Читать книгу Tanz der Lemminge - Ingeborg Schober - Страница 4
VORWORT
ОглавлениеAls dieses Buch 1979 erschien, richteten musikalische Drei-Akkord-Wunder ihre Sex Pistols und No-Future-Parolen gegen die eingeschlafene, satt und bequem gewordene, bieder-langweilige Musikszene. Generationsablöse und unversöhnliche Konfrontation zwischen zerschlissenem Love and Peace und aggressivem Hate and War. Trotz eines gleichzeitig leisen (und leicht verkaterten) 60er-Revival inklusive nostalgischer Rückblicke und Zehn-Jahres-Jubiläen nicht gerade der günstigste Zeitpunkt, ein Buch über die chaotisch-bonbonbunte Flower-Power-Zeit, Underground, Protest und Happening, Anti-Establishment, politische (bereits gescheiterte) Utopien und die Anfänge einer eigenständigen deutschen Rockmusik zu veröffentlichen. Schließlich sangen hierzulande die Fehlfarben 1980: »Keine Atempause, Geschichte wird gemacht, es geht voran«, aber auch »die Schatten der Vergangenheit: wo ich hingeh, sind sie nicht weit ... die Gegenwart ist auch nicht berauschend ... ich weiß immer noch nicht, wer ich bin.« Vielleicht haben sich deshalb erstaunlich viele in diesem Buch wiedererkannt. Und das hörte auch nicht auf, als sich das Karussell der neuen Moden und Trends immer schneller drehte und sich die musikalische Raubritter-Jugend hemmungslos der »verpönten« 60er- und 70er-Kultur bemächtigte. Entsprechend häuften sich Anfragen nach dem »sagenhaften Kultbuch«, und die Interessenten wurden immer jünger. Auf manchem Flohmarkt sollen vergilbte Exemplare des kleinen Taschenbuches für bis zu 75 Euro gehandelt worden sein.
Grund genug, Tanz der Lemminge neu aufzulegen. Aber nicht der Einzige. Ein anderer ist das generell gestörte Verhältnis zur Vergangenheit und Geschichte hierzulande — vielleicht deshalb, weil Vergangenheit bei uns (schon wieder) automatisch mit Vergangenheitsbewältigung gleichgesetzt wird. Offensichtlich haben wir dadurch auch die Fähigkeit zur kulturellen Kontinuität verloren. Wir kappen alle naselang unsere Vergangenheit und damit auch die Wurzeln unserer (Sub-)Kultur. Nur so kann ich mir erklären, dass man meiner — also der sogenannten »68er« — Generation weder ihre Irrtümer (= Jugendsünden) verzeiht, noch, dass auch sie älter wurde — und dabei nicht unbedingt klüger. Aber es war nun mal eine so intensive und innovative Zeit, dass ich persönlich manchmal das Gefühl habe, dass ich (und vielleicht viele andere auch) mein restliches Leben brauche, um mich davon zu erholen — auch von den Enttäuschungen, dem eigenen Versagen.
Derzeit schlägt also der Zeitgeist-Pegel plötzlich wieder retour und die Spät-60er und Früh-70er boomen mit Schlaghosen, Plateausohlen, Fransenjacken, Häkelhemdchen, Batikdruck, Lightshows, Trance-Dances, Sitzlandschaften, Exotika, Post-Psychedelic-Videos und anderem Firlefanz, San-Francisco-Underground-Raritäten werden auf CDs neu veröffentlicht, 60er-Dinos wie die Doors, Jimi Hendrix, die Mothers Of Invention, Cream oder Grateful Dead sind wieder »in«. Und Amon Düül II treten wieder live auf — auf Festivals. Ach ja, Festivals. Diesen Sommer wurden sie pressemäßig ausschließlich mit Woodstock verglichen. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Zumal dieses Revival wohl eher nur aus oberflächlicher, retrospektiver Verpackung besteht. Dabei verblassen die wichtigen Ereignisse und Namen, vor allem aber werden die Zusammenhänge verfälscht. Schließlich kann man sich heute jedes beliebige Image kaufen — vom Freizeit-Hippie mit Peace-Zeichen und Psychedelic-Brevier bis zum Wochenend-Hell's-Angel samt Harley Davidson und Cowboy-Klub-Mitgliedschaft. Doch der Bewusstseinszustand, die öffentliche Meinung und die sozial-politische Lage ist fast schon wieder beim miefig-muffigen Kleinbürgergeist der 50er-Jahre gelandet — siehe Paragraf 218, siehe Sicherheitsdenken, siehe ausschließlich ökonomisch orientiertes Denken. Selbst dem bunten Zeitgeist fehlt es am Spielerischen, Bunten, Experimentellen. Wie singt der alterslose und distinguierte Rock-Lyriker Leonard Cohen mit überzeugender Vehemenz so richtig: »Things are going to slide in all directions, won’t be nothing, nothing, you can measure anymore ...« Zeit, sich dieser Dekade endlich frei von Medien-Mythen, Zeitzeugen-Legenden und nostalgisch-romantischem Veteranengeschwätz zu nähern.
Folglich braucht dieses Buch keine Verjüngungskur, es ist mit der Zeit gewachsen und wichtiger geworden. Damit waren alle Überlegungen und Diskussionen vom Tisch, ob ich es auf den neuesten Stand der Dinge bringen sollte, also bis zum heutigen Tag zu aktualisieren, vor allem, was die Band-Geschichte der Amon Düül anbelangt. Das Amon Düül-Buch war vor fünfzehn Jahren ein naiver Versuch, die Zeit festzuhalten. Und er ist merkwürdigerweise gelungen. Diese Naivität lässt sich nachträglich nicht mehr herstellen. Schon deshalb ist dieses Buch für mich persönlich sehr wichtig. Alles, was ich heute über die Düüls und die Zeit und mich schreiben würde, würde viel zu abstrakt ausfallen.
Wir haben uns also für einen Reprint entschlossen, um das Zeitdokument — mit einigen Veränderungen — so zu belassen, dass es für sich selbst spricht. Und zwar mit allen widersprüchlichen Daten, Fakten und Aussagen, weil jede neue Interpretation von einer anderen Seite nur meine damalige Erkenntnis, dass einige Legenden immer weiter bestehen werden bestätigt: »Selbst mir ist es trotz jahrelangem Kontakt zu den Musikern nicht gelungen, all die Unstimmigkeiten zu entwirren.« Doch Tanz der Lemminge hat einen neuen Untertitel, weil ich schon damals mit »Amon Düül — eine Musikkommune in der Protestbewegung der 60er-Jahre« nicht einverstanden war. Schlichtweg deshalb, weil er nicht stimmte. Das Buch beginnt 1967 und endet 1978. Vieles, was angeblich die 60er-Jahre prägte, begann oder geschah eigentlich erst in den 70ern. Noch so ein historisch inzwischen festgemachter Irrtum. Außerdem mussten wir etliche Songtexte aus rechtlichen Gründen kippen oder verkürzen. Aktualisiert habe ich im »Epilog« die heutigen Berufe der wichtigsten Hauptdarsteller und selbstverständlich die Diskografie. Gekürzt habe ich die Aussagen diverser öffentlicher Personen aus der deutschen Musikszene in »Die Zukunft ist heute.« Im »Epilog« erfährt der Leser, wie dieses Buch damals zustande gekommen ist und kann sich danach vorstellen, welche Probleme eine Aktualisierung aufgeworfen hätte.
Was nach den 70er-Jahren passierte, und damit meine ich nicht nur Amon Düül, sondern die neuere (musikalische) Geschichte Deutschlands, lege ich den jungen Schreibern ans Herz, falls sie für so was noch Muße, Zeit und Interesse haben. Weil Stillstand Rückschritt ist, wie Farin Urlaub von den Ärzten meint. Weil der Tanz der Lemminge in der Jugendszene nie aufhört — und eine/r ihn immer begleiten sollte. Weil es immer wieder Musiker gibt, die das Lebensgefühl ihrer Generation auf einen Nenner bringen, wie Element Of Crime 1993 mit »Immer unter Strom«:
»Wer sich bewegt, ist nicht zu fassen, ...
Wo wir war'n, war immer alles fade
wo wir hinfahr'n wird es wunderbar ...
Immer unter Strom
Immer unterwegs und niemals zu spät.«
Was hoffentlich auch auf dieses Buch zutrifft.
Ingeborg Schober
München, im November 1993