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Kapitel 9 Sonntag, 11. Februar 1945
Die Geschichte der Maria Lamprecht

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Wieder eine Nacht wie viele andere zuvor. Selbst ohne das Geheul der Sirenen und Pfeifen fallender Bomben würde ich keinen Schlaf finden. Wie auch, wenn es in der Nachbarschaft jemanden gab, der einem nach dem Leben trachtete.

Davon war ich felsenfest überzeugt, selbst wenn mein älterer Bruder Heinz alles zu verharmlosen suchte. Seit mein jüngerer Bruder Franz gefallen war, herrschte Bitterkeit im Hause Lamprecht.

Wie immer lag mein Zimmer in völliger Dunkelheit. Licht anzumachen, ohne zu verdunkeln, war strengstens verboten. Als wüssten die Amerikaner nicht auch so, wo München lag.

Leise Schritte näherten sich dem Haus. Flori, mein Langhaardackel, hob den Kopf.

„Pst, leise“, flüsterte ich und tastete nach seinem vibrierenden Körper.

Die Schritte stoppten und entfernten sich endlich.

Ein leises Geräusch, sowie ein sanfter Druck auf der Bettdecke, verrieten mir, dass Flori den Kopf wieder abgelegt hatte.

Erleichtert sank ich zurück. Eigentlich sollte ich nicht so ängstlich sein, aber meine Gedanken waren bereits beim kommenden Tag, an dem ich einmal mehr den Proviantkorb quer durch Münchens Süden tragen musste, wobei ich unser aller Tod riskierte, sollte ich abgefangen werden. Zudem waren Luftangriffe, ausgebombte Obdachlose und die Gestapo allgegenwärtig.

Und Hermann Mischke natürlich, unser Blockwart, der nur darauf lauerte, sein nächstes Opfer verraten zu können.

Ich zog mir die Bettdecke über den Kopf, wollte lieber die stickige Wärme darunter ertragen, als der Kälte trotzen, denn Feuerholz war knapp.

Endlich quetschte sich ein goldener Sonnenstrahl durch die Lücke zwischen Wand und Vorhang und verscheuchte die Finsternis. Einen kurzen Moment noch die Geborgenheit des Betts ausgekostet, und bloß nicht mit den Zehen gewackelt, da Flori dies als Startschuss interpretieren würde.

Zu spät, der Dackel sprang vom Bett und tanzte wie ein Derwisch im Zimmer herum.

„Ich komm’ ja schon. Wirst es wohl erwarten können.“ Vermutlich hatte er mich nicht verstanden, denn nun bellte er obendrein. „Willst du wohl still sein? Heinz wird wieder schimpfen, wenn du ihn aufweckst.“

Flori war das egal. Wenn er raus wollte, war er nicht zu bremsen.

Mich um Hund, Katze, Ziegen und Hühner zu kümmern sowie das Frühstück zuzubereiten, gehörte zu meinen täglichen Aufgaben. Danach eilte ich zur Kirche; allein, denn Mutter war unterwegs, und bei Vater war ich mir nicht sicher, ob er überhaupt schon einmal eine von innen gesehen hatte. Heinz durfte ausschlafen, weil er Nachtschicht im Harlachinger Krankenhaus gehabt hatte. Als Arzt war er vom Kriegsdienst befreit, dafür musste er zusammenflicken, was die Bomben angerichtet hatten.

Ein schmuckloser Raum diente als Kirche, nachdem die ursprüngliche nur noch eine Ruine war. Lediglich eine Handvoll Gläubige hatte sich eingefunden. Von den jungen Leuten war ich die einzige, die sich hierher getraut hatte, denn in Deutschland gab es jetzt nur einen Gott, und der hieß Adolf Hitler.

Auf dem Nachhauseweg musste ich am Haus unseres Blockwarts Hermann Mischke vorbei. Er schien auf mich gewartet zu haben, und starrte mir mit unverhohlener Feindseligkeit entgegen. Seinen Schnurrbart trug er in der gleichen Art wie sein über alles geliebter Führer, und als ich ihn passierte, riss den ausgestreckten Arm zum Deutschen Gruß hoch. „Heil Hitler!“

„Heil Hitler“, erwiderte ich, ohne dabei die Hände aus den Taschen zu nehmen. Ich spürte förmlich, wie sich seine Blicke in meinen Rücken bohrten, und beschleunigte meine Schritte. Wie war es nur möglich, dass ein Mensch wie Mischke so viel Furcht verbreiten durfte?

Kaum im Hausflur, kam mir Heinz entgegen. Einen Kopf größer als ich, entsprach er mit seinem schneidigen Äußeren dem Ideal eines blonden, blauäugigen Ariers.

„Gehst du bald los?", fragte er. „Sei bloß vorsichtig, wenn du die Sachen hinbringst.“

„Das bin ich doch immer, sonst wären wir längst alle tot.“

Heinz zog die Augenbrauen hoch. Seit mehr als zwei Jahren jede Woche das gleiche Spiel. Anfangs hatten wir uns abgewechselt – Mutter, Heinz, Franz und ich – bis Vater meinte, es wäre viel unauffälliger, wenn ein Mädchen ginge. Das mochte sein, denn Männer, egal ob jung oder alt, liefen kaum noch durch München, die waren zum Sterben an die Front geschickt worden.

„Ich habe dein Buch versteckt“, sagte Heinz. „Du bist zu leichtsinnig.“

Er hatte recht. Kästners „Das Fliegende Klassenzimmer“ zu lesen war streng verboten, weil der Autor als entartet galt.

„Sieht doch keiner.“

Heinz setzte sich ans Klavier, murmelte etwas Unverständliches vor sich hin und schraubte den Stuhl höher. „Hast du gespielt? Hoffentlich ist es jetzt nicht verstimmt.“

„So ein Schmarrn. Durchs Spielen verstimmt es sich nicht. Außerdem ist es für uns beide da.“

„Seit wann das denn?“ Er ließ seine Finger knacken, ein Geräusch, das ich hasste. Man sollte glauben, dass er mit sechsundzwanzig Jahren erwachsener wäre, aber oft stritten wir uns wie kleine Kinder. Mit fliegenden Fingern intonierte er eine Sonate von Mendelssohn. „Worauf wartest du, der Korb ist fertig.“

„Was du spielst, ist auch verboten“, zischte ich. „Dein Geklimper kann man bis vors Haus hören.“

Augenblicklich stellte Heinz das Spielen ein. „Es dürfte schwierig werden, gespielte Musik als Beweismittelmittel vorzubringen – im Gegensatz zu einem Buch. In dem Moment, wenn ein Ton deine hübschen Öhrchen erreicht, ist er nämlich schon Vergangenheit. Ein Buch ist beständig, ein Ton nicht.“

Eine passende Erwiderung fiel mir nicht ein, denn oft reichte schon eine unbegründete Verleumdung, um jemanden ins KZ zu schicken, oder an die Wand stellen zu lassen. „Würdest du freundlicherweise Flori rauslassen, solange ich unterwegs bin?“

„Freilich. Allerdings lass ich ihn nicht unbeaufsichtigt, wie du. Würde mich nicht wundern, wenn Mischke ihn eines Tages abmurkst. Er hasst den kleinen Racker nämlich wie der Teufel das ….“

Heinz’ letztes Wort ging in Chopins donnernder Revolutions-Etüde unter.

„Komm, Flori. Was sein muss, muss sein.“ Auf dem einfachen Küchentisch stand wie eine Warnung der Einkaufskorb. Hier, zwischen Herdofen und selbst gezimmerten Schränken, war mein Refugium. Ein warmer Platz, an dem die Familie für ein Gebet und zu den Mahlzeiten zusammenkam. Der Korb war mit einem Laib Brot, sechs Eiern, einem kleinen Stück geschmorte Lammkeule, sowie einem Beutelchen mit Mehl gefüllt. Es war wenig, aber besser als nichts.

Vater, dessen Mund scharfe Linien umrahmten, kam herein. Zu alt für den Kriegsdienst, galt er als Lokomotivführer der Reichsbahn zudem als unabkömmlich. Nur den Franz hatte Mutter leider nicht vor dem Wehrdienst bewahren können.

„Mutter hat tüchtig was organisiert“, sagte ich. „Wo steckt sie eigentlich?“

„Wieder fort. Die Baronin hat nach ihr verlangt.“ Die Sorgenfalten in seinem Gesicht vertieften sich. „Sei besonders vorsichtig. Mischke schnüffelt wieder rum. Man sagt, er wolle seinem Sohn einen Freischein besorgen, indem er Volksverräter meldet.“

„Einen Freischein? Ich dachte, er ist so stolz darauf, Soldat zu sein.“

„Vielleicht wird’s ihm an der Front zu heiß.“ Vater zuckte mit den Schultern. „Selbst der fanatischste Nazi muss allmählich begreifen, dass der Krieg verloren ist.“

Nachdenklich legte ich ein Deckchen über den Korb, um den Inhalt vor neugierigen Blicken zu schützen

„Hast du gewusst, dass sein Ableger gerade hier ist?“ Vater sah mich fragend an.

„Bruno? Nee, keine Ahnung.“ Er war mir so wurscht wie nur irgendwas. Früher hätte mich das vielleicht interessiert, aber jetzt nicht mehr. Freiwillig und voller Eifer hatte er sich zur Waffen-SS gemeldet und damit dem langgehegten Wunsch seines Vaters entsprochen. Darüber hätte ich noch hinwegsehen können, aber dass er vor fünf Jahren den Sohn eines Nachbarn verpfiffen hatte, weil der mit einem jüdischen Mädchen ausgegangen war, blieb unverzeihlich. Der arme Junge hatte ein Schild um den Hals tragen müssen, auf dem geschrieben stand: Ich bin im Ort das größte Schwein, und lass mich nur mit Juden ein.

Es half nichts, ich musste los und ergriff den Korb. Bruno konnte mir gestohlen bleiben. Außer Franz hatte in unserer Familie sowieso nie einer zu ihm gehalten. Aber Franz war tot und Bruno am Leben.

Vater räusperte sich. „Mischke versucht, seinen Sprössling bei der Polizei unterzubringen. Dann sitzen sie uns noch näher im Nacken als zuvor.“

„Soll er doch. Die zwei sind eh viel zu deppert, um mich zu erwischen“, sagte ich forscher als ich mich fühlte.

Der furiose Klang eines Rachmaninow Präludiums riss mich aus meinen Gedanken. Jetzt fehlte nur noch Beethovens Fünfte. Aber das traute sich nicht einmal Heinz, da dies die Erkennungsmelodie der BBC London war, und Feindsenderhören bei Todesstrafe verboten war.

Im Korridor nahm ich mir den abgetragenen Wollmantel vom Garderobenständer, schlang mir den Schal um Kopf und Hals und schob die Füße in ein Paar abgetragene Stiefel, die zwar hässlich aussahen, dafür aber warmhielten.

Ob ich zu meinem zwanzigsten Geburtstag in zwei Wochen neue bekommen würde, wagte ich zu bezweifeln. Zwar waren wir nicht arm, konnten uns noch einigermaßen über Wasser halten, aber die Läden waren leer. Jeder, der nicht an der Front kämpfte und arbeitsfähig war, musste seinen Beitrag für den Endsieg leisten. Im letzten Jahr hatte ich eine Kinokarte als Geburtstagsgeschenk bekommen: Die Feuerzangenbowle, mit Heinz Rühmann. Ein toller und lustiger Film, aber in diesem Jahr waren alle Kinos geschlossen.

„Bis später!“, rief ich in den Flur, ohne eine Antwort zu erhalten. Nur Flori bellte zum Abschied.

Neuschnee bedeckte das Harlachinger Stadtviertel, in dem wir wohnten. Nur schierem Glück oder Gottes Fügung war es verdanken, dass dieser Stadtteil am Rande Münchens von Bombenabwürfen bislang verschont geblieben war.

Kalte Luft prickelte auf meinen Wangen und der Schnee knirschte unter den Stiefeln. Weit entfernt im Süden glänzten die schneebedeckten Gipfel der Alpen. So klar und deutlich wie heute waren sie nur selten zu sehen. Stolz und trotzig sahen sie aus, als könnte nichts und niemand ihnen etwas anhaben. Kein Wunder, dass die Nachrichten von einer Alpenfestung sprachen, in der sich die Parteibonzen zu verkriechen gedachten.

Ich marschierte am Häuschen unserer Nachbarn vorbei. Freundliche Leute, die keinen Trost fanden, seit beide Söhne in Russland gefallen waren.

Die Straße umrundete einen kleinen Park, aber davor bog ich in einen Fußweg ein, der zum Perlacher Forst führte. Zwar war dies ein Umweg, aber es war unauffälliger, nicht immer dieselbe Route zu gehen.

Eine dunkle und unheimlich wirkende Wand aus Nadelbäumen, die allerdings auch Schutz vor Mischkes wissbegierigen Blicken bot, empfing mich.

Ich folgte dem Weg am Waldrand entlang, als mich ein Knacken im Unterholz zusammenfahren ließ. Gott sei Dank nur eine alte Frau, die alles aufklaubte, was sich zum Heizen eignete.

Ein Stückchen weiter hatte eine Fliegerbombe eine Lichtung, in deren Mitte ein tiefer Krater gähnte, in den Wald gerissen. Die astlosen Baumstämme deuteten wie mahnende Zeigefinger gen Himmel. Nicht mehr weit und der Weg würde auf die innere Ringstraße Münchens stoßen. Von dort waren es noch einmal dreißig Minuten.

Ich näherte mich der Kreuzung, an der ich abbiegen musste. Ein groß gewachsener Mann kam aus Richtung Stadtmitte direkt auf mich zu – Bruno.

Heilige Mutter Gottes hilf. Mein Herzschlag verdoppelte sich.

Sollte ich weglaufen oder einfach weitergehen, als hätte ich ihn nicht erkannt?

In der Hoffnung, Bruno hätte mich nicht gesehen, ging ich mit einem schmerzhaften Druck in der Brust einfach weiter. Oh nein, er kam geradewegs auf mich zu. Unter dem stahlgrauen Wollmantel der Waffen-SS schauten Knobelbecher hervor und unter der Schirmmütze mit dem Totenkopfemblem die Stoppeln seines kupferfarbenen Haares. Ein süffisantes Lächeln umspielte seine Lippen. Der Zwanzigjährige zeigte das zackige Gehabe aller Uniformträger, die meinten, dass jeder Zivilist vor ihnen strammstehen müsste.

Breitbeinig stellte er sich mitten auf die Kreuzung und musterte mich von Kopf bis Fuß. An meinen Augen blieb sein Blick hängen.

„Heil Hitler, Maria. Wohin des Wegs so eilig?“

„Grüaß di. Ich dachte, du kämpfst an der Front?“

„Heimaturlaub. Deswegen.“ Er deutete auf das schwarz-weiß-rote Band des Eisernen Kreuzes, das er im zweiten Knopfloch seines Mantels trug.

Mir war klar, dass ich Bewunderung zeigen musste. Brunos Vater prahlte bei jeder Gelegenheit mit der Tapferkeit seines Sohns. Was war nur aus dem einst so ruhigen, fast schüchternen Jungen durch die Erziehung des Vaters und die Einflüsse der Nationalsozialisten geworden? Schon kurz nach seinem Eintritt in die Hitlerjugend hatte bei ihm eine Verwandlung vom Kind hin zum Hitlerfanatiker stattgefunden.

„Gut gemacht, Bruno.“

„Willst du nicht wissen, wofür?“

„Natürlich, aber … Ich hab leider nicht viel Zeit.“

„Verstehe.“ Er blickte mich finster an. „Du hast mir nicht verraten, was du hier suchst.“

Zwar verabscheute ich Lügen, aber mitunter kam man ohne sie nicht aus. Selbst die Nonnen der Klosterschule, die ich besucht hatte, hatten zugeben müssen, dass eine Notlüge unter gewissen Umständen zulässig sein konnte.

„Ich geh zum Klavierunterricht.“

„Da schau her. Seit wann das denn? Ich dachte, den kriegt nur Heinz?“

„Woher willst du wissen, dass ich bisher keinen hatte? Also, ich muss jetzt wirklich … Wenn du nichts dagegen hast.“ Ich versuchte, mich an ihm vorbeizuschieben, aber er blockierte den Weg. Oh Gott, sein Blick fiel auf den Korb.

„Was ist da drin?“, fragte er scharf.

„Das geht dich nichts an.“

„Oha, Fräulein Lamprecht ist heute schlecht aufgelegt? Darf ich?“ Seine Hand schoss vor und entwand mir den Korb.

„Gib ihn her!“

Breit grinsend schlug er die Abdeckung zurück und schob seine Nase über die Korböffnung, wobei er vernehmlich schnüffelte. „Hm, Fressalien. Offensichtlich habt ihr einiges übrig.“ Er zog den Laib Brot heraus. „Das passt prima, ich bin nämlich gerade ziemlich hungrig. Macht dir nichts aus, oder?“

Jetzt ging es ums Ganze. „Du kannst davon nichts haben. Ich bezahl damit den Klavierlehrer. Er hat an der Ostfront einen Heimatschuss abgekriegt und ist ein guter Nationalsozialist.“

„Wirklich?“

„Sei vorsichtig, da sind Eier drin.“

Er legte das Brot zurück. „Habt ihr überhaupt noch Hühner?“

„Nur die, die uns die diebischen Nachbarn gelassen haben.“

„Bist du inzwischen im BdM?“

Immer die alte Leier. Meine Eltern hatten alles darangesetzt, mir das zu ersparen. „Nein.“

„Hat deine Familie denn keine Angst?“

Doch, antwortete ich im Stillen, sehr sogar. „Warum stellst du mir all diese Fragen?“

„Du warst doch in dieser katholischen Klosterschule; Maria-Ward-Mädchenrealschule, wenn mich richtig erinnere.“

„Ich arbeite jetzt im Finanzamt.“

Er musste mit der Fragerei aufhören, bevor ich mich verplapperte. Volksverräter müssen aufgespürt und vernichtet werden, hatte unser Reichpropagandaminister Goebbels gebrüllt. Ich war einer von denen, weil Volksverräter nicht nur Drückeberger waren, den Endsieg für unmöglich hielten oder den Führer hassten, sondern auch untergetauchte Juden, Kriegsgefangene oder Deserteure durchfütterten. Ich rang mir ein Lächeln ab. „Erzähl mir, wofür du es bekommen hast.“

„Ich habe einen verwundeten Kameraden aus der Kampfzone geschleppt und dann allein unsere Stellung eine ganze Weile gehalten.“ Seiner Stimme war ein leichtes Vibrieren zu entnehmen. Er schloss die Augen, als wollte er die Bilder des Kampfes ausblenden.

„Ganz schön tapfer von dir.“

Er öffnete sie wieder. „Ach übrigens, wie geht’s eigentlich deiner Freundin?“

„Welche meinst du?“

„Na, die aufgedonnerte. Wie war gleich ihr Name?“

Es war klar, wen er damit meinte. „Luise geht es gut. Warum fragst du?“

Ein leichtes Rot überzog seine Wangen. „Nur so.“

War es möglich, dass er Gefühle für Luise entwickelt haben könnte? Ich musste mich irren, denn erstens empfanden die Mischkes, außer für den Führer und die Schleimer um ihn herum, für niemand etwas, und zweitens kannten sich Bruno und Luise kaum. Oder hatte sie mir etwas verschwiegen?

„Geh mir aus dem Weg und gib endlich den Korb her. Wenn du willst, kann ich Grüße von dir ausrichten. Ich muss jetzt wirklich los, Bruno.“

Seine Kiefer mahlten, als kaute er an einer Erwiderung. „Also gut, Fräulein Lamprecht. Ich muss in den nächsten Tagen zurück an die Front. Pass gut auf dich auf, und viel Spaß beim Klavierunterricht.“

Er reichte mir den Korb, trat beiseite und riss den ausgestreckten Arm hoch. „Heil Hitler!“ Ob er eine Erwiderung erwartete, war schwer zu sagen, denn ohne sich noch einmal umzusehen, stiefelte er mit hängenden Schultern davon.

Was für eine merkwürdige Begegnung. Bruno war nicht auf den Kopf gefallen, und würde sich seinen Teil denken. Aber warum hatte er sich nach Luise erkundigt?

Egal, ich musste weiter.

Als ich mich der Isar und somit auch dem Tierpark Hellabrunn näherte, trug der Wind die unterschiedlichsten Tierstimmen zu mir her. Wie schaffte es der Zoo nur, seine Bewohner in Zeiten wie diesen über die Runden zu bringen. Standen Giraffen und Löwen auch Lebensmittelmarken zu? Jemand mit einem großen Herzen musste höheren Orts ein gutes Wort für den Tierpark eingelegt haben.

Nach dem Überqueren der Isar bog ich in die Thalkirchener Straße ein, in deren Mitte die Straßenbahnschienen der Tierparklinie allmählich Rost ansetzten. Überall lagen noch die Trümmer des letzten Bombenangriffs verstreut und auch die Trichter waren nur notdürftig aufgefüllt worden.

Endlich erreichte ich Sendling. In diesem Viertel standen mehr Ruinen als Häuser. Schuttberge türmten sich am Straßenrand auf und ließen den Passanten nur wenig Platz.

Drei bewaffnete Hilfspolizisten standen untätig an einer Hausecke und beaufsichtigten einen Trupp sogenannter Untermenschen aus dem Osten, die mit bloßen Händen den Schutt beiseite räumen mussten. Mit eingefallenen Gesichtern und stumpfen Augen schufteten sie, und füllten so die vom Krieg gerissen Lücken in der Arbeiterschaft. Unter einem Ausruf des Ekels warf einer von ihnen einen verkohlten Arm zur Seite.

Mir wurde schlecht. Nur schnell weiter. In dem Moment drehte sich einer der Aufseher zu mir herum.

„Na, wohin so eilig, schön’s Fräulein?“, fragte er.

Gottlob hatte ich die alt bewährte Ausrede parat. „Zu meiner Großmutter. Sie wohnt hier gleich um die Ecke.“

Der Mann neigte den Kopf und zeigte mit seinem Kinn auf den Korb. „Für Oma, he? Pass bloß auf, dass dich der große, böse Wolf net frisst.“

Ich rollte mit den Augen und zwang mich zu einem Lächeln. „Keine Sorge, Herr Hauptwachtmeister, ich hab doch keinen roten Kapuzenumhang an. Oma ist schon etwas tatterig und vergisst immer ihre Lebensmittelmarken. Ich helf ihr dann.“

„Bist a gut’s Mädel.“ Er schenkte ihr ein schiefes Lächeln und wendete seine Aufmerksamkeit wieder den Kameraden zu.

Nichts wie weg, bevor dürre Hände nach dem Korbinhalt grapschten. Vorsichtshalber wechselte ich den Korb in die andere Hand. Nahezu eine Stunde lang schleppte ich ihn jetzt schon und meine Arme wurden allmählich müde. Gott sei Dank kam hinter einer Häuserzeile endlich der Wasserturm in Sicht, der das Ende des Botengangs markierte. Er sicherte die Wasserversorgung des zerbombten Bezirks und stand wie eine Säule der Hoffnung in einem Meer der Verwüstung.

Endlich kam die Johann-Clanze-Straße, in der ich meine ersten fünf Lebensjahre verbracht hatte, in Sicht. Meine Familie hatte dort in einer Mietwohnung gelebt, bevor wir nach Harlaching umgezogen waren, während Onkel und Tante weiterhin dort ausgeharrt hatten. Diese Kindheitserinnerungen lagen lange zurück, und das lustige, unbeschwerte Kichern dieser Zeit war längst verklungen.

Plötzlich überkam mich das Gefühl, beobachtet zu werden.

Nur noch wenige Meter und ich hatte mein Ziel, das dreistöckiges Mietshaus, erreicht. Es hatte das Flair der Häuser, die im vorigen Jahrhundert gebaut worden waren: hohe Zimmer, runde Fensterbögen, Stuck-Ornamente – kurzum Biedermeier-Baustil.

Vor dem Hauseingang hatte eine Bombe einen Krater ins Pflaster gerissen und auf der grauschwarzen Hauswand zeigten helle Stellen, wo die Splitter eingeschlagen hatten. Die meisten Fenster waren mit Pappkarton verschlossen.

Quer über dem Klingelbrett war ein Zettel befestigt, und obwohl die Tinte darauf verwaschen war, konnte ich ‚kaputt‘ entziffern.

Kein Problem, denn ich hatte einen Schlüssel. Ein Griff in die Tasche – leer. Auch in den anderen – nichts. Vielleicht im Korb? Vorsichtig schob ich den Inhalt hin und her – kein Schlüssel.

Was jetzt?

Marias Geheimnis

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