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Die Medien erwachen

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Als Buchhändlerlehrling im Szczesny-Verlag, München, lernte ich die Autoren Bertrand Russell, A. S. Neill, die Autoren der Club Voltaire-Reihe und ihre Bücher kennen, war als Mitglied der Humanistischen Union dementsprechend human-liberal orientiert. Mit 180 DM Lehrlingsgehalt wohnte ich in einem Jugendheim der Arbeiterwohlfahrt Rädda Barnen, kurz Schwedenheim genannt, in einem 1 ½ mal 2 Meter großen Zimmer bei 189 DM Miete. Die meisten der ca. 200 Heimbewohner waren, wie ich, Wohlfahrtsfälle in einem Wirtschaftswunderland. Wir fühlten uns von der Wohlstandsgesellschaft betrogen, und das verband uns – Lehrlinge, Schüler und Studenten. Und dann war da noch die Popmusik!

Auch wenn wir die Texte der Rolling Stones, Beatles, der Animals und Kinks nicht richtig verstanden, wir wussten, um was es ging. Es ging um uns, um unsere Probleme. Es war unsere Sprache, unsere Musik. Da begannen meine intellektuellen Freunde gerade diese Musik für sich zu entdecken. Dabei geholfen hat ihnen sicher der rührige und wohlinformierte Uwe Nettelbeck — freier Journalist, Autor und Produzent der Gruppe Faust — mit seinen Textinterpretationen und Musikanalysen, mit denen er nicht nur die Musik der Beatles auf das Niveau der »Neuen Modernen« hob. So war in Aspekte im November folgendes in einem Artikel über »Pot Music« zu lesen: »Dann kam Revolver. In Tomorrow Never Knows, dem letzten Titel des Albums, zitierten John Lennon und Paul McCartney eine Zeile aus The Psychedelic Experience, einer Art Michelin für LSD-Trips, den die Havard-Drop-outs Timothy Leary, Ralph Metzner und Richard Alpert im August 1964 in New York veröffentlicht hatten: Turn off your mind, relax and float downstream ... Das war das Signal.«

Die bis dato als trivial und proletarisch verpönte Popmusik wurde in einem elitären Kreis schick und gesellschaftsfähig. Auch die konservativen Medien stellten sich allmählich auf die neuen Bedürfnisse ein. Am 5. Juni 1967 startete der Bayerische Rundfunk nach etlichen Vorlaufsendungen die erste Jugendmusiksendung, den täglichen Club 16. Georg Kostya, Discjockey der ersten Stunde, erinnert sich:

»Mit ›Espresso um Vier‹ hat es im April ’65 begonnen. Da gab’s noch gar nichts, weder eine Musiksendung, noch Plattenbesprechungen. Gespielt wurden in jeder Sendung natürlich die Beatles, dann Musik von Elvis Presley, Tom Jones, Sandie Shaw, Petula Clark, Bill Haley, den Rolling Stones, Searchers und dazwischen Dean Martin. Man kann sehen, dass es so beatig nicht gewesen ist, da war’s noch sehr, sehr schütter. Wir haben uns am AFN orientiert, alles sehr schnell, mit viel Dampf und Gags. Da alles noch vom Band gespielt wurde, mussten wir manchmal wochenlang warten, bis eine Platte auf Band umgeschnitten war und gespielt werden konnte. Dann kam im Jahr 1966 der Industrieboykott, wo sich der BR weigerte, mehr an die Plattenfirmen zu bezahlen. In der Zeit fuhren wir platten-los, holten deutsche und englische Bands ins Studio, veranstalteten einen Beatwettbewerb für bayerische Bands, den die Improved Sound Limited, heute Condor, gewannen.

Als dann auch noch der österreichische Rocksender Ö3 angekündigt wurde, war’s klar. So konnte es nicht weitergehen. Entweder man verliert die Hörer oder man macht selbst etwas. Der damalige Leiter des Jugendfunks, Reinhard W. Schmidt, fuhr mit seinem Redakteur Rüdiger Stolze zu Radio Luxemburg, um darüber eine kritische Sendung zu machen. Aber sie waren von der Lebendigkeit und Spontaneität, die dort herrschte, so beeindruckt, dass es eine positive Sendung wurde. Daraufhin wurde für den BR die erste Discjockey-Anlage konzipiert. Die erste Sendung lief am Montag, wo Werner Götze nur Sergeant Pepper spielte.«

Auch ich hörte Club 16 — der 1978 in die Nachfolgesendung Zündfunk-Club integriert wurde —, ohne zu ahnen, dass ich sieben Jahre später selbst dort als Discjockey hinterm Mikrofon sitzen würde, mehr aber noch Radio Luxemburg, denn an die neuesten Informationen und Platten war schwer ranzukommen. Zwar hatte ein gewisser Rainer Blome Anfang des Jahres eine neue Musikzeitschrift gestartet, Sounds, aber davon wußte ich nichts. Die deutsche Musikjournaille beschränkte sich nach wie vor auf Bravo. Am ehesten fand man noch in Konkret seine eigene Stimmung widergespiegelt. »Swinging London«, was steckte wirklich dahinter? Ich wollte es genau wissen, an Ort und Stelle erleben. Dazu fehlte erst mal das Geld. Durch meinen Bruder, freier Mitarbeiter der Zeitschrift Filmkritik, erfuhr ich von einem Drehbuchwettbewerb des Literarischen Kolloquiums, Berlin. Ich reichte ein Exposé für einen Kurzfilm ein und wurde Anfang Juli überraschend zu einem Arbeitsgespräch nach Berlin eingeladen.

In der vornehmen Villa am Wannsee lernte ich Uwe Brandner, Roland Klick und George Moorse kennen, fühlte mich aber unter den literarisch-cineastisch Älteren als Außenseiter. Dafür erlebte ich in Berlin die fieberhafte Aktivität der Jungen, die ganz anders als in München zwischen Pop und Politik eine eigene Lebensweise ausprobierten.

Etwa zur gleichen Zeit feierten die Popmusik-Fans ihr erstes großes Festival, das Monterey International Pop Festival, bei dem u. a. Janis Joplin & The Big Brother, Jefferson Airplane, Steve Miller Band, Country Joe & The Fish, Quicksilver Messenger Service, Jimi Hendrix, The Who, Mamas & Papas, Otis Redding, The Butterfield Blues Band und The Electric Flag auftraten.

In New York hatten sich 4.000 Provos im Tomkins Square Park zu einem Smoke-In getroffen und vor den Augen der Polizei drei Kilo Marihuana verraucht, die Beatles hatten in einer weltweiten Live-Fernsehübertragung »All You Need Is Love« gesungen, von den Doors erschien die erste Single »Light My Fire«.

Begeistert kam ich zurück, mit einem Stipendium in der Tasche, um das Drehbuch zu schreiben.

Dies Geld sollte das Grundkapital für alles werden, was ich ab da machte. Die erste Schreibmaschine wurde davon finanziert und versetzte mich in einen Schreibrausch, durch den ich mich immer mehr von der lethargischen Heimgemeinschaft absonderte. Und mit dem Rest kaufte ich ein Flugticket nach London, das mir ein befreundeter Jurastudent über Studenten-Reisen billig besorgte. Er war es auch, der mir das minimal nötige Reisegeld lieh. Und auf seinen Namen flog ich am 14. August in einer Chartermaschine nach London. Es war der Start in ein neues, turbulentes, unbekanntes Leben.

Tanz der Lemminge

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