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AVA SCHLIEF UNRUHIG; ihr Vater tauchte wieder in ihren Träumen auf, und am Rande lungerte ihr Halbbruder Michael herum. Sie waren in irgendeiner großen Stadt in den Vereinigten Staaten, in einem Komplex bestehend aus Büros und Fabriken und Hoteletagen, alles vermischt, und sie mussten zum Flughafen. Ihr Vater schickte sie los, um ihrer beider Gepäck zu holen, während er auscheckte. Ava verirrte sich in einem Gewirr aus Gängen, stieg kopflos von einem Fahrstuhl in den nächsten, während die Zeit verrann. Türen öffneten sich zu Räumen mit Fließbändern, andere Räume waren mit Schreibtischen vollgestopft, und Büroangestellte hielten sie für verrückt, als Ava sie verzweifelt nach dem Eingang zum Hotel fragte. Während ihre Abreise näher rückte, wuchs ihre Panik. Das war der Augenblick, als Michael erschien, in einem Atrium zwei Stockwerke über ihr, und ihr zurief, sie solle zu ihm kommen. Sie traute sich nicht, die Fahrstühle zu nehmen, sondern lief im Treppenhaus hoch. Doch als sie zwei Stockwerke höher ankam, fand sie die Ausgangstür nicht. Dort war überhaupt keine Tür.

Sie fuhr aus dem Schlaf hoch und warf einen raschen Blick auf ihren Wecker. Es war kurz nach sieben, und sie war froh, aufstehen zu können; sie fand es seltsam, dass der Traum mit seinem wiederkehrenden Thema vom verlorenen Vater und dem fernen Bruder sie in der zweiten Nacht, die sie wieder in der Stadt war, heimsuchte. Oben im Norden hatte sie geschlafen wie ein Stein.

Ava ging zur Tür, um die Zeitung hereinzuholen, und kochte sich einen Instantkaffee. Sie setzte sich an den Tisch beim Fenster und las ein bisschen schneller als am Vortag. Sie hatte jetzt anderes zu tun.

Als sie geduscht, sich angezogen und zwei weitere Tassen Kaffee getrunken hatte, ging sie drei Mal ihre Garderobe durch, ehe sie sich schließlich für zwei Hosen entschied, einen kurzen Rock, vier Businessblusen und zwei Paar Schuhe. Sie legte alles auf dem Bett aus und fügte dann ihr Reisenecessaire, BHs, Slips, drei T-Shirts, Joggingschuhe, Shorts, ihre Adidas-Nylonjacke und -Trainingshose hinzu. Ich werde einen richtigen Koffer brauchen, wenn ich das alles mitnehmen will, dachte sie, als sie den Haufen Kleidung auf ihrem Bett betrachtete. Zwei Blusen, der Rock und ein Paar Schuhe kehrten in den Schrank zurück. Wenn sie ihre Laufschuhe trug und ihr Adidas-Outfit, passte alles andere in ihre Shanghai Tang Ledertasche und damit ins Handgepäck.

Als sie mit dem Packen fertig war, setzte sie sich in die Küche und griff zum Telefon. In schneller Abfolge rief sie Maria, Mimi und ihre Schwester Marian an und erzählte ihnen, dass sie einen Auftrag übernommen hatte und zumindest einige Tage außer Landes sein würde. Keine von ihnen schien überrascht. Marian meinte: »Ich hatte mich schon gefragt, wie lange es wohl dauern würde, bis du wieder im Einsatz wärst.« Mimi bat sie, in Verbindung zu bleiben. Und Maria, die, so befürchtete Ava, sich um ihre Anwesenheit beraubt fühlen würde, fragte bloß: »Die Frau in der Kirche?« Ava war leicht konsterniert über den allgemeinen Mangel an Besorgnis, aber dann wurde ihr klar, dass keine von den dreien von der Seelenforschung wusste, die sie in den vergangenen Monaten betrieben hatte. Sie dachten, es wäre business as usual, und das bedeutete, dass Ava in ein Flugzeug stieg und irgendwo hinflog.

Ihre Mutter rief sie als Letztes an. Für Jennie war es immer noch ein bisschen früh, und ihre Stimme war schwer vor Schlaf. »Du fliegst heute?«

»Woher weißt du das?«

»Theresa hat mich gestern am späten Abend angerufen. Sie ist dir sehr dankbar. Und ich auch.«

»Ich habe keine Versprechungen gemacht, und das solltest du auch nicht. Ich werde mein Bestes tun.«

»Ich bin einfach nur froh, dass du es versuchst.«

»Versuchen ist das richtige Wort.«

»Fliegst du über Hongkong?«

»Ja.«

»Bleibst du länger dort?«

Ava zögerte. Sie wusste, worauf das hinauslief. »Nur ein paar Stunden. Ich habe gerade Zeit genug, mich mit Onkel zu treffen.«

»Ruf deinen Vater dennoch an, wenn du da bist. Wenn dich jemand sieht und ihm erzählt, dass du in Hongkong warst und du ihn nicht mal angerufen hast, wird er gekränkt sein.«

»Ich werde ihn anrufen.«

»Gut. Wenn ich heute Abend mit ihm spreche, sage ich ihm, dass du dich melden wirst.«

Ava wollte protestieren, zügelte sich aber. Marcus und Jennie telefonierten täglich miteinander, und sie war überzeugt, dass es nicht einen Tag gab, an dem sie und Marian nicht auch Thema waren. Und wenn Jennie mit Marcus sprach, würde Marcus es Michael gegenüber erwähnen und Michael Amanda gegenüber und Amanda May Ling gegenüber. Sechs Monate zuvor war Avas Leben entschieden einfacher gewesen.

Ihr Handy klingelte.

»Mummy, mein anderes Telefon … Ich muss rangehen.«

»Ruf mich zwischendurch mal an.«

»Nur wenn du versprichst, mich nicht zu fragen, wie ich mit Theresas Fall vorankomme.«

»Ava, sei nicht so gemein.«

»Hab dich lieb.« Ava beendete das Gespräch und griff nach ihrem Handy.

Es war Theresa Ng, die deprimiert klang. »Ich habe mit Joey Lac gesprochen. Er weiß nicht, ob er sich mit jemandem treffen möchte.«

»Er weiß es nicht oder er will es nicht?«

»Sie werden ihn anrufen müssen, um es herauszufinden.«

»Theresa, als Sie gesagt haben, dass Ihr Bruder ihn geschlagen hat – was genau ist da passiert?«

»Sie haben sich gestritten, und mein Bruder hat die Beherrschung verloren.«

»Hat er Lac verletzt?«

»Ein bisschen.«

»Was heißt das?«

»Er hat ihn mit einem Baseball-Schläger am Bein erwischt.«

»Du lieber Himmel!«

»Es tut mir leid, Ava. Aber ich glaube nicht, dass sein Bein gebrochen ist oder so. Es ist nur eine Prellung, denke ich.«

Kein Wunder, dass Lac nicht auf ein Treffen erpicht ist, dachte Ava. »Geben Sie mir seine Telefonnummer«, sagte sie gereizt.

Ava wählte die Nummer – sie gehörte einer Steuerberatungskanzlei in Richmond Hill – und hing einige Minuten in der Warteschleife. Sie fing schon an zu glauben, dass Lac sich weigerte, ihren Anruf anzunehmen, als er sich schließlich mit einem schüchternen »Hallo« meldete.

»Mr. Lac, mein Name ist Ava Lee, und ich bin Wirtschaftsprüferin. Ich habe Ihre Nummer von Theresa Ng erhalten. Sie hat mir erzählt, dass Sie vor einiger Zeit ein unerfreuliches Gespräch mit ihrem Bruder hatten. Zuerst einmal möchte ich Ihnen sagen, dass ich Sie auf der beruflichen Ebene in Ihrer Eigenschaft als Steuerberater anspreche. Ich möchte Sie gern zu einem Gespräch treffen – nur Sie und ich –, um freundlich und zivilisiert über Lam Van Dinh und seinen Fonds zu sprechen. Denken Sie, das wäre möglich?«

»Ich weiß nichts darüber«, erwiderte er.

»Worüber wissen Sie nichts?«

»Über den Emerald Lion Fonds. Das habe ich Bobby auch gesagt.«

»Bobby ist Theresas Bruder?«

»Ja. Ich habe ihm gesagt, dass ich nichts Konkretes über den Fonds weiß.«

»Aber Sie kennen Lam Van Dinh?«

»Natürlich. Wir sind zusammen zur Schule gegangen und waren Freunde.«

»Dann möchte ich Sie unbedingt treffen und mit Ihnen reden.«

»Das verstehe ich nicht.«

Ava überlegte, wie viel sie ihm erzählen sollte. »Haben Sie von ihm gehört, seit er Kanada verlassen hat?«

»Nein. Ich weiß nicht einmal mit Gewissheit, dass er weg ist, obwohl ich nichts mehr von ihm gehört habe, und ich weiß, dass alle sagen, er habe sich aus dem Staub gemacht.«

»Nun, er hat mit ziemlicher Sicherheit das Land verlassen, und wir glauben auch zu wissen, wo er sich aufhält. Ich habe die Absicht, ihn aufzusuchen, um herauszufinden, was mit dem Geld geschehen ist.«

»Viel Glück«, sagte Lac spitz.

»Warum sagen Sie das so?«

»Ich glaube nicht, dass Sie auch nur einen Cent finden werden.«

»Und warum nicht?«

Er schwieg, und Ava wusste, dass sie sich mit ihm treffen musste. »Hören Sie, warum lade ich Sie nicht zum Mittagessen ein, statt dieses unangenehme Telefonat fortzuführen. Ich muss ohnehin nach Richmond Hill. Wissen Sie, wo das Restaurant Lucky Season ist?«

»Times Square?«

»Ja, genau. Ich treffe Sie dort um ein Uhr. Ich werde eine blaue Adidas-Jacke tragen.«

Als er nicht antwortete, sagte sie: »Wenn es Ihnen lieber ist, kann ich auch zu Ihnen ins Büro kommen … Mr. Lac, ich werde allein da sein. Es gibt absolut keinen Grund, nicht mit mir zu sprechen. Ich möchte nur verstehen, was für eine Art Mensch Lam ist – oder war –, und ich glaube, dabei können Sie mir helfen. Ich habe keinen anderen Beweggrund.«

»Ich kann nicht vor halb zwei«, sagte er zögerlich.

»Dann treffen wir uns um halb zwei. Danke, Mr. Lac, ich weiß das wirklich zu schätzen.«

Ava fuhr ihren Laptop hoch. Sie fand eine lange E-Mail von May Ling vor. Ava überlegte, ob sie ihr erzählen sollte, dass sie nach Asien flog, entschied sich dann aber dagegen. May konnte emotional anstrengend sein, und wo Ava jetzt wieder einen Auftrag übernommen hatte, musste sie sich konzentrieren. Das Gleiche galt für Amanda, wobei da noch etwas hinzukam: Ava wusste, Amanda würde über Michael sprechen wollen, und Ava war nicht bereit, sich in die verzwickte Lage der ersten Familie ihres Vaters verwickeln zu lassen.

Sie schob ihren Laptop beiseite und ging ihre Notizen vom Vorabend durch. Bank Linno stand ganz oben auf ihrer Liste, gleich hinter Joey Lac. Ava kannte mehrere indonesische Banken, aber Linno gehörte nicht dazu. Das war nicht weiter ungewöhnlich, denn es gab mehr als hundert Geschäftsbanken im ganzen Land. Sie loggte sich auf der Linno-Website ein und war prompt überrascht von der spärlichen Aussagekraft. Als sie sich die zugänglichen Informationen näher ansah, wurde die Sache noch seltsamer. Die Bank hatte ihren Hauptsitz in Surabaya auf der Insel Java. Surabaya hatte über drei Millionen Einwohnerinnen und Einwohner und war eine bedeutende Stadt, aber es war nicht Jakarta. In Jakarta, der Hauptstadt, hatte die Bank keine Zweigniederlassung, ja nicht einmal eine Zweigstelle. Ihre Aktivitäten beschränkten sich auf die Provinz Ost-Java. Der Liste der Zweigniederlassungen zufolge schien sie nur in Surabaya, Batu, Maland und Madiun tätig zu sein.

Wieso hat eine kleine indonesische Bank ein Büro in Toronto?, fragte Ava sich, als sie auf den Button INTERNATIONAL auf der Website klickte. Und wieso hat eben diese Bank Büros in New York, Rom, Caracas und Porlamar?

Sie öffnete das Branchenverzeichnis von Toronto und fand nichts außer einer 800-er Telefonnummer – keine Adresse, keine Ansprechpersonen, keine Servicenummern. Ohne groß zu überlegen, wählte Ava die angegebene Nummer. Es klingelte zwei Mal, dann schaltete sich die Voicemail ein. Ava legte auf. Äußerst merkwürdig, dachte sie.

Kanada hatte fünf große lizensierte Handelsbanken und eine sehr viel längere Liste von kleineren Geldinstituten und Genossenschaftsbanken. Das komplette Bankenwesen war streng reguliert und vielleicht das sicherste der Welt. Linno konnte durchaus ohne Lizenz operieren; es konnte eine »Near Bank« sein, ein banknahes Institut, das Finanzdienstleistungen, aber keine Bankgeschäfte im engeren Sinne anbot. Ava kannte etliche, die nicht direkt mit den Kunden arbeiteten, sondern mittels Finanzberatern, aber selbst die gaben zumindest ihre Servicenummern an.

Sie öffnete die Seiten der anderen internationalen Zweigniederlassungen – die Informationen dort waren ebenso spärlich. Dann kehrte sie zur Hauptniederlassung in Surabaya zurück. Die Informationen über die Aktivitäten der Bank in Indonesien waren weit detaillierter – sie schien das ganze Spektrum an Dienstleistungen für Privat- und Firmenkunden anzubieten. Ava übertrug die Namen der Zweigniederlassungen, die Anschriften, Telefonnummern und die E-Mail-Adressen in ihr Notizbuch. Es war Mittag in Toronto, Mitternacht in Surabaya. Da es keinen Sinn hatte anzurufen, schickte Ava eine E-Mail, in der sie um den Namen einer Ansprechperson und die Adresse des Büros in Toronto bat.

Als das erledigt war, packte sie den Laptop und ihr Notizbuch in die große Chanel-Tasche, die sie als Aktentasche nutzte, und rief unten an, um sich ihren Wagen aus der Garage holen zu lassen. Sie schaute sich in ihrem Apartment um. Sie war nur zwei Tage hiergewesen, aber es kam ihr sehr viel länger vor.

Der schottische Bankier von Surabaya

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