Читать книгу Marias Geheimnis - Ilona Schmidt - Страница 7

Kapitel 2 2010 – Tegernsee
Daniela

Оглавление

Gurgelnd arbeitete sich der Wildbach durch sein Bett, umspülte, was sich ihm in den Weg stellte.

Wie im Leben, dachte Daniela. Sie warf einen Grashalm hinein und verfolgte dessen wilden Tanz, bis er ihren Blicken entschwunden war. Anschließend tunkte sie ihre Zehen in das kalte Nass und genoss die prickelnde Frische.

Man muss das Leben nehmen, wie es ist, waren Omas Worte gewesen, als ihr Mann nicht mehr aus der Narkose erwacht war – ein Arzt, der unter dem Skalpell eines Kollegen sein Leben ausgehaucht hatte. Daniela atmete tief durch und zog ihre Füße aus dem Wasser. Nun war auch Oma gegangen, und zurück blieben Erinnerungen sowie das Haus im Hintergrund, von dem aus man einen wunderbaren Blick auf den Tegernsee und die ihn umgebenden Berge hatte. Als Kind war sie oft hier oben gewesen, während des Studiums selten, und jetzt, als Lehramtsanwärterin für die Grundschule, gar nicht mehr.

Sie hatten Oma heute auf dem Dorffriedhof unten im Tal beerdigt. Viele Trauergäste waren nicht gekommen; einige aus dem Ort und ein paar aus München. Wenn man mit achtzig stirbt, hat man die meisten schon hinter sich gelassen, pflegte Vater zu sagen. Nach dem Totenschmaus war er mit ihrer Schwester Nadine wieder nach München zurückgefahren.

Wie mochte Mama sich fühlen, nachdem sie beide Eltern so kurz hintereinander verloren hatte? Daniela erhob sich und schlenderte barfuß durch die feuchtwarme Löwenzahnwiese zum Haus zurück, vor dessen Fenstern Blumenkästen mit roten Geranienblüten hingen.

In einem schwarzen, ärmellosen Trauerkleid, das wie geborgt an ihr hing, kam Mama aus der Haustür getreten. Sie sah blass aus, um ihre rotgeränderten Augen lagen dunkle Schatten wie Trauerflor.

„Wir werden den Hof verkaufen müssen“, sagte sie mit kraftloser Stimme. „Vater meint, der Aufwand, ihn zu erhalten, wäre zu groß.“

Er hasste das Anwesen, aus welchem Grund auch immer. „Das wäre sehr schade.“

„Es gibt keinen Grund, ihn zu behalten. Wir haben selbst ein Haus, und du und deine Schwester lebt euer eignes Leben. Was sollen wir also damit?“

Daniela schaute zu den Bergen, vor denen der Tegernsee mit den Segelbooten darauf wie ein Saphir funkelte. Das Bild von Frieden und Glück mochte täuschen, aber im Moment fühlte sie sich wohl. Dieses Kleinod durfte nicht aufgegeben werden, bloß weil Vater und Schwiegervater sich nicht hatten ausstehen können.

Mama rieb sich die nackten Arme. „Ich lege mich ein bisschen hin. Mir geht’s nicht gut.“

„Soll ich später einen Kaffee machen?“

Sie nickte und zog sich in den dunklen Flur zurück. In der Wohnküche mit dem Herd und der Spüle aus den Fünfzigerjahren roch es leicht nach Petersilie und Schnittlauch, fast so, als kochte Oma ihre leckere Leberknödelsuppe.

Die Kaffeedose enthielt nur Aroma. Oma hatte wohl keine Kraft mehr gehabt, welchen zu besorgen. Wozu auch? Nach Opas Tod war alle Lebensfreude aus ihr gewichen. Und hätte nicht einmal pro Woche eine Haushaltshilfe nach dem Rechten gesehen, wären Haus und Oma vollkommen verwahrlost.

Daniela nahm ihre Handtasche vom Esstisch, die sie am Morgen nach der Beerdigung dort abgestellt hatte und fingerte nach dem Autoschlüssel. Die Platte des Fichtenholztisches zeigte Ringe von Tassen und Gläsern – stumme Zeugen, dass Oma hier gelebt hatte.

Wehmut ist ein schlechter Partner, dachte Daniela. Es war an der Zeit, etwas Neues anzupacken. Entschlossen trat sie hinaus, um beim Bäcker Kaffee zu besorgen.

Autofahren wirkte meist beruhigend auf sie, außer, wenn sie irgendeinem Idioten hinterher bummeln musste. Heute waren aber keine unterwegs und so genoss sie die stille Fahrt am Bergwald entlang und an den Kuhweiden vorbei. Im Ortskern von Tegernsee bevölkerten bereits die ersten Touristen die Bürgersteige. Sie parkte ihr Auto und betrat die Bäckerei, in der es herrlich nach Kaffee und Brot duftete. Anstehen zu müssen, machte ihr nichts aus, das kannte sie aus der Großstadt. Aus der gläsernen Theke lachte ihr ihr Lieblingsgebäck entgegen: ein Schokoladencroissant. Heute war nicht der Tag, um auf die schlanke Linie zu achten.

„Mei’ Beileid“, sagte die Frau hinter der Theke. „Die Helma war a guate Seel.“

„Danke.“ Daniela nannte ihre Wünsche und vergaß auch das Blätterteiggebäck nicht.

„Quarktasch’n und Käskuchen hat’s am liebsten mögen, die Helma“, wusste die Verkäuferin. „Und Schwarzbeerkuchen.“

Wer mochte den nicht? Als Kind hatte sie sich immer gewundert, warum Oma von Schwarzbeeren sprach, während Papa sie als Blaubeeren bezeichnete.

„Darf’s noch was sein?“

Daniela warf einen prüfenden Blick auf die Frau, die Mitte fünfzig sein musste. Zu jung, um etwas von Omas Jugendzeit zu wissen.

„Haben die Lamprechts eigentlich schon immer dort oben gewohnt?“, fragte sie dennoch.

Die Stirn der Frau legte sich in Falten. Wahrscheinlich wunderte sie sich über diese Frage. Wenn das jemand wissen musste, dann sie, die Enkelin. Danielas Ohren wurden heiß.

„Die Lamprechts ham den Hof scho vorm Krieg g‘habt“, antwortete die Frau mit fester Stimme. „Davor war’s der Judenhof.“

„Oh!“

„Sagt ma halt so, weil er Juden g’hört hat.“ Die Verkäuferin grinste. „War lang vor meiner Zeit.“

Die Hitze kroch in Danielas Wangen. In ihrer Familie gab es keine Juden. So mancher Nazi hatte sich nach der Reichskristallnacht am Besitz von Juden bereichert und sie hoffte, dass dies nicht auf ihre Familie zuträfe. „Und wie haben die Lamprechts ihn gekriegt?“, entfuhr es ihr.

„Die wern ihn halt kauft ham. I bin zwar scho alt, aber so alt a wieder net.“

Nachdenklich zahlte Daniela und nahm die Ware in Empfang. Was störte sie an der Bezeichnung Judenhof? Bauernhöfe wurden seit Jahrhunderten nach ihren Besitzern benannt, nach deren Berufen oder anderen Besonderheiten. Ganz früher war es also der Judenhof gewesen, dann der Lamprechtshof und nun hieß er eben Kieslingerhof, weil Mama den Namen ihres Ehemanns angenommen hatte.

Auf der Rückfahrt schob sich hinter einer Kurve der am Waldrand gelegene Hof in ihr Blickfeld: Wohnhaus, Scheune und ein ungenutzter, alter Stall. So viel sie wusste, hatten ihre Großeltern nie Vieh besessen. Opa war bereits im Ruhestand gewesen, als er den Hof übernommen hatte. Aber wer waren die Vorbesitzer gewesen? Vielleicht Bauern oder gar ein Verwandter? Wie wenig sie doch über ihre Urgroßeltern wusste.

Sie wollte diesen Anker im Strom der Zeit, mit all seinen Geheimnissen und Erinnerungen, unbedingt behalten.

***

Schweigend genoss Daniela den Kaffee, und ließ die leicht bittere Schokolade des Croissants auf der Zunge zergehen. In der Ferne grollte Donner, tiefgraue Wolken wälzten sich ins Tegernseer Tal. Wortlos setzte Mama sich zu ihr.

„Wir sollten Omas Post durchsehen“, schlug Daniela vor. Das Leben musste weitergehen.

Mama schwieg dazu, wischte sich verstohlen über die Wangen, erhob sich und verschwand im Haus. Vielleicht war es besser, einen Tag damit zu warten – oder zwei. Solange könnten sie noch bleiben, und etwas Abstand gewinnen.

Daniela schloss die Augen und hielt ihr Gesicht in die wärmenden Sonnenstrahlen. Es donnerte erneut; dieses Mal lauter und näher.

„Das ist ihre Post.“ Mama war mit einem Stapel Briefe in der Hand zurückgekehrt. „Auf das Durchwühlen ihrer Sachen verspüre ich heute keine Lust. Dafür habe ich zu nahe am Wasser gebaut. Mir ist, als wäre sie noch da. Geht dir das auch so?“

Am liebsten hätte Daniela sie umarmt, aber ein Kind umarmte seine Mutter nicht – jedenfalls nicht in ihrer Familie. „Richtig, wir sollten damit bis morgen warten.“

„Gut.“ Mama legte den Stapel auf den Tisch. „Die könnten wir schon mal durchschauen, oder was meinst du?“

Obwohl der Vorschlag dazu von ihr selbst gekommen war, zögerte sie. Es war, als würden sie in Omas Privatsphäre eindringen, wobei der Großteil des Stapels allerdings aus Werbung bestand. Daniela beobachtete Mama von der Seite, während diese den Packen mit stoischem Gesichtsausdruck durchsah.

„Werbung, Werbung, Telekom, Telekom, eine Mahnung …“, sie stockte und hielt eine Ansichtskarte hoch: Meer mit Sonnenuntergang. „Von einer … Regina. Der Name sagt mit nichts.“

Als nächstes lag ein bereits geöffneter Umschlag auf dem kleiner gewordenen Stapel. Daniela griff nach ihm.

„Kanzlei van Utrecht & Mischke in Nürnberg“, las sie vor. „Komisch. Hat Oma in Nürnberg was ausgefressen?“

„Quatsch.“ Mama legte die Ansichtskarte auf dem Tisch ab.

„Der Umschlag ist bereits offen. Oma muss ihn wieder zu den anderen Briefen gelegt haben, weil sie sich vielleicht später damit befassen wollte.“ Daniela zog das Schreiben heraus und überflog es. „Ein Rechtsanwalt Mischke sucht Informationen über jetzt aufgetauchte Bilder, die seit dem Krieg verschollen waren. Der Brief wurde vor einem Jahr geschrieben, als Opa noch lebte. Verstehe ich nicht.“

Mama blickte zum Hirschberg hinüber, dessen Gipfel graue Regenschleier verbargen. „Keine Ahnung, was das mit uns zu tun hat. Soviel ich weiß, wurde uns im Krieg außer Schmuck nichts gestohlen.“

Daniela drehte den Brief um, so dass Mama die Frontseite sehen konnte. „Viel mehr steht nicht drin. Jemand hat „Maria“ darauf geschrieben. Schau, hier.“

Mama kniff die Augen zusammen, als sähe sie schlecht, und begutachtete den Brief ausgiebig „Ja, das ist Omas Handschrift“, sagte sie endlich.

„Gab es denn in unserer Familie eine Maria?“

„Nicht, dass ich wüsste.“ Mama kratzte sich an der Schläfe. „Oder doch. Opas Schwester hat so geheißen. Aber was hat die mit diesen Bildern in Nürnberg zu tun? Opas Familie lebte während des Krieges in München.“

„Warum habe ich nie von ihr gehört?“

„Weil sie gleich nach dem Krieg mit einem Ami in die USA gezogen ist.“

Ein Foto der Ausstellung „Deutschland nach dem Krieg“, auf dem ein deutsches Froilein mit einem GI unter dem Schild NO FRATERNISATION tanzte, drängte sich Daniela auf. „Wie romantisch.“

„Deutsche Frauen hatten damals nichts gegen die Anwesenheit der Besatzer einzuwenden, denn die deutschen Männer waren entweder zu alt, zu jung, gefallen oder in Kriegsgefangenschaft.“

„Was haben ihre Eltern dazu gesagt?“

Mama atmete hörbar aus und lehnte sich zurück. Ihr Zeigefinger fuhr den Rand des Tisches entlang. „Vermutlich nichts Gutes, sonst wären sie in Verbindung geblieben. Ich habe sie nie kennengelernt.“

„Wir sollten sie suchen.“

„Wie stellst du dir das vor? Wir wissen nicht einmal ihren Nachnamen. Und Amerika ist riesengroß.“

„Vielleicht finden wir in Opas Unterlagen etwas über sie heraus.“

„Wäre schön zu erfahren, was aus meiner Tante geworden ist. Und sollte sie noch leben, muss sie vom Tod ihres Bruders erfahren.“

„Wahrscheinlich hat sie unter ihre deutsche Vergangenheit einen Schlussstrich gezogen und keinen Kontakt mehr gewollt.“ Daniela starrte den Brief des Rechtsanwalts an. Die Frage, warum Oma „Maria“ darauf geschrieben hatte, bohrte in ihrem Kopf.

Ein Rechtsanwalt aus Nürnberg? Wieso war der ausgerechnet auf Oma gekommen? Sie sollte ihn anschreiben und um Aufklärung bitten.

Schwere Tropfen fielen vom Himmel, das Gewitter hatte sie erreicht.

Marias Geheimnis

Подняться наверх