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Kapitel 3 2010 – Nürnberg
Lukas

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Ein kurzes Handzeichen des Liberos, und Lukas sprintete in Richtung Tor. Dieses Mal musste es klappen. Sie hatten nur noch wenige Minuten, um aus dem 1:1 einen Sieg zu machen. Er lief in die freie Gasse, erwartete den Pass. Leicht angeschnitten kam der Ball geflogen, prallte auf dem Rasen auf und sprang flach auf ihn zu.

Sein Herz trommelte, während der linke Verteidiger auf ihn zu gerannt kam. Jetzt kam es drauf an. Mit grimmigem Gesichtsausdruck stellte sich ihm ein anderer Abwehrspieler in den Weg. Lukas zog mit aller Kraft ab, und der Ball zischte am Fuß des Verteidigers vorbei. Der Torwart schnellte sich ab – zu spät. Mit einem lauten Klatschgeräusch prallte das Leder vom Pfosten ab, aufs Spielfeld zurück. Mist.

Aus dem Getümmel vor dem Tor sprang Kai plötzlich hervor, grätschte in den Ball – Tooor.

Freude und Enttäuschung zugleich wirbelten durch Lukas Kopf, zwangen ihn auf die Knie. Endlich die Führung – allerdings nicht durch ihn. Erschöpft blickte er zu dem Torschützen hinüber, der sich von den Mannschaftskameraden feiern ließ.

Schön, wenn im wirklichen Leben mal jemand käme, und einem die eigenen Fehler ausbügelte.

Die wenigen Zuschauer applaudierten johlend, hatten sie doch nicht nur ihren Erzrivalen bezwungen, sondern – sollten sie das Ergebnis bis zum Schlusspfiff halten können – auch den Klassenerhalt geschafft.

Langsam erhob er sich. Viel Zeit zum Ausgleich blieb dem Gegner nicht mehr. Lukas und sein Team mussten nun alles daransetzen, den Sieg zu sichern. Er rannte, bis ihm die Lunge zum Hals heraushing, kämpfte um jeden Ball. Erst der Abpfiff des Schiedsrichters erlöste ihn. Nichts wie hin zur Seitenaus-Linie, um sich mit kaltem Wasser zu erfrischen.

„Du bleibst noch auf ein Bier oder zwei?“, fragte Kai, die Wangen rot von der Anstrengung.

Das Angebot klang verlockend, trotzdem zögerte Lukas. Seit Jahren scheute er die Fragen, die seine Anwesenheit unweigerlich nach sich ziehen würden. „Eigentlich müsste ich arbeiten.“

Mit einem Grinsen schlug Kai ihm auf die Schulter. „Ohne deine Vorlage wäre ich nicht zum Schuss gekommen.“

„Na ja, als Vorlage kann man das nicht gerade bezeichnen.“

„Nennen wir’s halt Vorlage mit Bande. Komm schon, gib dir einen Ruck. Wir haben selten genug Grund zum Feiern.“

Eine innere Stimme sagte ihm, dass er sich schon zu lange gedrückt hatte. „Am Montag sind Gerichtstermine, für die ich mich vorbereiten muss.“

Schwaches Argument, denn morgen war Sonntag. „Also gut.“ Vielleicht würden sich die Jungs beherrschen.

Das Bier war herrlich erfrischend und ließ ihn, trotz der unbequemen Sitzbank, den schmerzenden Oberschenkel vergessen. Langsam stellte sich Entspannung ein. Um ihn herum war eine laute Diskussion über den Spielverlauf entbrannt. Neugierige Blicke wurden ihm zugeworfen, aber vielleicht bildete er sich das auch nur ein. Auf jeden Fall war es richtig gewesen, hier zu bleiben.

Seit Vater die Kandidatur für einen Sitz im Stadtrat zurückgezogen hatte, verließ seine Mutter selten das Haus, vor allem, nachdem die Medien das Sommerloch mit Berichten über seine Familie gefüllt hatten.

An dem ganzen Tohuwabohu waren nur die Bilder schuld gewesen. Nein, eigentlich sein Urgroßvater. Von wem, verdammt nochmal, hatte er sie bekommen? Tatsächlich waren Originale darunter, und deshalb war die Story zu interessant, um sie unter den Tisch fallen zu lassen. Ein gefundenes Fressen für die Medien und den politischen Gegner.

„Lukas? Bist du noch bei uns?“, fragte Kai.

„Sorry. Was war?“

„Huni will wissen, ob du schon was Neues über die Herkunft der Bilder rausgefunden hast.“

Das war der Grund, warum er nicht hatte mitfeiern wollen. Sollte er überhaupt darauf eingehen? Die Mitspieler schauten ihn erwartungsvoll an. Irgendwie war er ihnen eine Antwort schuldig. „Nein. Solange keiner einen Anspruch auf sie erhebt, bleiben sie in unserem Besitz. Und selbst wenn, ist die Sache vermutlich längst verjährt. Laut BGB Paragraph soundso.“

Kai hob sein Glas, um mit ihm anzustoßen. Die Kripo hatte er abwimmeln können, den Shitstorm im Internet musste er ertragen. Ob sein Vater für die Neo-Nazis kandidieren würde, hatte ihn der Journalist einer Zeitung gefragt.

„Alles Paletti, nur keine Panik“, sagte Huni. „Da gibt’s noch mehr Leut’, die Dreck am Stecken haben, oder besser g’sagt, Nazi-Raubkunst im Keller.“

Lukas holte tief Luft. „Die Sachen könnten auch rechtmäßig erworben worden sein, wie wäre das denn? Warum immer gleich das Schlechte annehmen und dann darauf herumreiten? Nicht jedes Kunstwerk, das während des Kriegs verschwunden ist, wurde geklaut. Manche wurden zum Beispiel gegen Nahrungsmittel oder ein Dach über dem Kopf eingetauscht.“

Er hatte sich in Rage geredet. Kai legte beschwichtigend die Hand auf seinen Arm. Der Außenstürmer hatte recht, dies hier war ein Kampf gegen Windmühlen. Vermutlich würde nicht einmal ein Beweis, dass sie die Bilder rechtmäßig erworben hätten, etwas bewirken. Nichts hielt sich hartnäckiger als Gerüchte. Warum musste auch ausgerechnet ein millionenschwerer Cezanne – hinter dem nicht nur Museen her waren – darunter sein? Wenn er könnte, hätte er das Ding längst verkauft. Aus den Augen, aus dem Sinn.

„Ein für alle Mal. Ich dulde keine Verleumdungen meiner Familie, kapiert?“ Das Bier schmeckte plötzlich schal, und am liebsten hätte er es diesem Huni über die Glatze gegossen.

„Scho’ gut“, sagte der. „Reg dich ab. Ich hab’s net so g’meint.“

Damit nahm er Lukas den Wind aus den Segeln. Sein Ärger verebbte und machte einer Leere Platz, die er mehr fürchtete als seinen Zorn.

„Mir reicht’s für heute.“ Kai trank aus. „Kannst du mich heimfahren? Dann könnten wir noch einiges bereden.“

Nach reden war Lukas nicht zu Mute, aber heimfahren hörte sich gut an. Seit dem unheilvollen Tag vor zwei Jahren hatte er sich verändert. Bislang hatte er sich für eine Kämpfernatur gehalten, aber die fast tägliche Konfrontation mit diesem Thema, zehrte an den Nerven, zumal nicht absehbar war, wie er aus dem Schlamassel wieder herauskommen könnte.

Im Wagen bliebt Kai schweigsam, wartete wohl darauf, dass Lukas den Anfang machte. Endlich sagte Kai: „Wie geht’s Anika? Hast du was von ihr gehört?“

„Zu eins: keine Ahnung, zu zwei: nein.“ Lukas kniff die Lippen zusammen und schlug mit der Faust aufs Lenkrad. „Sag mal, hast du keine besseren Fragen?“

„Ich möchte doch nur, dass du aus deiner Totenstarre aufwachst. So kenne ich dich gar nicht.“

„Ich arbeite wie ein Ochse, spiele Fußball und muss mich um jeden Scheiß kümmern. Was sollte ich denn deiner Ansicht nach sonst noch tun?“

„Leben. Du spielst Fußball, als wärest du auf einem Schlachtfeld. Mensch Lukas, lass es einfach mal etwas ruhiger angehen. Was vor siebzig Jahren passiert ist … Dafür bist du nicht verantwortlich.“

„Stimmt genau. Nichts, dessen ich mich schämen müsste. Anikas Vater hat die Geschichte nur benutzt, um meinen Vater von der Stadtratsliste zu schießen. Und die dumme Nuss hat ihm die Munition dafür geliefert.“

„Wer? Anika?“

„Freilich.“

Kai schwieg.

Der Ausdruck „dumme Nuss“ war unfair, denn sie hatte das bestimmt nicht gewollt, aber er hatte ein Ventil gebraucht, um seinem Ärger Luft zu machen. „Als Rechtsanwalt kann ich mir keine Negativschlagzeilen leisten.“

„Ist doch alles legal, oder?“

Schwang in seinen Worten eine gewisse Ironie mit? Offenbar ahnte Kai, wie es in ihm aussah, und hatte deshalb seine Zweifel dezent umschrieben. „Vom heutigen Standpunkt aus gesehen – ja. Wo kein Kläger, da kein Richter.“ Er sprach nicht weiter. Der Cezanne sollte vor dem Krieg einem Ableger der weitverzweigten Rothschild Familie gehört haben, und hing nun im Schlafzimmer seines Vaters. Es war zum Haare ausraufen.

***

Lustlos arbeitete Lukas sich in seinem Zweizimmerapartment durch die Unterlagen des Falls, der ihn morgen vor Gericht erwarten würde. Keine medienwirksame Verhandlung, eher eine Routinesache, die er und sein Mandant gewinnen sollten. Er hatte seine Hausaufgaben gemacht und könnte sich jetzt eigentlich entspannt zurücklehnen.

Immer wieder glitt sein Blick von den Prozessunterlagen zu dem Foto, das er von dem Cezanne-Gemälde im Schlafzimmer seiner Eltern geschossen hatte, um es mit den Aufnahmen im Art Loss Register zu vergleichen. Den ursprünglichen Eigentümer der Kunstwerke hatte er schnell herausgefunden, aber wie sie dann von der Familie Rothschild in den Besitz seines Urgroßvaters gelangt waren, blieb schleierhaft.

Neben dem Foto lag die Post vom Freitag, die er sich zum Durchsehen bereitgelegt hatte. Seit Anika aus seinem Leben verschwunden war, arbeitete er am liebsten in einem Stück durch – außer er spielte Fußball oder joggte seine zehn Kilometer um den Wöhrder See. Er rieb sich die Augen, während von draußen gedämpftes Kinderlachen in die Stille seiner Wohnung drang. Ein schönes Geräusch. Gegen Kinder hatte er nichts einzuwenden.

Er betrachtete den Absender des obersten Briefs. Die Buchstaben verschwammen vor seinen Augen, gleich würden ihm die Lider zufallen. Eine Pause einlegen, sich eine Tasse Kaffee gönnen, oder einfach hinausgehen und das Leben genießen, wäre eine gute Idee. Zumindest könnte er die Balkontür öffnen, um frische Luft und das Kinderlachen hereinzulassen.

Vom Balkon aus konnte man den See und den ihn umgebenden Park überblicken, den Hunden beim Gassigehen und den Kindern beim Spielen zuschauen. Eine leichte Brise kräuselte die Wasseroberfläche, auf der die Strahlen der untergehenden Sonne lebhaftes Glitzern erzeugten. Ein wunderschönes Motiv für einen Maler. Mit seinen Fingern formte er einen Rahmen und suchte den besten Bildausschnitt.

Von unten sah ein Mann zu ihm hoch, den er auf den ersten Blick wiedererkannte. Mit dem Kriminalhauptkommissar hatte er beruflich öfters zu tun gehabt, aber mittlerweile war der im Ruhestand. Was wollte er hier?

Instinktiv wich Lukas in den Schatten zurück, lachte dann über sich selbst. Nein, unter Verfolgungswahn litt er nicht. Als er wieder an die Brüstung trat, war der alte Herr verschwunden.

Das Telefon klingelte. Er eilte hinein und sah auf das Display: Mutter. Auch das noch. Sollte er das Gespräch annehmen? Die Fragen, die auf ihn einprasseln würden, kannte er auswendig. Also gut.

„Hast du die Post schon durchgesehen“, fragte sie ohne Umschweife.

„Bin gerade dabei.“

„Hoffentlich hat sich der Kunstsachverständige endlich gemeldet. Warum er das Ergebnis zu dir schickt, ist mir allerdings …“

„Weil ich eure Interessen vertrete.“

Schweigen. Im Hintergrund bellte Zeus, sein Hund, den er aus Zeitmangel bei den Eltern einquartiert hatte. „Wie geht’s Zeus?“

„Er wird alt.“

„Zwölf ist doch kein Alter für einen Husky.“

„Dreizehn. Rufe bitte sofort zurück, wenn der Brief eintrifft, ja?“

Er versprach es, legte auf und hakte seine Daumen in die Gürtelschlaufen der Jeans ein. Was, wenn das Urteil des Sachverständigen nicht seinen Erwartungen entspräche?

Mit einem Seufzer unterdrückte er den Impuls, einfach einen Spaziergang um den See zu machen. Langsam näherte er sich seinem Schreibtisch mit dem Briefstapel darauf und fächerte sie so weit auf, dass er die Absender lesen konnte. Die meisten Umschläge waren mit gedruckten Adressangaben versehen, Geschäftsbriefe eben. Von dem Kunstexperten war keiner darunter. Prima, darauf konnte er heute gut verzichten.

Der letzte Brief fiel durch die handschriftliche Adresse auf: Daniela Kiesling, München.

Nachdenklich zog er ihn unter den anderen hervor und betrachtete ihn von allen Seiten. Im Verlauf seiner Recherche hatte er einige Personen angeschrieben, die in der Nachbarschaft seines Urgroßvaters gewohnt hatten, immer in der Hoffnung, jemanden zu finden, der den legalen Erwerb der Bilder bestätigen konnte. Auf seine Anfragen hatte kaum jemand geantwortet und wenn, dann immer mit negativem Bescheid. Klar, denn die meisten Zeitzeugen waren entweder gestorben oder unbekannt verzogen. Und jetzt …? Konnte es wirklich sein?

Mit dem Brieföffner schlitzte er den Umschlag auf, entnahm das Schreiben und las im Stehen.

Sehr geehrter Herr Dr. Mischke,

die Fragen in Ihrem Schreiben kann ich Ihnen leider nicht beantworten, aber ich kenne jemanden, der es eventuell könnte. Dazu müsste ich allerdings wissen, um was es sich im Detail handelt und was meine Familie damit zu tun hat. Ich schlage deshalb ein Treffen hier in München vor.

Mit freundlichen Grüßen

In kleinen aber schwungvollen Buchstaben folgte eine gut lesbare Unterschrift: Daniela Kiesling. Lukas ließ die Hand sinken. Der Name war nicht unter denen gewesen, die er angeschrieben hatte, und große Mühe, weitere Nachbarn seines Urgroßvaters ausfindig zu machen, hatte er sich nicht gegeben. Eigentlich hatte er die Vergangenheit ruhen lassen wollen, doch jetzt schien es, als hätte sie ihn eingeholt.

Marias Geheimnis

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