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Kapitel 4 2010 – München
Daniela

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„Wollten Sie nicht los, Frau Kiesling?“, fragte Frau Mechthold im Schulsekretariat.

Verflixt. Ein Blick auf die Uhr bestätigte, dass sie nur noch eine Viertelstunde Zeit hatte. Das würde knapp werden. Sie biss sich auf die Unterlippe. Für sie wäre das Café um die Ecke optimal gewesen, aber nein, der Herr Rechtsanwalt aus Nürnberg hatte unbedingt in die Nähe des Bahnhofs gewollt, und deshalb musste sie sich jetzt abhetzen. Vermutlich würde bei dem Treffen sowieso nichts herauskommen. Wie auch? Er wusste bestimmt keine Details, dazu war seine Anfrage viel zu allgemein gewesen, und ihre eigenen Informationen beschränkten sich auf den Namen Maria, den Oma auf den Brief geschrieben hatte. Dabei war nicht einmal klar, wer damit gemeint war. Bei der Häufigkeit dieses Namens könnte es Gott weiß wer sein.

Ein Blick durchs Fenster zeigte, dass auch das Wetter sich gegen sie verschworen hatte: Schnürlregen überzog die Stadt mit nassem Grau. Hier, im hell erleuchteten Schulsekretariat des modern ausgestatteten Altbaus, merkte man davon nichts. Sie langte nach ihrer Handtasche und sah sich nach ihrem Regenschirm um. Mist, der lag im Auto. Frau Mechthold hielt ihr ihren eigenen entgegen.

„Sie sind ein Schatz“, rief Daniela beim Hinausstürmen.

„Ich weiß.“

Sie rannte die Treppen hinunter, erwischte gerade noch die Straßenbahn und fand sogar einen freien Sitzplatz. Ihr gegenüber saß ein älterer Herr, der sie neugierig musterte. Genau so stellte sie sich den Rechtsanwalt Mischke aus Nürnberg vor: ergraut, etwas beleibt, aber mit dem wachen Blick eines Strafverteidigers, der stets eine Lücke in der Argumentationskette des Gegners suchte.

Endlich hielt die Straßenbahn in der Nähe des vereinbarten Cafés. Verdammt, fünf Minuten zu spät. Sie stürmte hinein, nahm kurz den Geruch von Kaffee wahr und schaute sich um. Es war nur mäßig besucht und der einzige in Frage kommende war ein einzelner Herr im Anzug an einem Fenstertisch.

Von wegen ergraut: sportlich, braune, kurzgelockte Haare, Dreitagebart. Von dem konnte sich der Freund und Rechtsanwalt ihres Vaters eine Scheibe abschneiden. Sie setzte ein förmliches Lächeln auf, denn dies war schließlich kein Rendezvous, sondern ein geschäftliches Treffen.

Er sah erst auf, als sie bereits am Tisch stand. Seine grauen Augen weiteten sich kurz. Anscheinend war er genauso überrascht wie sie, hatte vermutlich ein altes Mütterchen erwartet.

„Entschuldigung. Herr Dr. Mischke?“, fragte sie.

Er sprang auf. „Freut mich, Sie kennenzulernen, Frau Kiesling“, begrüßte er sie lächelnd.

Eine leichte Röte machte sich auf seinem Gesicht breit, als er ihr die Hand entgegenstreckte: lange, schmale Finger, fester Griff, den sie forsch erwiderte. Die blau-braun gestreifte Krawatte passte hervorragend zum hellgrauen Anzug. Jedenfalls schien er Geschmack zu besitzen – oder seine Frau. Sie würde ihre Vorstellung über Rechtsanwälte, die das Aufspüren von NS-Raubkunst betrieben, revidieren müssen. Er nahm ihr den Regenschirm ab und stellte ihn in den dafür vorgesehenen Ständer an der Garderobe.

Sie entschied sich für einen Latte Macchiato, während er sich einen Cappuccino bestellte. Eine Weile ergingen sie sich im Small Talk über seine Anreise und das grausige Wetter. „München ist bei weiß-blauem Himmel besonders reizvoll“, sagte sie.

„Nämberch auch“, konterte er, wobei die Aussprache seine fränkische Herkunft verriet. Nachdem ihre Bestellung serviert worden war, nippte Daniela vorsichtig daran. Cremiger Milchschaum auf einem Espresso erinnerte sie an den letzten Rom-Urlaub mit Ferdi, den sie schon lange ad acta gelegt hatte. Ihre Gedanken kehrten zu Dr. Mischke zurück.

„Worum geht es?“, fragte sie.

Er zog einen iPad aus einer flachen Mappe, flippte ihn auf und drehte ihn zu ihr. „Um dieses Bild.“

Von Gemälden verstand sie nur wenig, ihre Leidenschaft galt der Musik, aber dass es im Stil des Pointilismus gemalt worden war, erkannte sie auf Anhieb. „Ein echter …?“

„Cezanne.“ Er nickte bedächtig. „Außer diesem wurden auf dem Dachboden … äh, noch Werke anderer Meister gefunden, aber das hier dürfte das wertvollste sein.“

Warum zögerte er? Wollte er seinen Mandanten schützen? Es war noch nichts bewiesen, und solange kein Museum einen Anspruch erhob, bestand kein Zwang, die Bilder zurückzugeben. Sie räusperte sich. „Und wie sind Sie darauf gekommen, dass es sich um NS-Raubkunst handelt?“

„Ich … äh.“

Wieder dieses Zögern, dazu wich er permanent ihrem Blick aus und auf seiner Oberlippe bildeten sich winzige Schweißperlen. „Mein Mandant wurde nach einer Veröffentlichung im Internet darauf aufmerksam.“

Er redete von sich selbst. Es sind seine Bilder, oder die eines nahen Verwandten. Ihr Jagdinstinkt war geweckt. „Wurde denn ein Eigentumsanspruch angemeldet oder gar Klage erhoben?“

„Weder noch.“ Er streckte sich ein bisschen. „Mein Mandant hat sich jedenfalls nicht strafbar gemacht.“

Sie legte den Kopf ein wenig zur Seite. „Würden Sie mir bitte erklären, was passiert ist?“

Zum ersten Mal blickte er ihr tief in die Augen, als wollte er ihre Gedanken lesen. „Die Bilder lagerten seit dem zweiten Weltkrieg auf einem Dachboden. Der Besitzer hatte sie seinem Enkelsohn vermacht.“

„Warum nicht seinem direkten Nachkommen?“ Das wäre naheliegend, oder?

„Der ist im Krieg gefallen.“

„Aha. Und weiter?“

„Wird das ein Verhör?“, fragte er und verzog spöttisch den Mund.

„Nein, nein.“ Sie wedelte mit ihren Händen. „Sie lassen sich nur jedes Wort aus der Nase ziehen.“

Ein trockenes Lachen folgte, seine Augenbrauen zuckten nach oben. „Die Sache hat eine persönliche Note. Deshalb.“

„Dachte ich mir“, entfuhr es ihr. „Entschuldigung, ich wollte nicht vorlaut sein.“

„Schon gut. Mein Mandant …“

„Lassen Sie mich raten. Ihr Vater?“

Er nickte. „Mein Vater hat die Bilder bei der Haushaltsauflösung seines Großvaters, also meines Urgroßvaters …“ Wieder sah er sie voll an. „Warum erzähle ich Ihnen das alles? Eigentlich tut es gar nichts zur Sache.“

Ob er darin verwickelt war, ging sie nichts an, schließlich waren sie nicht vor Gericht. „Es geht also um die Herkunft der Bilder.“

„Sie sind im Art Loss Registry verzeichnet. Darin wurden sie von einem entfernten Verwandten einer im Krieg ermordeten Familie eingetragen. Daraus ergibt sich die Frage, die ich beantwortet haben möchte.“

„Wie sind die Bilder in den Besitz ihres Urgroßvaters gelangt?“

Er öffnete beide Hände und drehte die Handflächen nach oben. „Genau.“

„Nach all den Jahren werden sie kaum noch etwas herausfinden.“

„Stimmt, und die Chancen werden mit jedem Jahr geringer.“ Ein Lächeln umspielte seine Lippen. „Deshalb die Anfrage an alle ehemaligen Nachbarn meines Urgroßvaters. Wie erwartet erhielt ich keine verwertbaren Antworten.“

Oder wie erhofft? Sie studierte sein Gesicht. Wie würde sich die Geschichte auf seine Karriere auswirken?

„Aber einen Versuch war es wert. Raubkunst – sofern es sich darum handelt – wurde oft an Sammler oder Kunsthändler verkauft. Was danach damit geschah weiß der Himmel.“

„Sogar ein Cezanne also. Ihr Urgroßvater muss ziemlich reich gewesen sein, wenn er ihn von einem Kunsthändler gekauft hat. Sammler geben ihre Objekte eher selten wieder aus der Hand.“

Er beugte sich ein wenig vor. „Oder er besaß etwas, auf das der Verkäufer scharf war.“

„Schwarzmarkt? Also Tausch von Nahrungsmitteln, Wertsachen oder mein Schweigen gegen deines?“, zählte sie auf.

„Zum Beispiel.“

„Hat sich außer mir sonst jemand gemeldet?“

„Nein. Wie gesagt, das war vorhersehbar. Inzwischen ist viel Zeit verstrichen. Haben Sie noch eine Frage?“

Betont langsam lehnte sie sich zurück. „Nein. Oder doch. Was war mit der ermordeten Familie?“

„Mir ist nur bekannt, dass sie während der Naziherrschaft irgendwo in München untergetaucht war und nach Kriegsende nicht mehr lebte.“

„Gibt es keine Zeitzeugen mehr, die man fragen könnte? Ehemalige Nachbarn oder Verwandte, die vor dem Krieg ins Ausland geflohen sind?“

Er hob seine Hände und ließ sie auf den Tisch fallen. „Möglich. Aber die sind schwer ausfindig zu machen und die wenigen, die ich aufspüren konnte und kontaktiert habe, rührten sich nicht. Alles, was ich weiß ist, dass ein Verwandter der getöteten Familie die Bilder vor etwa zwanzig Jahren in London in der Art Loss Registry als verschollen listen ließ. Mehr Hinweise liegen mir nicht vor – außer dem illustren Nachnamen der damaligen Eigentümer: Rothschild. Eine Frage hätte ich noch.“

„Nur zu.“

„Ich hatte niemanden mit dem Namen Kiesling angeschrieben. Wie sind Sie an meinen Brief gelangt?“

Daniela zog ihn aus ihrer Handtasche hervor und entfaltete ihn. „Er war an meinen Großvater, Dr. Heinz Lamprecht, gerichtet. Adressiert war er an seinen alten Münchener Wohnsitz in Harlaching, an dem er während des Krieges mit seinen Eltern gelebt hatte. Seine letzten Jahre verbrachte er am Tegernsee. Offensichtlich wurde ihm die Post dorthin nachgeschickt.“

„Wer wohnt jetzt in dem Harlachinger Haus?“

„Keine Ahnung. Es wurde verkauft. Wir fanden den Brief erst vor wenigen Tagen, nach dem Tod meiner Großmutter, im Tegernseer Haus.“

„Mein Beileid“, sagte er höflich.

„Danke.“ Sie nickte ihm zu.

„Ihre Mutter ist also die Tochter des Herrn Dr. Lamprecht?“

„Richtig, und sie war das einzige Kind. Seltsam ist, dass Oma offenbar nicht nur Ihren Brief aufbewahrte, sondern auch einen Namen darauf vermerkte.“

„Aber zu einer Antwort konnte sie sich nicht aufraffen.“

„Vielleicht wollte Opa nichts mit den alten Geschichten zu tun haben.“ Die Frage ist nur, warum, fügte sie in Gedanken hinzu.

Er beugte sich vor, während sie auf den hingekritzelten Namen am Briefrand deutete.

„Wer ist diese Maria?“, fragte er.

„Ehrlich gesagt ist sich in meiner Familie keiner sicher. Es gab oder gibt eine Verwandte dieses Namens: die Schwester meines Opas. Das ist aber auch schon alles.“

Eine Falte zeigte sich zwischen seinen Augenbrauen. „Nachname? Wohnort?“, fragte er.

„Fehlanzeige. Meine Mutter meinte, Maria wäre gleich nach dem Krieg in die USA ausgewandert und hätte dort wahrscheinlich einen Amerikaner geheiratet.“

„Aha“, machte er. „Ziemlich weit weg.“

„Offenbar zu weit, um mit der Familie Verbindung zu halten.“

„Gab es dafür einen Grund?“

„Nicht, dass ich wüsste. Vielleicht warf man ihr vor, sich mit einem Besatzer eingelassen zu haben. Sie müssen wissen, wir sind eine ziemlich merkwürdige Familie. Väterlicherseits kenne ich die ganze Sippschaft, aber auf Mutters Seite ist ein großes Loch.“

„Eigentlich schade, nicht wahr?“

„Wie man’s nimmt. Als wir Kinder waren, ist das meiner Schwester und mir nie aufgefallen, weil ständig irgendwelche Verwandte um uns herum waren.“ Sie trank ihren Latte Macchiato aus. „Und Ihr Urgroßvater wohnte also in der Nachbarschaft meiner Urgroßeltern.“

„Ja, genau“, sagte er leise und sah zum Fenster hinaus. „Mein Urgroßvater hieß Hermann Mischke, und war der zuständige Blockwart.“

Marias Geheimnis

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