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Kapitel 11 Sonntag, 11. Februar 1945
Maria

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Die Haustür war verschlossen. Wäre ja auch zu schön gewesen, um wahr zu sein.

Was konnte ich tun? Umkehren und morgen wiederkommen? Morgen hatte ich Dienst. Nein, der Korb musste heute abgeliefert werden.

Ich schaute zu den Fenstern hoch, und begann, sie abzuzählen. Welche waren die meiner Tante, bei der das jüdische Ehepaar Unterschlupf gefunden hatte? Bevor die Schikanen gegen die Juden eskaliert waren, hatten die Rothschilds ein Stockwerk unter ihr gewohnt. Ohne dass die anderen Nachbarn etwas bemerkt hatten, waren sie eines Tages eine Etage höher zu der mit ihnen befreundeten Tante gezogen, und so aus dem öffentlichen Leben verschwunden.

Vielleicht könnte ich mich irgendwie bemerkbar machen. Ich stellte den Korb auf dem Boden ab und trat einige Schritte zurück, wobei meine Stiefel auf dem vereisten Schotter ein knirschendes Geräusch erzeugten.

Genau. Das war die Lösung. Ich bückte mich, kratzte mit den Fingern an der gefrorenen Oberfläche und konnte so einige Steinchen lockern. Mit pochendem Herzen warf ich eine Handvoll gegen das Fenster im zweiten Stock, traf aber eines im ersten.

Heilige Muttergottes, hoffentlich ist bei denen keiner zu Hause. Zum Glück blieb alles ruhig.

Sollte ich es noch einmal riskieren? Das nächste Mal würde ich höher zielen müssen. Schon wollte ich erneut werfen, als mir der Hintereingang im Innenhof einfiel. Er führte durch die Waschküche und war eventuell unverschlossen.

Als ich an der Klinke zog, schwang die Tür quietschend auf. Der Geruch von Waschsoda hing in der Luft. Wie gewöhnlich, lag auch heute das Haus totenstill, als hielte es den Atem an, weil das Mädchen mit dem Brotkorb eingetroffen war.

So leise wie möglich schlich ich in den zweiten Stock, wusste genau, welche Treppen knarzten. An die Wohnungstür klopfte ich das vereinbarte Zeichen. Gleich darauf öffnete sie sich einen Spalt, und ich hauchte: „Ich bin’s. Maria.“

Die Tür schloss sich wieder, die Vorhängekette klirrte und endlich stand Tante Traudl vor mir.

Seit ihr Ehemann in Russland vermisst wurde, trug sie Trauerkleidung, was sie noch ausgemergelter erscheinen ließ. Irgendwann würde nur ein schwarzer Strich von ihr übrigbleiben. Hinter mir zog sie die Tür sofort zu und begrüßte mich dann.

„Leider ist es schlimmer geworden“, sagte sie. „Wir müssen den Gürtel noch enger schnallen, weil wir einen Mund mehr zu stopfen haben.“

Ich erschrak, denn es hatte bis jetzt sowieso kaum gereicht.

„Du wirst gleich sehen. Was hast du dieses Mal dabei?“ Tante Traudl nahm mir den Korb aus der Hand und schnüffelte hinein. „Hm, riecht gut.”

Neugierig geworden, folgte ich ihr durch die geräumige Wohnung, die sogar ein eigenes Badezimmer besaß, was nicht die Regel war.

Die Luft roch muffig, mit einem Anflug von Kernseife, Essig und Mottenkugeln darin. Am Ende des Flurs klopfte die Tante drei Mal gegen eine Tür, hinter der sich früher ein großes Schlafzimmer befunden hatte, mittlerweile aber zu einer Einzimmerwohnung umfunktioniert worden war.

Der riesige Walnussschrank, das beigefarbene Sofa mit dem nicht dazu passenden Sessel, das Bett an der Wand sowie der Tisch mit zwei Stühlen, wirkten in dem großen Raum irgendwie verloren. Irgendwo tickte eine Uhr. Das Besondere aber war die Unmenge Bilder, die an den Wänden hingen. Ich liebte es, sie anzuschauen und mir von Herrn Rothschild die Geschichte von jedem einzelnen erzählen zu lassen. Doch heute kam es nicht dazu, denn anstatt der üblichen zwei, blickten mir drei Gesichter entgegen.

Herr und Frau Rothschild saßen in abgetragener Kleidung wie verloren auf dem Sofa, während auf dem Sessel ein junger Mann die Beine übergeschlagen hatte. Sein haselnussbraunes Haar stand in einem eigenartigen Kontrast zu seinen grauen Augen, und auch die braune Hose und die blaue Jacke wollten nicht so recht zu seinem dürren Gestell passen. Mit wachem Blick musterte er mich von Kopf bis Fuß.

„Maria, mein Sonnenschein“, sagte Frau Rothschild. „Komm, setz dich zu uns.“

Ich ließ mich auf einem der Stühle nieder, dem jungen Burschen genau gegenüber.

„Maria hat uns wieder ein paar Nahrungsmittel mitgebracht“, sagte Tante Traudl und ging hinaus.

„Kommt die Front näher?“, flüsterte Herr Rothschild. „Wann sind die Amerikaner endlich hier?“

Mit banger Stimme stellte er jedes Mal dieselben Fragen, und jedes Mal musste ich ihm dieselbe Antwort geben.

„Keine Ahnung“, antwortete ich leise. „Der Krieg geht weiter, die Propaganda schwärmt vom Endsieg und die Feindsender berichten, dass die Schlinge immer enger zugezogen wird. Luise, meine beste Freundin, hört die BBC-London, und zwar nicht nur den deutschsprachigen Dienst, sondern auch das englische Programm.“

„Tatsächlich? Die traut sich was. Steht darauf nicht die Todesstrafe?“

„Sie macht das ganz offiziell, weil sie die Texte für den Gauleiter Giesler übersetzen muss, und sie sagt, dass die Amerikaner davon ausgehen, nicht vor April hier zu sein.“

„Im April erst?“ Frau Rothschilds Stimme wurde noch schwächer, während ihre Finger den Konturen des Tisches folgten. „So lange noch? Ich wünschte … Nein, ich sollte lieber dankbar sein.“

„Das sollten wir alle. April klingt besser als Oktober. Je früher diese ständige Todesangst aufhört desto besser. “

Frau Rothschild sagte darauf nichts, hielt die Augen geschlossen. Die beiden taten mir unendlich leid. Ich sah zu dem jungen Mann, der meinen Blick fest erwiderte. Er kam mir irgendwie bekannt vor, ohne sagen zu können, wann und wo ich ihm schon einmal begegnet war.

„Wie du siehst, haben wir Besuch“, sagte Frau Rothschild. „Unser Großneffe Martin.“

„Euer Großneffe? Oh!“ Jetzt wurde mir klar, wieso er mir bekannt vorkam. Er hatte sich öfters mit meinen beiden älteren Brüdern gebalgt, und diese meistens ordentlich vermöbelt. Seit mehr als zehn Jahren hatte ich ihn nicht mehr gesehen. „Ich denke, ihr seid nach Amerika ausgewandert?“

„Sind wir auch – drei Jahre nach der Machtübernahme der Nazis“, antwortete er in einwandfreiem Münchnerisch. „Damals war das noch möglich. Verwandte haben uns geholt.“

„Aber warum bist du jetzt hier?“

„Abgeschossen. Ich hatte großes Glück, konnte aussteigen.“

„Und deine Uniform?“

„Die bin ich schnell losgeworden. Hab mich in Scheunen und Ruinen versteckt. Ein Pfarrer hat mir dann bis hierher geholfen.“

Konnte das stimmen? Sich im Deutschen Reich ohne entsprechende Papiere und Ausweise zu bewegen, war nahezu unmöglich. Und doch hatten es manche geschafft, wie Vater erzählt hatte. „Was machen wir jetzt? Wir kriegen nicht genug zusammen, um euch alle durchzufüttern.“

„Ich brauche nicht viel. Außerdem ist der Krieg sowieso bald vorbei.“

„Schön wär’s.“

„Es wird Zeit, mein Kind“, sagte Frau Rothschild. „Du wirst im Dunkeln Daheim ankommen.“

Ich schaute zu Martin. „Du bist ein richtiger Mann geworden. Ich habe dich noch als Lausebengel in Erinnerung.“

Er grinste breit. „Und ich dich als kleine, freche Göre.“

„Das habe ich überhört.“ Ich erhob mich. „Bis nächste Woche. Wir versuchen, mehr aufzutreiben.“

In der Küche bereitete Tante Traudl das Abendessen zu – vier winzige Portionen, die nicht einmal für Flori gereicht hätten. Was würde Mutter dazu sagen, dass ein zusätzlicher Esser zu versorgen war?

Zum Abschied umarmte ich die Tante, griff nach dem Korb und huschte zur Wohnungstür.

„Soll ich mitkommen?“, hörte ich Martins Stimme plötzlich hinter mir sagen. Er stand in der Tür seines Gefängnisses, denn etwas anderes war es nicht. „Es wäre sicherer, wenn du in Begleitung bist.“

„Bist narrisch?“

„Hier gibt’s keine Juden mehr, und außerdem trage ich keinen Stern. Was glaubst du, wie ich hierhergekommen bin?“

„Hast du falsche Papiere?“

Er zuckte mit den Schultern. „Woher soll ich die haben?“

„Ein junger Mann wie du ist entweder an der Front, verwundet in einem Hospital oder auf Fronturlaub hier. Und selbst dann muss jeder Uniform tragen und Papiere vorweisen können. Du kannst keines von beiden, Martin.“

„Als ich vor zwei Tagen hier ankam, hab ich mir erst mal die Umgebung angeschaut.“

„Was? Du warst draußen? Ganz schön leichtsinnig. Bedenke, dass es nicht nur um dein Leben geht.“

Martins Lippen wurden weiß. „Jedenfalls bin ich jetzt hier.“

„Bringe uns nicht in Gefahr, Martin. Hier haben sogar die Wände Augen und Ohren. Mit deiner Arglosigkeit riskierst du nicht nur dein Leben, sondern auch das derer, die dich und deine Familie unterstützen.“

Er blinzelte, schaute zur Decke hoch und dann zu mir. „Okay, hab’s kapiert.“

„Hoffentlich. Und sag um Gottes Willen nicht okay. Noch sind deine Landsleute nicht hier.“

„In Ordnung. Aber nur, wenn du mir versprichst, vorsichtig zu sein“, sagte er sanft. „Kommst du nächste Woche wieder?“

„So Gott will, und wir wegen dir nicht aufgeflogen sind. Pfiadi, Martin.“

Sein schönes Gesicht noch immer vor Augen und seine sanfte Stimme in den Ohren, trat ich hinaus in die Kälte.

„Komm, wir haben denselben Weg“, sagte Bruno Mischke streng.

Der Korb fiel mir aus der Hand, und schlug dumpf auf dem Schneeboden auf. Totenstille, nur mein Herz pochte laut.

Eine eisige Bö zwickte meine Wangen, aber mehr noch spürte ich eine aufsteigende Angst in mir. Ich trat einen Schritt zurück, um den Abstand zwischen mir und Bruno zu vergrößern. „Was machst du denn hier?“

Bruno zeigte mir immer noch seine Zähne. Das Grinsen konnte die Bedrohung, die von seiner imposanten Statur ausging, nicht wettmachen. Im Gegenteil, es glich dem eines Gorillas, der seine Beute in Stücke reißen wollte. „Auf dich warten, was sonst.“

„Ich hab dich nicht darum gebeten.“

Die Zähne verschwanden hinter schmalen Lippen. Wäre nicht eine gewisse Enttäuschung in seinen Augen gelegen, hätte ich geglaubt, dem Leibhaftigen persönlich gegenüberzustehen.

„Ich brauch von dir keine Erlaubnis“, sagte er.

Mit zitternder Hand wollte ich den Korb aufheben, aber Bruno war schneller. „Darf ich?“

„Nein, du darfst nicht.“

„Ganz leicht. Wo ist das Essen hin?“ Er packte mich grob am Ellenbogen. „Komm mit. Ich muss mit dir reden.“

Am liebsten hätte ich laut um Hilfe geschrien, unterließ es aber, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Ich schlug ihm auf den Arm und riss mich los.

Erneut wollte er nach mir greifen, aber dieses Mal war ich schneller, und rannte los.

Hinter mir trommelten seine Schritte, scheuchten mich unbarmherzig vorwärts. Schneller. Verzweifelt hielt ich nach einer Tür, einer Nische, einem Schlupfloch Ausschau. Ein Blick über die Schulter verriet mir, dass der Abstand zu ihm gleichblieb. Wie ein Jäger hetzte er seine verwundete Beute, wohl wissend, dass sie früher oder später ermüden würde. Unmöglich, ihn abzuschütteln.

Warum eigentlich? Er wusste doch, wo ich wohnte. Ich verlangsamte mein Tempo, und blieb schließlich stehen.

Den Korb in der einen Hand, hielt er mich mit der anderen am Arm fest. „Bist am Ende doch noch vernünftig geworden“, sagte er.

„Ich verabscheue dich.“

„Nur zu. Warum bist du abgehauen?“

„Weil … Du hast mich erschreckt.“

„Sieht aus, als hättest du was zu verbergen.“

„Vater hat mir eingetrichtert, mich von Männern fernzuhalten.“

„So ein Schmarrn. Ich bin kein Fremder. Hör zu, Fräulein Lamprecht. Was würdest du machen, wenn ich die Gestapo verständige?“

„Nichts. Na los, tu’s doch. Ich werde aussagen, dass du mir nachgestellt hast. Ein Frauenbelästiger bist du, genau.“

Zugegeben, ein schwacher Versuch, denn er war bei der Waffen-SS und ich ein verdächtiges Subjekt. Seinem Gesichtsausdruck war nicht zu entnehmen, ob meine Drohung ihn beeindruckte. Wenn er die Gestapo informierte, war alles verloren.

Bruno zerrte mich in die Ringstraße, also Richtung Heimat.

„Lass mich endlich los, ich kann allein laufen“, forderte ich, aber er ging unbeirrt weiter. An der nächsten Kreuzung drehte er mir unvermittelt seinen Kopf zu.

„Was hattest du dort zu suchen?“

„Ich habe einen Freund besucht.“

„Den Klavierlehrer?“

„Genau den.“

Bruno lachte laut auf, wurde aber von einer Sekunde auf die andere todernst. „In dem Haus wohnt kein Klavierlehrer.“

„Woher willst du das wissen? Kennst du die Adressen sämtlicher Klavierlehrer Münchens?“

Sein Kopfwiegen verriet ihn. Er hatte keine Ahnung, wen ich aufgesucht hatte, hatte nur ins Blaue geraten. Es könnte sonst wer gewesen sein: ein Deserteur, ein Volksverräter, ein abgeschossener Pilot. Jedoch keine Juden, denn die waren von ihren arischen Nachbarn gemeldet und dann abtransportiert worden; wohin, wussten nur die Wenigsten.

Ich entschloss mich, diesen kleinen Vorteil auszuspielen. „Selbst, wenn du alle kennen würdest … Eine einzige Bombe und schon stimmt die Adresse nicht mehr, weil sie umgezogen sind.“

Sein Griff wurde lockerer, er ging langsamer.

Nicht weit entfernt bemerkte sie die drei Hilfspolizisten mit ihrem Fremdarbeitertrupp von vorhin. Sie standen noch an derselben Hausecke, sahen gelangweilt, frierend und hungrig aus.

Bruno zog mich näher zu sich heran. „Halt jetzt besser deinen Mund.“

„Warum?“, zischte ich. „Wovor hast du Angst?“

„Muss nicht jeder wissen, was du treibst.“

Das war interessant. Es wäre ein Leichtes für ihn, mich den Hilfspolizisten auszuliefern, aber nichts dergleichen geschah. Warum nur?

Derjenige, der mich zuvor schon angesprochen hatte, schaute auf Brunos Hand an meinem Arm und streckte sich. „Wohin geht’s?“, fragte er.

„Sturmführer Mischke auf dem Weg nach Hause. Bin auf Fronturlaub hier. Wollen Sie meine Papiere sehen?“ Bruno griff in seine Brusttasche.

„Net nötig. Des ist doch des Mädel von vorhin. Stimmt mit der was net?“

„Alles in Ordnung, Herr Wachtmeister. Meine Freundin. Wir hatten nur eine kleine Meinungsverschiedenheit.“

Der Blick des Ordnungshüters blieb an Brunos EK-Band haften. Dessen Uniform strahlte vermutlich genug Autorität aus, um ihn nicht tiefer nachbohren zu lassen.

„Na dann. Heil Hitler!“

Endlich ließ Bruno mich los. Schweigend gingen wir weiter, während der Spätnachmittag sein Grau über Münchens Ruinen legte. Schmelzwasser sickerte in die Stiefel und Kälte kroch in meine Zehen.

„Das war aber eine kurze Klavierstunde“, sagte Bruno plötzlich.

„Er war nicht da. Ich habe die Sachen bei seiner Vermieterin hinterlegt. Hoffentlich lässt sie ihm was übrig. Heutzutage hat doch jeder Hunger.“

„Schlaues Kind.“

„… das weiß, wie es allein und wohlbehalten nach Hause kommt.“

Ich wich einem Trümmerhaufen aus, aber er balancierte wie ein verspieltes Kind darüber hinweg. Erinnerungen an längst vergangene Zeiten wurden wach: Ich sitze am Rand einer Wiese und schaue Franz und Bruno neidisch beim Balgen zu. Als Brunos Füße ebenen Boden berührten, verpuffte dieser fröhliche Eindruck sogleich. Bruno war wieder der SS-Mann, mit meinem Korb in der Hand. Seine Augen verengten sich, die Gesichtszüge wurden hart.

„Also dann. Schön, dass du mich begleitet hast“, sagte ich.

Bruno schaute mich verwundert an. „Ehrlich?“

„Aber ja. Ich bin wirklich froh, dich getroffen zu haben. Wenn du mich nicht so erschreckt hättest, wäre ich auch nicht davongelaufen. Erzähl mir, wie es ist, für Führer, Volk und Vaterland zu kämpfen.“

„Da gibt’s nicht viel zu erzählen.“ Die Verbitterung in seinem Tonfall veranlasste mich, ihm direkt in die Augen zu sehen, aber er wich meinem Blick aus. „Viel Schießerei. Man könnte glatt taub davon werden.“

„Hast du schon einige Feinde getötet?“

Sein Gesicht verdüsterte sich. „Ich habe getötet, um unser Vaterland zu verteidigen“, erwiderte er mit überschnappender Stimme. „Ich verteidige meine Familie und alle anderen Deutschen. Wer uns bedroht, wird vernichtet.“

Das hörte sich wie Goebbels Einpeitschparolen an. Heldenhafte Männer kämpften fürs Vaterland bis zur letzten Patrone, bis zum letzten Mann, bis zum letzten Atemzug. Alte Männer und halbe Knaben starben einen sinnlosen Tod. Nutzlose Worte eines Wahnsinnigen sollten einen hoffnungslosen Krieg am Leben erhalten, nur um die eigene Haut zu retten. War es nicht erst wenige Jahre her, dass die Wehrmacht Polen überfallen hatte – ohne Not? Wer hatte diesen Krieg begonnen? Der Feind jedenfalls nicht.

Ich biss mir auf die Lippe, unsicher, was ich dazu sagen sollte. Hinter Brunos finsterer Miene verbarg sich ein Geheimnis, das ich ergründen wollte. Meine Gedanken schweiften zu Franz und dessen Tod ab. In den Rücken geschossen, hatte es in der Todesmeldung geheißen.

„Würdest du einem deutschen Soldaten in den Rücken schießen?“, fragte ich.

Bruno zuckte zusammen, die Augen vor Schreck geweitet. Für einen Augenblick wirkte er verletzlich und von Schuld geplagt. Sollte er einen Landser erschossen haben? Und wenn ja, aus Versehen oder mit Absicht?

„Wenn ich müsste …“, sagte er mit gesenkter Stimme.

„Welcher Grund würde so etwas rechtfertigen?“

Seine Gesichtszüge verspannten sich, schlossen die Verwundbarkeit ein, und die Maske des SS-Soldaten brach durch. „Das kommt drauf an. Warum fragst du?“

„Franz. Sie haben geschrieben, er wurde in den Rücken geschossen.“

„Das stimmt. Er soll getürmt sein. Aus Feigheit vor dem Feind. Deswegen war der Ausschuss vorn.“

„Das glaube ich nicht. Nicht der Franz. Er wurde von den eigenen Kameraden getötet.“

„Deine Mutter müsste Genaueres wissen. Normalerweise enthält die Todesnachricht einen Hinweis über die Umstände.“

So ein Schreiben hatte ich nie gesehen. „Wir erhielten nur eine Kurznachricht, dass er gefallen sei. Das andere erfuhren wir von einem seiner Kameraden.“

Bruno lachte unterdrückt. „Deine Eltern haben die Nachricht unterschlagen und dich angelogen. Franz war entweder ein Feigling oder ein elender Verräter.“

„Ein Verräter wird von vorne erschossen, nicht wahr? Franz war ein feiner Kerl, Bruno. Und das weißt du auch. Vielleicht haben sie versäumt, uns die näheren Umstände mitzuteilen, oder es gab einen anderen Grund, einen bösen.“

Zu ihrer Verwunderung lief er rot an, seine Augenlider begannen zu flattern. „Ich weiß nichts darüber.“

Das hatte ich auch nicht angenommen.

Misstrauen keimte in mir auf. Könnte es sein, dass er etwas mit seinem Tod zu tun hatte? „Franz war kein Feigling. Warum lügst du?“

„Wie kommst du darauf? Lassen wir die Toten ruhen und wenden uns lieber den Lebenden zu. Ich habe dich erwischt. Wen versteckt ihr? Mein Vater beobachtet schon jahrelang, wie ihr einmal pro Woche mit dem Korb loszieht.“

Mir blieb vor Schreck das Herz stehen. Verzweiflung ließ mich keinen klaren Gedanken fassen. Er wusste Bescheid, hatte mit mir nur Katz und Maus gespielt.

Wie eine Straßensperre stellte er sich mir in den Weg. „Ich will es dir leichtmachen. Wie wäre es mit einem Handel. Ich bin allein und du bist sehr hübsch. Vielleicht könntest du in Zukunft etwas freundlicher zu mir sein. Andere Mädchen stellen sich nicht so zimperlich an wie du.“

„Was soll das heißen?“

„Du willst doch nicht als alte Jungfer sterben, oder?“

„Keine Angst, das werde ich bestimmt nicht.“

„Freilich, weil die Amis dich vergewaltigen werden, sollten sie jemals bis hierher vordringen. Aber das werden wir zu verhindern wissen.“

„Was willst du damit andeuten?“

„Wie gesagt, einen Handel. Ich werde dich nicht verraten, wenn du morgen Abend zu mir in den Schuppen kommst. Der, in dem wir als Kinder immer gespielt haben. Er steht jetzt leer. Um zehn Uhr. Wenn du nicht kommst, erzähl ich Vater alles.“

„Du hörst dich an wie ein kleines Kind, das petzen will.“

„Ich werde dir zeigen, dass ich ein ganzer Kerl bin. Wie lautet deine Antwort?“

Meine Gedanken rasten. Würde er seine Drohung wahrmachen, wenn ich mich weigerte? Das würde unser aller Tod bedeuten.

„Ich habe dir nichts getan. Warum erpresst du mich?“

„Weil ich wissen will, wie weit du gehen würdest, um dein Geheimnis zu wahren.“

„Vergiss es. Es gibt keines.“

„Wir werden sehen.“ Er bog ab, und verschwand hinter einer Hausecke.

Was war mir mein Geheimnis wert? Einen Mord vielleicht?

Mein Zuhause empfing mich mit absoluter Stille, nicht einmal eine Uhr tickte. Heinz musste wahrscheinlich Überstunden machen und bei Vater hatte ich längst den Überblick über seine ständig wechselnden Schichtdienste verloren.

Nur meine zwei Haustiere begrüßten mich, spendeten Trost und Wärme. Mimi, unser Kätzchen, rieb die Nase an meiner Wange, und Flori leckte kurz darüber.

Aus der Küche roch es verlockend nach Linsensuppe, über die ich sofort herfiel. Den Rest des Abends verbrachte ich damit, über Martin und Bruno nachzugrübeln, abwechselnd Flori und Mimi zu streicheln und die Stunden bis zum Ablauf des Ultimatums zu zählen.

Je länger ich darüber nachdachte, umso mehr war ich davon überzeugt, dass Bruno geraten hatte. Diese Erkenntnis bedrückte mich, ganz zu schweigen von der Dreistigkeit seiner Forderung und dem Selbstvorwurf, überhaupt in diese Situation geraten zu sein. Guter Rat war jetzt teuer.

Ich schlich die Treppen nach oben in mein Zimmer, in dem mir Heinz Rühmann vom Filmplakat der Feuerzangenbowle entgegen lachte – handsigniert, als enger Freund der Familie. Daneben hing ein Schaukastenbild von Rudolf Scholz, unterschrieben mit ‚Dein Freund Rudi‘. Seit ich vor zwei Jahren mit dem Schauspielunterricht angefangen hatte, war Rudi mein erklärter Schwarm. Einfach umwerfend, wie er lächeln konnte.

„Du kannst mir auch nicht helfen“, stellte ich ernüchtert fest, ohne eine Antwort zu erwarten. „Ach Rudi, wenn du wüsstest.“

Gott sei Dank wusste er nichts, denn ich hätte mich zu Tode geschämt, hätte er von meinen geheimsten Wünschen eine Ahnung gehabt.

Weil das Zimmer unbeheizt war, schob ich eine mit heißem Wasser gefüllte Zink-Wärmeflasche unter die Bettdecke und forderte Flori auf, sich an meinen Füßen einzurollen. Trotzdem fand ich keinen Schlaf, wälzte mich von einer Seite auf die andere und ließ die Ereignisse des vergangenen Tages wieder und wieder Revue passieren, wobei Martins Gesicht stets aufs Neue vor meinem geistigen Auge auftauchte. Was hatte er nur in meinen Gedanken zu suchen?

Später schlug unten eine Tür zu und schwere Schritte stapften durchs Haus; vermutlich Vater. Ich lief die Treppe hinunter, erwischte ihn gerade noch, bevor er im elterlichen Schlafzimmer verschwinden konnte.

„Vater, warte.“

„Was ist? Ich bin müde.“

„Unser Franz. Was weißt du über seine Todesumstände?“

„Nicht mehr als du.“

„Haben wir keinen ausführlichen Bericht bekommen?“

Vaters Augen wurden schmal. „Wieso fragst du?“

„Ihr habt mir erzählt, er wäre von hinten erschossen worden.“

„Das stimmt auch.“

„Wegen Feigheit vor dem Feind?“

„Unsinn. Wer sagt das?“

„Wenn es keine feindliche Kugel war, muss einer seiner Kameraden geschossen haben.“

„Nicht unbedingt. Denk doch mal nach, Fräulein. Ein Soldat steht nicht immer frontal zur Front.“

Das machte Sinn. Ich sollte mich damit zufriedengeben, obwohl mich die Antwort nicht ganz befriedigte. Vater gähnte und wischte sich über die Augen.

„Lass es für heute gut sein“, sagte er.

„Da ist noch etwas. Die Rothschilds haben einen Gast.“

Er schüttelte den Kopf. „Wie kann das sein?“

„Martin Hahnbaum.“

Seine müden Augen weiteten sich, seine Hand machte eine hilflose Geste. „Der ist doch mit seinen Eltern längst ausgewandert; noch vor den Judenprogromen.“

„Schon, aber er ist bei den Amis mitgeflogen und wurde abgeschossen.“

„Das darf doch nicht wahr sein! Ist er verletzt?“

Ich erzählte ihm, das Wenige, das ich wusste, aber es schien ihm zu reichen.

„Das heißt, Traudl hat jetzt einen Esser mehr“, sagte er mehr zu sich als zu mir.

„Ja, leider. Das schaffen wir nicht allein.“

„Wir sind nicht die einzigen, die ihnen helfen.“

„Oh, wer denn noch?“

„Das geht dich nichts an. Wer nichts weiß, kann nichts verraten.“

„Du hast nie erwähnt, was passieren würde, falls sie uns schnappen.“

„Judenhelfern droht KZ – mindestens zwei Jahre. Soll kaum zu überleben sein. Allerdings fürchte ich, dass sie heutzutage einfach kurzen Prozess machen.“

Vater legte seine Hand auf meine Schulter und drückte sie leicht. „Pass gut auf dich und uns auf, Maria. Unser ganzes Vertrauen ruht auf dir.“

Was für eine Bürde. Ich wünschte Vater eine Gute Nacht und zog mich in mein Zimmer zurück.

Dort lauschte ich den leiser werdenden Geräuschen nach. Einmal mehr befasste ich mich mit meinem Dilemma. Ich könnte Brunos Erpressungsversuch ignorieren, riskierte dabei aber, von ihm angezeigt zu werden. Genau das durfte aber nicht geschehen. Was wäre, wenn ich mein Problem den Eltern beichten würde? Die Schimpfkanonade konnte ich mir lebhaft vorstellen. Ich brauchte dringend Rat – aber von wem? Es kamen nur zwei Personen in Frage, denen ich traute: entweder meine Busenfreundin Luise oder Rudi. Schon bei dem Gedanken an den schönen Filmstar schlug mein Herz schneller. Das war die Lösung. Rudolf würde Rat wissen und als Filmheld hatte er sicher Möglichkeiten, Bruno Paroli zu bieten.

Marias Geheimnis

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