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IHRE MUTTER WAR KAUM ERWACHT, als Ava sie anrief. Ihre Stimme klang kehlig, kratzig. »Ich habe bis heute früh um sechs Mah-Jongg gespielt«, sagte Jennie.

»Wie viele Stunden am Stück waren das?«, fragte Ava.

»Nicht so viele. Wir haben um zwei eine Pause eingelegt und sind ins Big Mouth Kee gegangen, um gebratene Nudeln zu essen.«

»Soll ich dich lieber später noch mal anrufen?«

»Worum geht’s?«

»Um Theresa.«

»Nein, nein, lass mal. Erzähl mir jetzt gleich, wie du dich entschieden hast.«

Ava konnte sich nicht erinnern, wann ihre Mutter das letzte Mal so erpicht darauf gewesen war, so früh am Morgen über irgendetwas zu reden. »Ich habe mich noch nicht entschieden. Ich habe mit Onkel gesprochen, und er sagt, er habe kein Interesse daran, drei Millionen Dollar nachzujagen.«

»Ava!«

»Warte, Mummy, flipp nicht gleich aus. Es ist nicht so, wie es scheint.«

»Wie ist es dann?«

»Weißt du, uns kostet es gleich viel Geld und Zeit, drei Millionen nachzujagen wie zwanzig oder dreißig Millionen. Onkel hat vorgeschlagen, dass Theresa einige der anderen Leute kontaktiert, die ebenfalls betrogen wurden, und sie dazu bringt, uns ebenfalls zu beauftragen. Wenn wir genügend Leute und eine genügend große Gesamtsumme zusammenkriegen, dann ist er einverstanden, den Auftrag zu übernehmen.«

Ihre Mutter schwieg, und Ava wusste, dass sie innerlich kochte. Ava begriff, dass sie Theresa längst erzählt hatte, dass es beschlossene Sache war, und ihre Worte zurückzunehmen war das Letzte, was ihre Mutter wollte. »Theresa glaubt, dass du den Fall übernommen hast«, gestand Jennie ein.

»Ich weiß nicht, wie sie darauf kommt, denn ich habe ihr keine Zusage gemacht. Und selbst wenn, bin ich doch Onkel unterstellt, und letztlich trifft er die Entscheidung.« Damit lieferte Ava ihrer Mutter den Vorwand, den sie benutzen konnte.

»Das wird nicht leicht für sie sein, weißt du«, sagte Jennie. »Außerhalb ihrer engeren Familie sind Vietnamesen sehr verschlossen. Selbst wenn sie dich engagieren wollten, würden sie doch nicht wollen, dass alle anderen wissen, wie viel Geld sie investiert und verloren haben.«

»Ich würde das vertraulich behandeln. Wenn es ihr gelingt, sie dazu zu bewegen, uns zu engagieren, würden wir individuelle Verträge mit ihnen abschließen. Sie würden niemandem irgendetwas offenbaren müssen.«

»Ich spreche mit ihr.«

»Das ist die einzige Chance.«

»Das war überflüssig!«, fauchte Jennie.

»Tut mir leid.«

Jennie seufzte. »Mir auch. Sie ist einfach eine so nette Frau, und mir ist wirklich daran gelegen, dass du ihr hilfst.«

Ava spürte, wie sich die Vorboten von Schuldgefühlen anschlichen. »Ich möchte ihr auch helfen. Also rede mit ihr und lass sie weitere Leute an Bord holen. Als ich mit Theresa gesprochen habe, hat sie gesagt, dass sie monatliche Abrechnungen von Emerald Lion bekommen hat. Die anderen müssen bloß die letzte Abrechnung mitbringen, damit ich schwarz auf weiß habe, was man ihnen schuldig ist. Ich brauche außerdem von allen ihre Bankverbindung – Name der Bank, Adresse der Zweigstelle, Kontonummer. Dann sehen wir weiter.«

»Ich wünschte, du würdest keine weiteren Leute in die Sache hineinziehen müssen.«

»Onkel will es so.«

»Und du tust immer, was er will?«

»Ja«, log Ava.

Theresa würde mindestens einige Tage brauchen, um Kontakt zu den anderen Geschädigten aufzunehmen und mit ihnen zu sprechen, und es war keinesfalls sicher, dass sie Ava und Onkel engagieren würden. Dreißig Prozent zu zahlen würde manchen von ihnen schwerfallen, auch wenn, wie Theresa gesagt hatte, siebzig Prozent von etwas besser waren als hundert Prozent von nichts.

Onkel hatte ihr an dem Tag, an dem er sich mit ihr zusammentat, eine grundlegende Wahrheit über seine Klientel vermittelt. »Anfangs sind sie alle immer hocherfreut, dass wir ihnen helfen wollen, und sie sind bereit, fast jede Summe zu zahlen, die wir verlangen. Doch in dem Augenblick, in dem wir das Geld haben, fällt ihnen wieder ein, dass es alles ihnen gehört hat, und dann gönnen sie uns nicht einmal fünf Prozent, geschweige denn dreißig.« Aus dem Grund ließ Onkel das wiederbeschaffte Geld gewöhnlich über ihr eigenes Bankkonto laufen. Auf diese Weise konnte er das Honorar einbehalten, ehe er die Restsumme an die Klienten weiterleitete.

Ava duschte und zog sich an. Es war fast schon Zeit fürs Mittagessen, und wo sie nun wieder in der Stadt war, verspürte sie Appetit auf Dim Sum. Sie rief Mimi an, die in fußläufiger Nähe zu Avas Apartment arbeitete, um sie zu fragen, ob sie mit ihr zusammen Mittag essen wollte. Mimi sagte, sie habe ein Lunch-Meeting bei sich im Büro, und so rief Ava bei Maria im Konsulat an, erfuhr aber, dass Maria bei einem Geschäftstermin in Oakville war, einem Vorwort im Westen Torontos. Ava hatte keine Lust auf sonstige Gesellschaft, also musste sie entweder allein Dim Sum essen oder gar nicht.

Das Dynasty Restaurant lag in östlicher Richtung an der Yorkville Avenue, keine fünf Minuten zu Fuß von Avas Wohnung entfernt. Sie bestellte Sauer-Scharf-Suppe, Har Gau, Hühnerfüße und Tofu, gefüllt mit gedünstetem Schweinefleisch. Als sie sich der Suppe widmete, klingelte ihr Handy. Die Nummer begann mit 905, gehörte also zu einem Außenbezirk Torontos, und war Ava unbekannt.

»Ava Lee«, sagte sie.

»Hier spricht Theresa. Ihre Mutter hat mich angerufen und mir erzählt, was Ihr Boss gesagt hat.«

»Ja?«

»Es ist erledigt.«

»Es ist erledigt?«

»Mein Bruder und ich haben einige der Leute, die wir kennen, kontaktiert, und sie haben das gleiche gemacht. Ich denke, wir haben etwa zwölf Parteien zusammen, die bereit sind, Sie zu engagieren.«

»Auf wie viel beläuft sich die Gesamtsumme?«

Theresa zögerte. »Das kann ich nicht sagen. Wir wollten die Leute nicht fragen, wie viel sie verloren haben. Ihre Mutter hat mir gesagt, was Sie wissen wollen, und wir haben diese Informationen weitergeleitet. Alle, die zu dem Treffen kommen, werden ihre Unterlagen mitbringen. Sie müssen die Informationen jedoch vertraulich behandeln. Das ist Ihnen klar, oder?«

»Ich habe meiner Mutter auch gesagt, dass es mehr als zwanzig Millionen sein müssen. Und nicht mehr als zwanzig Personen.«

»Ava, ich glaube, es geht um mehr als zwanzig Millionen, aber um das mit Sicherheit sagen zu können, müssen Sie sich die Unterlagen ansehen. Deshalb haben wir das Treffen organisiert.«

»Das Treffen?«

»Wir haben alle gebeten, sich um neunzehn Uhr im Pho Saigon Ho Restaurant auf dem Highway 10 – Hurontario Street – in Mississauga einzufinden und ihre Unterlagen mitzubringen.«

»Wann?«

»Heute.«

»Das ist kurzfristig.«

»Unsere Leute können es alle einrichten. Es ist ihnen viel zu wichtig, um sich nicht darauf einzulassen. Und Ihre Mutter hat gesagt, Sie seien momentan arbeitslos.«

Arbeitslos!, dachte Ava. Von zwei Frauen unter Druck gesetzt trifft es wohl besser. Warum hatte sie nicht nein gesagt, als sie sich in Orillia getroffen hatten? Warum hatte Onkel nicht nein gesagt? »Pho Saigon Ho?«, sagte sie und sah sich in der Falle.

»Ja, dort gibt es ein Hinterzimmer, das wir nutzen können. Der Besitzer gehört zu denjenigen, die um ihr Geld gebracht wurden.«

»Gut, ich werde da sein.«

»Wunderbar! Vielen, vielen Dank.«

»Und Theresa, bringen Sie mir bitte für alle Fälle das Kennzeichen des Wagens mit, aus dem Ihre Schwester Lam in Ho-Chi-Minh-Stadt hat aussteigen sehen.«

»Ich habe es hier. Soll ich es Ihnen geben?«

»Warum nicht«, sagte Ava.

Während Theresa ihr das Kennzeichen durchgab, ging Ava eine der Maximen von Saul Alinsky, dem großen Wegbereiter des Community Organizing, durch den Sinn: Wenn du keine Entscheidung triffst, wird es jemand anders für dich tun. Sie hatte es vor sich hergeschoben, hatte versucht, Onkel die Entscheidung zuzuschieben, und am Ende hatte sie sich in den Erwartungen anderer verfangen. Alinsky hatte über Boris Pasternaks Protagonisten Doktor Schiwago geschrieben, der sich zwischen Lara, seiner Geliebten, und Tonya, seiner Frau, hin- und hergerissen fühlte. Er konnte sich nicht für eine der beiden Frauen entscheiden – sein Pech, dass er nicht Chinese war, dachte Ava. Dann hätte er beide haben können –, und als er eines Tages von Lara zu Tonya zurückreitet, erfüllt von Zweifeln und Schuldgefühlen, wird er im Wald von roten Partisanen aufgegriffen und gezwungen, jahrelang als Feldarzt für sie zu arbeiten. Wenn er eine Entscheidung getroffen hätte, so Alinsky, dann wäre sein Leben völlig anders verlaufen. Ava teilte seine Ansicht. Ihr selbst hingegen konnte man normalerweise eher nachsagen, dass sie zu entscheidungsfreudig war. Nun hatte Theresa quasi die Rolle der roten Partisanen übernommen.

»Wie viele Leute werden da sein?«, fragte Ava.

»Mindestens vierzig, vielleicht auch mehr.«

»Wie viele verstehen und sprechen Englisch?«

»Einige.«

»Ich brauche jemanden, der oder die übersetzt. Ich möchte nicht, dass es irgendwelche Missverständnisse gibt.«

»Der Restaurantbesitzer kann das übernehmen.«

Ava hatte eine Vorlage ihres Standardvertrages auf ihrem Laptop, aber sie hatte keine Ahnung, wie viele Kopien sie brauchen würde. »Theresa, ich möchte, dass eine Person für jede Familie, für jede Partei unterschreibt. Wie viele werden das dann sein?«

»Zumindest die zwölf, die ich bereits erwähnt habe.«

»Gut, dann bringe ich auf alle Fälle zwanzig Vertragsausfertigungen mit.«

Ava sah auf die Uhr und überlegte, Onkel anzurufen. Dann entschied sie sich dagegen. Sie wartete lieber ab, bis sie wusste, wie viel Geld genau sie hinterherjagen würden.

Der schottische Bankier von Surabaya

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