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Notstandskinder

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»Wir haben uns bemüht,

diese(s) Märchen so rein wie möglich aufzufassen ...

Kein Umstand ist hinzugedichtet oder

verschönert und abgeändert worden.«

Brüder Grimm

Die Amon Düül hatten sich in der vornehmen Wohngegend an der Prinzregentenstraße einquartiert. Die Musiker-Fraktion der Multi-Media-Gruppe, Chris Karrer, Peter und Uli Leopold und Rainer Bauer, übten ein paar Häuser weiter in einem Keller unter der Aral-Tankstelle. Ihre Erfahrungen mit dem Kommuneleben beschrieben sie in einem Gespräch:

Shrat: »Da residierten wir in der Prinzregentenstraße, wo Ärzte und Rechtsanwälte wohnen. Es war die Zeit, wo man total ausflippte, die Haare immer länger wurden und man nur noch indische Gewänder trug. Wenn man unten die Straße entlangging, öffneten sich oben immer die Fenster und die Leute schrien: ›Vergast gehört ihr!‹ Diese Tour lief da. Das war auch die Zeit, wo es mit den Ideologien losging. Alles flippte etwas ins Kommunegehabe. Alles gleich, alles für alle!«

Chris: »Da hat man nur Leute reingelassen, die irgendwas wie Kopfstand oder so konnten, eine bestimmte Begabung hatten. Man hat sich so echte Hausnarren gehalten.«

Shrat: »Z. B. kam da so ein Engländer und blieb sechs Wochen. Den kannte keiner. Weiß auch nicht mehr, wie der hieß. Der saß sechs Wochen lang immer im Eck und hat nur riesige Butterstullen mit Marmelade drauf gegessen, kochte Tee und sonst nichts! Rührte sich nicht und wurde von allen respektiert.«

Chris: »Ich weiß noch, eines Tages kamen Shrats Mutter und sein Bruder an und wollten ihn polizeilich abführen lassen. Da haben wir ihn versteckt.«

Shrat: »Ich bin ja offiziell nach München gekommen, um Soziologie zu studieren. Und niemand ahnte, was da mit meinem angesparten Geld passierte, dass ich meine und anderer Leute ›flips‹ damit finanzierte. Und nachdem das dann zu Hause durchsickerte ...«

Chris: »Das war eine ›straighte‹ Familie, Zementwerk und so ...«

Shrat: »Damals also, von der Ideologie her, die man so als Obergerüst konstruiert hat, war noch alles möglich: Film, Fotografie, eben Multi-Media! Und Helge immer als Oberpriester. Nie Geschirr abspülen, aber immer sehr erleuchtet! Freud, Nietzsche und Castaneda gelesen! Und dann wurden im 3. Stock die Trips eingeworfen und die ganze Nacht auf volle Lautstärke die erste Anlage, Solton, die ich angeschafft hatte, ausprobiert.«

In einem Interview, das Peter Leopold Ende 1977 im NDR Klaus Wellershaus gegeben hat, beschrieb er die Entstehung der Band so: »Die Ideologen kamen und sagten, jetzt müssen alle Musik machen. Es muss Musik gemacht werden von allen – alle dürfen, die irgendwie können. Das war erst mal ein gesellschaftliches Bedürfnis wie zusammen fernsehen, reden oder ins Kino gehen. Dann haben wir das versucht, auf die Bühne zu transponieren. Aber die Bühne schafft halt doch Abstand. Auf eine Bühne gehört eben nur das, was sich entsprechend vom Durchschnitt abhebt. Wenn dann eine Situation eintritt, wo im Publikum zwanzig Leute sitzen, die besser Gitarre spielen können als der Gitarrist da oben, dann können die Leute unten schon abgetörnt werden. Doch damals dachten wir, das ist ein gutes Modell, das sollte man durchziehen. Und mit der damaligen Einstellung hat man’s eben auch eine Zeitlang durchziehen können.« Wie nachhaltig dann der erste Auftritt der Amon Düül bei einer dieser Notstand-Demos auf die anwesenden Leute gewirkt hat, von denen manche prompt darauf ihre bürgerlich-vorprogrammierte Karriere aufgaben, zeigen zahlreiche Interviews, die ich mit Augenzeugen führte.

Da war z. B. Peter Kaiser, der Theaterwissenschaft studierte und nebenher schon Assistenzen bei Filmemachern wie Peter Fleischmann (Herbst der Gammler) machte:

»Chris kannte ich aus dem Café Nest. Er war auf der Kunstakademie. Renate arbeitete im Büro und ich saß im Nest und hab mit Thorwald Proll ..., der später dann bei Baader landete, immer nur über das Sprengen geredet. Z. B. wollten wir gern das Siegestor sprengen. Wir fühlten uns als Anarchisten, aber nur verbal. Und dann sind wir mal in Chris’ alter Ente zu einer Demonstration gefahren. Chris hat immer indische und asiatische Musik gehört, ist total drauf abgefahren. Ich hab damals überhaupt kein Verständnis für so etwas gehabt und gedacht: Der spinnt! Wir sind in den Hofgarten gefahren, da war so eine amerikanische Geburtstagsfeier, und dort haben wir dann aus Protest mit Bonbons geworfen. Und dann haben sie uns verhaftet. Das war ein Spiel, das wussten wir ja. Da wurden dann die ›Bonbonschmeißer‹ abgeführt. Das war eine überlegte Aktion.«

Aus Blumen und Bonbons wurden Bomben. Aus den Multi-Medias wurde Amon Düül.

»Ich war damals beim SDS. Ein unheimliches Erlebnis war für mich, als die Uni zum ersten Mal besetzt wurde. Da war der erste Auftritt der Ur-Düül, das war ein wahnsinniges Erlebnis. Als wir die ganze Vorhalle besetzt hatten, waren die plötzlich da – mit den Kindern, der Uschi Obermaier, dem Helge, da sind sie zum ersten Mal überhaupt als Kommune aufgetreten. Das war alles sehr friedlich, die durften sogar ihre Verstärker in der Vorhalle der Uni aufbauen. Und wir sind fast ausgeflippt. Das war plötzlich etwas ganz anderes als das, was man sonst gehört hat. Dieses Ereignis gab wohl den Ausschlag, dass Amon Düül sich immer ein wenig politisch verstanden hat oder von manchen als politisch hingestellt wurde. Weil sie bei diesem riot, diesem mini-kleinen Aufstand umsonst gespielt haben und damit als Kommune an die Öffentlichkeit getreten sind. Da fing man an, überall Kommunen zu bilden.« Später wurde Peter Kaiser dann auch für einige Zeit der Manager von Amon Düül.

Die Bandmitglieder selbst können sich heute nur noch vage an ihren ersten Auftritt erinnern, wissen nicht einmal genau, wer nun eigentlich alles dabei war und Musik gemacht hat. Mit ziemlicher Sicherheit waren anwesend Chris, Peter, Uli, Rainer, Falk, Shrat, Ella, Angelika, die Kinder Romana und Joris. Ob Renate »Krötenschwanz« Knaup zu jener Zeit schon auftrat, weiß keiner genau. Sie war gerade erst zur Kommune in der Prinzregentenstraße gestoßen. Wie auch die anderen war sie im Allgäu geboren, am 1. Juli 1948 in Sonthofen, wo ich später mit ihr die erste Volksschulklasse besuchte. Als die Internatsfreunde sich in München sammelten, war sie als Au-Pair-Mädchen in London, kam dann über Al Gromer, ein ebenfalls aus Sonthofen stammenden Sitarspieler, mit Amon Düül in Kontakt, während sie anfangs noch ihr Geld im Büro verdiente.

Der Name Amon Düül entstand aus einem ägyptischen und türkischen Wort für Sonnengott: »Düül, na ja, das ist ein Wort, das bisher nie dagewesen ist, mit zwei ü, weder im Deutschen, noch im Englischen oder Japanischen oder sonst wo«, so die Band 1969 in einem Interview mit Underground. Der damalige Architekturstudent und heutige Filmverleiher und -produzent Gerd Stein bezeichnet den ersten Düül-Auftritt als Impuls für ein neues Leben. Er arbeitete damals nebenbei in einem Architekturbüro: »Ich war auf der Akademie gewesen und konnte schöne Zeichnungen machen, deshalb hatten die mich eingestellt. Das sah so künstlerisch aus! Ich wurde als Hofnarr gehalten.« Irgendwann flog er raus, kam in ein anderes Architekturbüro: »Da sollte ich eines Tages eine sinnlose Korrektur an einer Zeichnung vornehmen, hatte die ganze Nacht dran gearbeitet, wollte am nächsten Tag nach Spanien. Da bin ich dann mit meiner Kündigung nach Spanien gefahren. Ich hatte immer nur das gemacht, was man von mir erwartete, hatte überhaupt keine Ahnung, was ich machen wollte. Parallel hab ich dann angefangen zu fotografieren. Ich hatte zwei Freunde, einen Jurastudenten und einen Profi, die mich stark beeinflussten. Und es war eine echte Donald Duck-Situation: Studium – nicht mehr haltbar, Fotografieren – noch nicht professionell! Und dann kam ich in die Uni, und da stand dieser Typ und machte diese Bewegung! ... die Düüls spielten abends in der Vorhalle, rechts vom Siegestor rein in den Haupteingang der Uni. Besonders erinnere ich mich an diesen Typen mit der Brille und den Locken, Rainer Bauer muss das gewesen sein. Der bewegte sich so wie Johnny Rotten von den Sex Pistols, nur dreimal schneller. Das war völlig abstrus und für mich völlig fremd. Und das hab ich aber sofort verstanden. Das hat mir einen unheimlich starken Impuls gegeben. Ich kann gar nicht erklären, warum. Und diese Musik, die ich völlig unwirklich und abartig fand, aber die mir so gut tat! Ich hörte zu der Zeit so was wie Herb Alperts ›This Guy's in Love‹ und Quincy Jones. Rock ’n’ Roll gab’s weit und breit nicht, die Beatles und Stones waren nie so stark bei mir. Und rundherum eine völlig beschissene Situation – und dann kam das! Das war für mich die Befreiung.«

Tanz der Lemminge

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