Читать книгу Tanz der Lemminge - Ingeborg Schober - Страница 11
Aus Bonbons werden Bomben
Оглавление»Let's hear it for the good guys, hooray!
Let’s hear it for the bad guys, boo!«
Country Joe McDonald
»Sing this song all together (see what happens).«
The Rolling Stones
Im Frühjahr 1968 gehörten die Alben der Gruppen Quicksilver Messenger Service, Moby Grape, Steve Miller Band, Country Joe & The Fish und Creedence Clearwater Revival zu den Topsellern der Billboard-Charts in Amerika. Auch hierzulande wuchs das Selbstbewusstsein und versetzte die Protestbewegung in einen beängstigenden Machtrausch. Doch welche Folgen ein harmloser Studentenulk á la »Feuerzangenbowle« hatte, zeigte das bereits verschärfte, paranoide Klima. Am 10. Januar hatten in München zwei Studenten in ausgeliehenen Polizeiuniformen eine Uni-Vorlesung gesprengt und wurden dafür im April zu mehrmonatigen Gefängnisstrafen verurteilt. Vorbei war es mit der Parole »Die Phantasie an die Macht!« Es sollte nicht mehr lange dauern, bis die »organisierte Gegengewalt« das Kampfmittel Polit-Happening ablöste, und dass statt Bonbons Bomben flogen. Die Kommune I zeigte Verfallserscheinungen, nachdem Rainer Langhans das Münchner Topmodell Uschi Obermaier nach Berlin geholt hatte. Im Februar wurde in Berlin beim »Springer-Hearing« ein Lehrfilm von Holger Meins über die Herstellung von Molotow-Cocktails vorgeführt. Noch in derselben Nacht wurden von Unbekannten bei sieben Morgenpost-Filialen die Fensterscheiben eingeworfen. Auch die amerikanische Hippie-Bewegung machte eine Radikalisierung durch, die von den Anarcho-Gedanken Abbie Hoffmans und Jerry Rubins begeisterten Jugendlichen firmierten nun als Yippies und lieferten sich am 18. Februar in San Francisco mit der Polizei eine Straßenschlacht. Zur gleichen Zeit fand in Berlin der »Internationale Vietnamkongress« statt.
Sicher war es ein Zufall, dass zur selben Zeit die fröhliche Ballade vom anarchistischen Gangsterpärchen Bonnie & Clyde in der Hitparade stand.
Im März erschien die erste LP Bob Dylans nach seinem Motorradunfall 1966, John Wesley Harding. Wie immer waren in den Texten visionäre Bilder, treffende Aussagen:
»No martyr is among you now
whom you can call your own
but go on your own way accordingly
and know you're not alone«,
aber auch
»There must be some way out of here
said the joker to the thief
there's too much confusion
I can't get no relief ...«
Songs über Hobos, Kämpfer, Outlaws, Heilige, Narren – was hätte besser in die Zeit gepasst? Und in Sounds 3/68 hielt mit einer Besprechung der Mothers-LP »Freak Out« endlich die Popmusik Einzug. Schon im Monat darauf kam ein Bericht über die San-Francisco-Szene. Deutschland hatte endlich seine alternative Musikzeitschrift. Deutschland hatte aber auch noch seine Bravo und Hit, bei der ich inzwischen zum ständigen freien Mitarbeiter avanciert war.
Und so las sich da die April-’68-Mischung: »Engelbert, mit 32 Jahren das Idol von Teenagern und Großmüttern in aller Welt, spürt plötzlich, dass die revoltierende Jugend auf ihn Eindruck macht. In diesen Wochen, in denen er wieder mit einem Hit ›Am I that Easy to Forget‹ die Hitparaden vieler Länder anführt, prophezeit er im Hinblick auf seine künftige Karriere einen musikalischen Wandel: Mit mehr PS ins internationale Showbusiness. – Nach großem Krach in der Gruppe Manfred Mann ist die Crew wieder vereint und auf Anhieb mit einem Hit im Schlager-Weltgeschehen zur Geltung gekommen: ›Mighty Quinn‹. Ein Mann, ein Wort, kann man bei Manfred Mann sagen, denn in einem Interview meinte er zur Schlagerszene unerschrocken: Der Rundfunk macht unser Geschäft kaputt! – Hitparade des Monats April: ›World‹, Bee Gees, ›Hello, Goodbye‹, Beatles, ›Massachusetts‹, Bee Gees, ›Mama‹, Heintje, ›Daydream Believer‹, Monkees, ›Doch dann kamst du‹, Ronny, ›2000 Lightyears from Home‹, Rolling Stones, ›The Letter‹, Box Tops, ›Morning of my Life‹, Esther und Abi Ofraim, ›The Ballad of Bonnie and Clyde‹, Georgie Fame. – Was wird aus den Mamas & Papas? – Die Monkees sind eine der erfolgreichsten Bands in den USA. Bisher haben sie zehn Millionen Single-Platten und fast dreizehn Millionen Langspielplatten verkauft. – Das Leben ist ein verrückter Spaß. So heißt die Devise der Who – Keith Moon, John Entwistle, Roger Daltrey und Pete Townshend –, die sie täglich in die auffallendsten Taten umsetzten. Wer diese quirligen Vier mal aus der Nähe erlebt hat, weiß, dass man bei ihnen auf die tollsten Sachen gefasst sein muss. – The Cream: ›Sunshine of Your Love‹: Modern gesetzter Gruppengesang unterscheidet die Cream heute von früheren Aufnahmen. Der Background ist hart und zugleich mystisch verträumt. Die Cream im Trend unserer Zeit. Eine Platte für Freunde des zeitgemäßen Beat.«
Am 3. April explodierten nachts in zwei Frankfurter Kaufhäusern Sprengsätze. »Burn, warehouse, burn!« Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Söhnlein und Thorwald Proll, wurden tags darauf verhaftet und im Oktober zu einer Zuchthausstrafe von jeweils drei Jahren verurteilt. Am 4. April wurde Martin Luther King ermordet, am 11. April Rudi Dutschke bei einem Attentat schwer verletzt.
Hüben wie drüben kam es zu spontanen Aufständen, Unruhen, Straßenschlachten, Eskalation der Gewalt. Amerika wurde durch bürgerkriegsähnliche Kämpfe in 125 Großstadt-Gettos erschüttert, Deutschland durch die Osterunruhen – ihr Ziel: die Springer-Redaktionen und -Fillialen! Solidaritätsdemonstrationen weltweit, von Amsterdam bis Washington. In München sah es so aus: Am Karfreitag, einen Tag vor dem Dutschke-Attentat, wurde die Redaktion der Bild-Zeitung gestürmt, es kommt in der Barerstrasse zu erbitterten Straßenschlachten, die, über die ganze Stadt verteilt, bis Ostermontag andauern. An diesem Tag geht in München ein Kulturspektakel über die Bühne, für das Eberhard Schoener, heute Deutschlands experimentierfreudigster Komponist, verantwortlich zeichnete. In der Süddeutschen Zeitung vom 17. 4. 68 schrieb Florian Fricke, der bald mit seiner Gruppe Popol Vuh selbst den Weg zum Musiker einschlagen sollte, über »Alteraction« im Münchner Haus der Kunst: »Abgesehen vom Resultat und auch davon, dass das ›Neue‹ ja nicht eigentlich neu war, nur eben für München, ist der Versuch zu begrüßen und selbst in seinem Misslingen interessant.« Helmut Lesch fand in der Abendzeitung das »Morphinisten-Gestammel ... trotz allem: ein sehenswertes Experiment«. Und der Spiegel berichtete: »Den Münchnern im (Haus der Kunst) schlug die von Macchi erstrebte Provokation bislang nicht aufs Gemüt ... überdies: Draußen auf den Münchner Straßen, soviel war sicher, wurde zur gleichen Zeit weit eindringlicher provoziert.« – Soviel zu (A)lter A(ction) von A. Artaud, von Eberhard Schoener, Florian Furtwängler und Tatiana Massine initiiert ...
An diesem Tag wird der AZ-Fotoreporter Klaus Frings von einem Pflasterstein tödlich getroffen. Der Student Rüdiger Schreck erliegt ebenfalls seinen Verletzungen. Beide Fälle bleiben, wie unzählige andere, unaufgeklärt. Nach der Belagerung des Buchgewerbehauses am 16. April sieht die Bilanz der »Osterunruhen« so aus: über 60.000 Demonstranten aller Bevölkerungsschichten wurden von 21.000 eingesetzten Polizisten bekämpft, die 1.000 verhafteten, darunter auch völlig unbeteiligte Bürger. Man zählt über 4.000 Verletzte. Seit der Weimarer Republik hat Deutschland keine Straßenschlachten in diesem Ausmaß erlebt.
Einen klaren Kopf behielt nun keiner mehr, auf beiden Seiten trat anstelle kühler Überlegung unberechenbare Willkür. Der erste »Osterdemonstrant« wird am 16. April in München wegen Aufruhrs und Auflaufs zu sieben Monaten Gefängnis ohne Bewährung verurteilt, gegen weitere 826 werden Ermittlungsverfahren eingeleitet. In einer Bundestagssondersitzung bezeichnete Innenminister Benda den SDS als verfassungsfeindliche Organisation. Was für einen Mai konnte man nach einem solchen April erwarten? Den Heißesten, den es je gab. Doch ausgerechnet im ereignisreichsten und wichtigsten Monat der ganzen 60er-Jahre-Bewegung hatte ich meine Prüfung als Buchhändler vor der Handelskammer abzulegen. Wäre sie einen Monat später gewesen, wer weiß? So kam ich zumindest noch zu einem bürgerlichen Berufsabschluss und konnte guten Gewissens herumexperimentieren. Die politischen Ereignisse hatten sich nach Frankreich verlagert, der legendäre »Pariser Mai ’68« fand jedoch in einem internationalen Protestumfeld statt, von Ankara bis Tokio. In Deutschland hatte die APO zu den 1.-Mai-Kundgebungen des DGB »Gegenkundgebungen« organisiert. Während sich in Paris nach tagelangen Straßenschlachten Arbeiter und Studenten solidarisierten und dort mit Blockaden und Streiks, Besetzungen und Stürmungen die Stadt für einen Monat lahmlegten, waren am 11. Mai in Deutschland 60.000 unterwegs, um gegen die geplanten Notstandsgesetze zu protestieren. Das Kuratorium Notstand der Demokratie hatte diesen Sternmarsch auf Bonn organisiert. Trotz Beteiligung an mehreren Osterdemonstrationen legte ich am 14. meine Buchhändlerprüfung ab, am 15. musste ich für mehrere Wochen zu einem Kursus der Buchhändlerschule des Deutschen Börsenverbands nach Frankfurt.
Anlässlich der zweiten Lesung der Notstandsgesetze im Bundestag kam es an diesem und dem darauffolgenden Tag an den Universitäten und Hochschulen zu Demonstrationen. Am 17. wurden die Notstandsgesetze gebilligt, am 18. wurde auch an der Kunstakademie in München gestreikt.
Am 20. fand dort das sogenannte »Notstandshappening« statt, am 21. versammelten sich 12.000 Notstands-Gegner im Alten Botanischen Garten, und am 24. wurden auf den Bühnen der Theater die sogenannten Notstandsproklamationen verlesen. Und an einem dieser Tage war er – der erste Auftritt der Münchner Gruppe Amon Düül!
Wann genau, da kann sich keiner mehr erinnern. Wen wundert’s bei diesem Chaos, die Welt war alles andere als in Ordnung.