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London - es muss noch viel bunter werden!

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London war wie eine 3-D-Vision all meiner Träume. Es war eine permanente Sinnesreizung ohne Drogen; der Film, die Lightshow, die Musik, die Aktion, alles auf den Straßen zu finden. Gleich bei meiner Ankunft geriet ich auf dem Weg in die Innenstadt in eine pittoreske Demonstration. Tausende von Jugendlichen gingen singend gegen die Einstellung des Piratensenders Radio Caroline auf die Straße. Musik, Hippies, Blumen. Deutschland war grau und weit weg. Es musste viel bunter werden! Was ich an Platten nicht kaufen konnte, lernte ich in den Läden auswendig. Ich hing in Folk-Clubs herum, stöberte Headshops mit exotischem Krimskrams durch, sah Privilege mit Popsänger Paul Jones in der Hauptrolle. In meinem Tagebuch notierte ich: »Man wird sogar als Hippie höflich bedient«. Als solcher fühlte ich mich nach vierzehn stimulierenden Tagen. Ich war von der oberflächlichen, entspannten Toleranz der Stadt hingerissen. In den Zeitungen las ich Berichte über den Besuch des Maharishi und dass die Beatles zu einer Schulung nach Bangor, Nord-Wales, gefahren waren. Dass sie nun LSD und andere Drogen aufgegeben hätten und George Harrison Sitar lernte. Das klang so abenteuerlich, wie es war. Bald sollte ich merken, wie schnell sich unser Leben verändern würde, wie bald uns das Abenteuerliche normal erscheinen sollte. Am 27. August flog ich zurück nach München, nicht nur äußerlich ausstaffiert als Flower-Power-Kind, sondern auch innerlich vorbereitet, mit indischem Flatterhemd und kurioser LSD-Brille, mit Räucherstäbchen, Musik- und Untergrund-Magazinen wie OZ und IT, mit den neuesten Platten unterm Arm: die erste Pink Floyd-LP The Pipers at the Gates of Dawn», Freak Out von den Mothers of Invention, Flowers in the Rain von The Move. An diesem Tag starb der Beatles-Manager Brian Epstein. In der Zeit erschien ein Nettelbeck-Nachruf und die vierteilige Serie »Die Kinder von Sergeant Pepper und Mary Jane – Bericht einer Reise nach London«.

Um dieselbe Zeit muss es gewesen sein, dass die Gebrüder Peter – »Leo« – und Uli Leopold ein kleines Appartement in der Münchner Klopstockstraße bezogen, das schnell zum Treffpunkt und Wohnort von ehemaligen Schul- und Internatsfreunden wurde. Peter, am 15. August 1945, und Uli, am 18. September 1948 in Bückeburg als Söhne einer wohlsituierten Akademikerfamilie geboren, besuchten das Internat Lauingen, später dann Marktoberdorf, wo auch Falk Rogner und Chris Karrer die Schulbank drückten. Als Peter Leopold mit einer Fünf in Musik aus Marktoberdorf rausfliegt, kommt er auf eine Privatschule nach Nürnberg.

Dort trifft er einen weiteren Amon-Düül-Anwärter, Christian »Shrat« Thiele, am 29. März 1946 in Unterpolling als Sohn eines Fabrikbesitzers geboren. »In dieser Privatschule in Nürnberg, da saß ich ganz vorn, der Peter ganz hinten. Aus irgendeinem Grund guckte der mich immer so an und ich guckte zurück. Wir hatten damals einen von diesen transportablen Plattenspielern. Mit dem lagen wir immer auf dem Aufmarschgelände von Nürnberg und hörten den ganzen Tag Avantgarde-Jazz. Oder gingen mit ganz großen Taschen durch die Plattenläden von Nürnberg. Da war noch ein Typ dabei, der ist heute Assistent des Bundespressechefs in Bonn. Das letzte Jahr vor dem Abi kam ich dann in eine staatliche Schule nach Taufkirchen, der Peter musste nach Straubing. Und am Wochenende trafen wir uns immer alle in der Klopstockstraße«. Chris und Falk besuchten zu jener Zeit bereits die Klasse für Malerei von Waki Zöllner an der Münchner Kunstakademie.

Chris Karrer, am 20. Januar 1947 in Kempten als Sohn eines Karosseriebaumeisters geboren, hatte soeben die Bundeswehrmusterung hinter sich gebracht: »Da hab ich erst mal einen Trip eingeschmissen, mich dort total ausgezogen und Liegestützen gemacht. Da meinte der Typ, ›ziehen Sie sich doch erst mal wieder an, Sie sind eh farbenblind‹. Und dabei wollte ich doch Zeichenlehrer werden!

In München wurde grade das Jazzlokal Domicile eröffnet. Ich war zuvor schon immer im Tabarin bei Sessions eingestiegen und dachte, im Domicile ginge das auch. Da hab ich mein Saxophon eingepackt und bin hin, stellte mich zu Don Menza und Joe Haider, doch plötzlich hieß es: ›Hau ab!‹ Später bekam ich dann Lokalverbot.« Im Domicile lernte Chris den Jazzmusiker Olaf Kübler, später Produzent und Manager von Amon Düül II, kennen. »Den hab ich unheimlich bewundert. Ich dachte mir, das ist ein Gipfel, auf den ich nie hochkomme. Und ich hab damals wirklich geübt. Bin in der Eiskälte in meiner Ente an der Isar gehockt und hab mit klammen Fingern John Coltrane geübt.«

Einer, der nach jahrelanger Aktivität in der deutschen Szene nie ein Gefühl der Sesshaftigkeit und Zugehörigkeit entwickelte, ist Falk U. Rogner, am 14. September 1943 in Liegnitz geboren. Bis zur Flucht in den Westen war sein Vater Gutsverwalter, später arbeitete er als hoher Beamter im Umweltschutzamt. Falk reiste mit seinen Eltern von Asien bis Afrika, bis er schulpflichtig wurde. Auch bei Amon Düül blieb er immer der stille Außenseiter. Während die anderen Free-Jazz-Fans waren, hörte er zu Hause klassische Musik und nennt als erstes Musikerlebnis Elvis Presley und »Tutti Frutti«.

Neben den Internatsfreunden trudelten in der Klopstockstraße außerdem Rainer Bauer, seine Frau Ella und das Töchterchen Romana aus Wien ein, sowie der Fotografinnen-Sohn Helge Villander mit Frau Angelika und Sohn Joris aus Augsburg. Zusammen entdeckte man die Musik der Doors, von Jefferson Airplane, Pink Floyd, Cream und Hapshash and The Coloured Coat, deren knallrote LP Featuring The Human Host and The Heavy Metal Kids auch von anderen als wesentlicher Einfluss genannt wird. Zwangsläufig führten die zahlreichen kreativen Talente und Ideen zu einer Art Multi-Media-Gruppenkonzept »Lightshow, Film, Fotografie, Musik«. Und sie alle fuhren, etwa zur gleichen Zeit wie ich, zum ersten Mal nach London. Da sich keiner mehr genau an die Reise erinnern kann, hier aus einem Gedächtnisprotokoll:

Shrat: »Am Wochenende sammelte sich langsam alles zusammen und dann fuhr eine Abteilung nach London. Wer war da eigentlich dabei?«

Peter: »Du warst dabei!«

Chris: »Und Falk und Angelika auch. Wir wollten meinen Bruder zurückholen, oder?«

Shrat: »Bei so einer ominösen Adresse, Nottinghill Gate-was-weiß-ich. Ein Wochenende, um mal schnell so eine Flasche Trips abzuholen.«

Peter: »Wo ich im Schlafanzug vor dem Haus saß?«

Chris: »Und das Steuerrad vom Auto wie Gummi wurde?«

Shrat: »... ja, und dann wieder zurück, und jeder erst mal an die Flasche wollte ...«

Peter: »Und Uli alle zwei Minuten ausstieg und sagte, die Bullen sind hinter uns her, voll auf Trip!«

Chris: »Da war doch dieses Wahnsinnsfest im Roundhouse, wo die Animals und dieser Sänger von Family ...»

Peter: »Jedenfalls waren da dreitausend Leute voll auf dem Trip!«

Chris: »Allen Ginsberg und Yoko Ono, die Nacht der Nächte ...«

Shrat: »Freitag nach England, Sonntag zurück. In der Klopstockstraße eingelaufen. Damals haben die Zöllner noch immer nach Zuckerstückchen die Koffer durchsucht ...«

Chris: »... und Räucherstäbchen wurden auch gleich beschlagnahmt.«

Shrat: »Dann habe ich angefangen, Bongos zu spielen. Die Klopstockstraße war dann allmählich überfüllt und wir flogen da raus. Und dann entschloss man sich, nachdem Chris auch aus seiner Wohnung rausflog, dass man gemeinsam wohnt. Da zogen wir in die Prinzregentenstraße.«

Das war aber bereits Ende des Jahres. Während die zukünftigen Mitglieder der ersten Acid-Band Deutschlands bereits den Aufstand probten, während allerorts die Leute von einer Aufbruchs- und Umbruchsstimmung ergriffen wurden, versuchte ich meine ersten Artikel an eine neue Musikzeitschrift namens Hit zu verkaufen. Zum ersten Mal lernte ich ein System kennen, das später die gesamte deutsche Musikszene bis auf den heutigen Tag prägen sollte. Die Geschäftemacher in Sachen Jugendkultur warfen mit Begriffen wie »Idealismus«, »Risiko« etc. um sich und impften ihren Mitarbeitern und damit auch dem Publikum die Prämisse ein, dass man damit natürlich kein Geld verdienen dürfte. Offiziell zahlten ja sogar sie selbst nur drauf. Ironischer konnte es nicht zugehen. Während man sich gegen die Ausbeutung der Arbeiter durch die Konzerne zur Wehr setzte, wurde man mit der Verlockung, selbst an der Verbreitung der Gegenkultur mitzuarbeiten, nicht minder ausgebeutet. Natürlich fiel auch ich darauf rein, glücklich, hin und wieder eine Geschichte, die ich persönlich für wichtig hielt, unterzukriegen.

Auch mit der Heimgemeinschaft hatte ich mich wegen der »hässlichen, schrillen Affenmusik«, die unablässig aus meinem Zimmer dröhnte, total überworfen. Gemeint waren natürlich die Mothers, Cream, Pink Floyd und eben jene kompromisslose, legendäre rote Hapshash-LP, über die ich damals schrieb, »eine Schallplatte kann vollkommen rot sein und trotzdem überhaupt nichts mit Mao oder dem Kommunismus zu tun haben«. Jedenfalls machte die vom Establishment noch immer angefeindete Popmusik plötzlich eine interne Spaltung durch. Sich die Beatles, Kinks oder gar Rolling Stones anzuhören, war für manche Leute genauso schlimm, wie für Frank Sinatra zu schwärmen. Nächtelang trieb ich mich in den Clubs Big Apple und PN an der Leopoldstraße herum, suchte nach neuen Verbündeten, fand sie nicht. Ein neues Gefühl, das des Außenseiters, machte mich ruhe- und rastlos, unduldsam und ungerecht. Die Bürgerlichen waren mir zu oberflächlich, desinteressiert, die Intellektuellen zu überlegen, selbstgefällig, theoretisch. Es musste doch irgendwo dazwischen eine versöhnende, kreative Verbindung geben!

Der Oktober wurde wohl der heißeste Monat des Jahres 1967. In San Francisco fand ein Trauermarsch mit symbolischem Begräbnis statt, bei dem Tausende von Hippies gegen die Vermarktung ihrer Ideen und das lakonische Endzeitgeraune »Die Flower-Power-Bewegung ist tot!« protestierten.

Hätten wir damals die Informationen darüber so schnell wie heute bei der Hand gehabt, wäre unserer Szene dann ein ähnlicher Weg erspart geblieben? Zwei Tage später, am 8. Oktober, wurde die Tagung der Gruppe 47 durch ein Go-In von Studenten gesprengt; sie überredeten die Mitglieder zu einem Boykott gegen den Springer-Konzern. Und in München wurde das erste Music-Action-Center nach angloamerikanischem Vorbild eröffnet, das Blow Up, Elisabethplatz. »Monatlich wechselnde Bands, Gastspiele, Go-Go-Girls, Diaprojektionen, Discjockeys der Piratensender.« Die feierlich-pompöse Einweihung wurde von dreitausend stürmenden Jugendlichen empfindlich gestört. Nun hatten die bürgerlich bis weniger bürgerlich veranlagten Geschäftsunternehmer eine neue Marktlücke entdeckt. Und wir waren tatsächlich noch so gutgläubig und nahmen an, sie wären bekehrt worden, zu uns übergelaufen.

Ich hab dieses Event übrigens nicht mitbekommen, denn da arbeitete ich auf der Frankfurter Buchmesse, wo renitente Studenten für den »Messekrach« sorgten. Zündstoff für Demonstrationen gab es genug: die Ermordung Che Guevaras, das Militärregime in Griechenland, die Springer-Stände. Unsere Nachbarn waren von Konkret und standen bei Besuchern und Presse hoch im Kurs. Denn täglich wurde das Messe-Extrablatt als Flugblatt verteilt, mit dem die Konkret-Redakteure ständig aktuellen Diskussionsstoff unters Volk brachten. Abends traf man sich im Club Voltaire. Ich gesteh’s, meist saß ich nur wegen der Musik dort. Irgendwann mal verschreckte dann noch Peter Handke mit einer Dichterlesung zu Popmusik die konservativen Buchhändler. Das kann aber auch ein Jahr später gewesen sein. So genau weiß ich das nicht mehr. Jedenfalls wurde die Buchmesse von Provos, Hippies, Spontis und anderen Fraktionellen zu einem permanenten Spektakel umfunktioniert.

Ende des Monats wurde ich abermals vom Literarischen Kolloquium nach Berlin eingeladen. Man wollte über Produktionsmöglichkeiten für die vorliegenden Drehbücher reden. Ich saß meist im Kino. Die Freunde der deutschen Kinemathek führten von Helmut Costard, Marquard Bohm u. a. Kurzfilme vor, veranstalteten eine Woche des New American Cinema. Nachts zog ich durch die schon damals lebendige Berliner Kneipen- und Diskothekenszene. Besonders beliebt die drei Edens – Big Eden, Kurfürstendamm, Verzehrbon zwei DM, gemütlich, mit englischen Discjockeys und farbigem Flackerlicht, bis 3 Uhr geöffnet. Nicht weit davon der Eden-Playboy-Club, Eintritt eine DM, für Mädchen solo umsonst (Playboyclub!), Bikini-Go-Go-Girls, Swimmingpool, Showtanzen, Trickfilme, Spielautomaten, bis 5 Uhr morgens. Und der Old Eden Saloon, Damaschkestraße, Verzehrbon zwei DM, mehrere Räume mit verschiedener Musik, Soul, Beat, Jazz. Zwischen überlebensgroßen Aktfotos stehen Kakao-Automaten, Spielautomaten, Fernseher, Satelliten-Imitationen als Biertransporter. Man kann ruhig die gewagtesten Klamotten anziehen, sie fallen nämlich gar nicht mehr auf. – Besonders »in« war grade das Riverboat, Hohenzollerndamm, vier Bands gleichzeitig plus Diskothek. »Berlins größtes Action-Center, Bullaugen, Teakholzwände, riesige ineinander verschachtelte Räume. Für Frei- und Frischluftfanatiker gibt es eine Terrasse, wo getanzt werden darf. In der kleinen Bar kann man sich mit Würstchen, Sandwich oder Espresso aufmöbeln. Alles, was beatig, popig, opig, munter, bunt und heiter, gammlig oder elegant großes Treiben erleben möchte, sollte die ›Liftfahrt‹ unternehmen«.

Alles schien möglich. In Berlin hatte ich einen Industriefilmemacher aus Hamburg kennengelernt, der träumte von einem überregionalen Multi-Media-Verband für Musik, Film, Kunst, Werbung unter dem Motto »das permanente Happening«. Mein Bruder hatte jemanden getroffen, der Deutschlands ersten Boutiquen-Führer für Insider drucken wollte. Ich jobbte derweil in Münchens erster Boutique Daisy als Aushilfsschneiderin. Frei nach dem Vorbild von Mary Quant. Was fehlte, war eine »progressive Modezeitschrift«. Fand ich jedenfalls. In München wurde die Hochschule für Film und Fernsehen eröffnet, Hamburger Studenten lieferten anlässlich einer Uni-Feier die Parole »Unter den Talaren — Muff von 1000 Jahren«. Das war, nach »Traue keinem über 30« der zweite Spruch des Jahres. Ebenfalls im November wurde als erste überregionale alternative Musikzeitschrift Amerikas der Rolling Stone gegründet. In Berlin kommt es bei der Prozesseröffnung gegen den Kommunarden Fritz Teufel erneut zu Demonstrationen. Ich erhalte kurz darauf zwei Absagen von Fernsehsendern, denen ich mein Drehbuch angeboten hatte.

Die Engländer feierten ihr Weihnachtsfest mit der Fernsehausstrahlung von Magical Mystery Tour, dem ersten Film, den die Beatles selbst gedreht hatten.

Das Jahr, das uns Flower Power und APO, Op-Art und Twiggy, The Mothers Of Invention und A Whiter Shade of Pale, das Filmförderungsgesetz und die erste Herzverpflanzung, Klaus Lemkes 48 Stunden bis Acapulco und May Spils Zur Sache, Schätzchen, den Begriff male chauvinism und die Heirat von Elvis Presley, die Abiturrede »Erziehung zum Ungehorsam« und das Telekolleg im Bayerischen Fernsehen, Marshall McLuhans »Magische Kanäle« und das Schlagwort von einer »Talsohle« in der Wirtschaft gebracht hatte, war vorbei. Doch die eingeläutete Sturm-und-Drang-Zeit hielt sich nicht an den Kalender. Keine Neujahrsansprachen, keine guten Vorsätze und pädagogischen Mahnungen konnten uns aufhalten. Wir hatten uns entschlossen, freiwillige Outlaws zu werden, nach dem Motto der neuen Rolling Stones-LP »Their Satanic Majesties Request«:

»It's so very lonely

you’re two thousand light years from home.«

Tanz der Lemminge

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