel war bereits da. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal mit ihm verabredet gewesen war und auf ihn hatte warten müssen. Am Eingang herrschte Gedränge, aber sie erspähte Onkel zwischen all den Menschen hindurch. Er saß in einer Nische mit einer Kanne Tee vor sich. Seine Füße baumelten über dem Boden. Wie Sonny trug er einen schwarzen Anzug und ein weißes Hemd, das bis zum Kragen zugeknöpft war. Sein Haar war noch immer überwiegend schwarz, wies aber mehr graue Strähnen auf, als sie in Erinnerung hatte. Sein Gesicht war beinahe faltenlos. Er war klein, nicht größer als sie, und er sah aus, als sei er ein wenig geschrumpft und habe, wie Sonny gesagt hatte, Gewicht verloren. Ava nahm ihn genau in Augenschein. Seine dunkelbraunen Augen schienen so lebhaft wie stets, und falls er sich Sorgen machte, ließ sein Blick das nicht erkennen.
Sie zwängte sich durch das Gedränge und ging auf ihn zu.
Er bemerkte sie, und ein Lächeln erhellte sein Gesicht. Er stand auf und streckte die Arme nach ihr aus. »So schön wie eh und je, mein Mädchen, so schön wie immer.«
Sie küsste ihn auf die Stirn. »Ich freue mich so, dich zu sehen!«
»Du hast nichts dagegen, hier zu essen?«
»Natürlich nicht. Du weißt, ich liebe Congee.«
»Ehrlich gesagt war mir nicht danach, mit dem Auto nach Hongkong zu fahren oder mich in der Rushhour in die Star Ferry zu zwängen.«
»Ich bin sicher, dass dir der Spaziergang gutgetan hat.«
Die Kellnerin wartete schon, um fix die Bestellung aufzunehmen, fix das Essen zu bringen, fix den Tisch erneut zu verkaufen, denn nichts brachte die Zeit zurück.
»Weißt du schon, was du möchtest?«, fragte Onkel Ava.
»Congee mit gehackten Frühlingszwiebeln.«
»Ich nehme das Gleiche, mit gesalzenen Eiern und eingelegtem Gemüse als Beilage«, sagte er zu der Kellnerin.
»Oh, ich möchte außerdem you tiao«, sagte Ava.
»Natürlich«, stimmte Onkel zu.
In wenigen Minuten wurde ihre Bestellung serviert. Congee und jook waren das Gleiche – ein einfacher Reisbrei. Ava fügte Sojasauce und weißen Pfeffer hinzu und tunkte eine you tiao, ein frittierte Hefestange, hinein. Onkel schlürfte seinen Reisbrei, wie er war, nahm aber zwischendurch einen Bissen von den Eiern und dem Gemüse. »Ich komme morgens oft hierher«, sagte er. »Lourdes wäre entsetzt, wenn sie das wüsste. Sie glaubt, sie mache den besten jook in Kowloon, und ich habe nicht das Herz, ihren Glauben zu zerstören.«
»Ich werde kein Wort darüber verlieren.«
»Während ich hier gesessen und auf dich gewartet habe, musste ich an das letzte Mal denken, als wir hier waren.«
»Mir ist, als wäre das Jahre her.«
»Ich habe mir solche Sorgen um dich gemacht.«
Sie sah von ihrer Reisschale auf und schaute ihn an. Da war sie wieder, diese Sentimentalität, aber seine Miene ließ nichts davon erkennen. »Es war nichts, mit dem wir schließlich nicht fertiggeworden wären, richtig? Letzten Endes haben wir Erfolg gehabt«, sagte sie.
»Gewissermaßen.«
»Es tut mir leid, dass ich den ganzen Sommer verbummelt habe.« Sie versuchte, sie wieder näher an die Gegenwart zu bringen. »Es hat Wochen gedauert, bis ich mein Bein wieder halbwegs normal gebrauchen konnte, und bis dahin war ich schon längst im Cottage und war richtig faul. Doch jetzt bin ich wieder im Einsatz, also lass uns die alten Sorgen vergessen.«
Er aß langsam, nahm Löffel um Löffel von seinem Reisbrei, als wäre es eine Hundert-Dollar-Schale Haifischflossensuppe, und schlürfte den Congee mit winzigen Schlucken. Er war nie ein schneller Esser gewesen, aber jetzt war er geradezu bedächtig. Ava hielt immer wieder inne, damit er nicht vollends ins Hintertreffen geriet.
»Du solltest wissen, dass ich Zweifel habe, ob mein Besuch in Ho-Chi-Minh-Stadt Erfolg verspricht«, sagte sie. »Es könnte ein kurzer Einsatz werden.«
»Warum denkst du das?«
Sie erzählte ihm in allen Einzelheiten von ihrem Treffen mit Joey Lac und auch, dass dieser absolut überzeugt war, dass Lam zu einer Unterschlagung dieses Ausmaßes nicht fähig war.
»Es sind immer diejenigen, die wir nicht in Verdacht haben, ehe es zu spät ist«, sagte Onkel und machte eine wegwerfende Geste.
»Aber Lac hat ihn gut gekannt.«
»Du wirst das bald genug herausfinden.«
»Welche Vorkehrungen hast du in Vietnam getroffen?«
»Am Flughafen wird ein Freund auf dich warten. Er wird Zivilkleidung tragen, ist aber bei der Polizei, District One. Er wird tun, was du von ihm verlangst … in angemessenem Rahmen, versteht sich.«
»Ich gehe nicht davon aus, dass Lam mir ernste Probleme bereiten wird. Er ist Finanzberater, kein Gangster.«
»Sei auf jeden Fall vorsichtig. Vergiss nicht, dass sein Bruder ein vermögender Mann ist, und er wird Freunde in Vietnam haben. In dem Land führt einen das zwangsläufig zur Polizei oder zur Armee.«
»Ich werde nichts Unüberlegtes tun«, erwiderte Ava und holte ihr Notizbuch aus der Tasche. Sie riss eine leere Seite heraus und schrieb die Informationen über die Bank Linno ab, die Lac ihr gemailt hatte. »Haben wir Kontakte in Indonesien?«, fragte sie.
»Einige. Hauptsächlich in Jakarta natürlich.«
Sie schob ihm den Zettel hin. »Diese Bank hat ihren Firmensitz in Surabaya. Ich habe nur einen Namen und dazu eine Telefonnummer und eine E-Mail-Adresse. Könntest du möglichst viel über diese Bank in Erfahrung bringen?«
»Die hängt mit Lam zusammen?«
»In der Tat.«
»Ich habe noch nie von dieser Bank gehört.«
»Sie war immerhin groß genug für eine Zweigstelle in Toronto, und dort hat Lam das Geld eingezahlt, das er eingesammelt hatte. Das Merkwürdige ist, dass die Filiale dichtgemacht wurde, kurz nachdem Lam in Schwierigkeiten geraten war.«
»Glaubst du, dass es da eine Verbindung gibt?«
Es war nicht seine Art, voreilige Schlüsse zu ziehen, ebenso wenig wie ihre. Langsam und bedächtig, das war immer ihre Devise gewesen – von A nach B nach C, bis sie am Ende anlangten, ohne Abkürzungen zu nehmen, denn Abkürzungen erwiesen sich in den meisten Fällen als sinnloses Unterfangen, als reine Geld- und Zeitverschwendung.
»Ich weiß nicht, was ich glauben soll«, entgegnete sie. »Ich muss erst mal Lam finden.«
»Ich werde zusehen, was ich in Indonesien in Erfahrung bringen kann«, sagte Onkel.
»Danke.«
Er legte seinen Löffel beiseite, das jook erst halb gegessen. »Ich muss sagen, dass ich überrascht war, als du mich anriefst, um über diesen Auftrag zu sprechen.«
Seine Miene war gleichmütig, aber Ava vernahm das leichte Zittern in seiner Stimme.
»Warum das?«
»Ich dachte, nach Macao hättest du vielleicht beschlossen, dass der Erfolg das Risiko nicht mehr aufwiegt. Ich meine, du hast genug Geld, um solche Aufträge nicht mehr übernehmen zu müssen, und du bist so verdammt clever, dass du alles Mögliche machen könntest, was immer du willst.«
Ava streckte die Hand aus und legte sie auf seine. »Es geht wieder um May Ling, nicht wahr?«
Er lächelte. »Sie ist nicht so subtil wie du, auch wenn sie das gern glaubt. Sie hat mich gestern angerufen, und zwar nicht zum ersten Mal, und mich doch tatsächlich gefragt, ob ich je daran gedacht hätte, nach Wuhan heimzukehren. Und als ich erwiderte, das hätte ich – was vor zehn oder fünfzehn Jahren auch so war –, meinte sie, Changxing und sie würden sich geehrt fühlen, wenn ich eine Position in ihrem Unternehmen einnähme, als eine Art Elder Statesman. Und das von einer Frau, die uns damals nicht engagieren wollte, weil es ihr widerstrebte, ihren Familiennamen mit meinem in Verbindung zu bringen. Es muss ihr ein dringendes Anliegen sein, sich mit dir zusammenzuschließen, wenn sie bereit ist, mich in Kauf zu nehmen.«
Ava sah keinen Sinn darin, nicht direkt zu sein. »Onkel, du hast dazu beigetragen, dass May und ich uns kennenlernen. Nun sind wir Freundinnen. Und ja, sie hat versucht mich zu bewegen, in ihr Unternehmen einzusteigen. Ehrlich gesagt, habe ich darüber nachgedacht, und ich habe beschlossen, dass ich noch nicht dazu bereit bin. Vielleicht eines Tages, aber im Augenblick noch nicht. Ist das für dich akzeptabel?«
»Natürlich. Du schuldest mir nichts.«
»Ich schulde dir alles«, erwiderte sie, schärfer und lauter, als sie beabsichtigt hatte.
Er wandte die Augen ab, sein Blick glitt zum Fenster hinüber. »Ich sehe, dass Sonny umherkreist. Wir müssen dich zum Flughafen bringen, und ich muss einige Anrufe nach Indonesien tätigen und vielleicht auf die Philippinen. Meine Kontakte nach Indonesien sind nicht so gut, aber ich weiß, dass Onkel Chang dort gut vernetzt ist.«
»Wenn du mit ihm sprichst, richte ihm Grüße von mir aus«, sagte Ava.
»Wir telefonieren jede Woche miteinander«, antwortete Onkel. »Er ist immer noch Tommy Ordonez’ rechte Hand, und ich schätze, dass das so bleiben wird, bis er stirbt.«