Читать книгу Leichen bluten nicht - Roland Benito-Krimi 6 - Inger Gammelgaard Madsen - Страница 12
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Anne schwitzte, obwohl es erst halb sieben morgens war, und spritze sich in dem winzigen Gäste-WC, das zu den neuen Räumlichkeiten gehörte, kaltes Wasser ins Gesicht. Es war auf Dauer unzumutbar geworden, die Redaktion in Nicolajs Wohnung am Marselis Boulevard zu haben, also hatte er einige freie Räume in einem Haus in der Frederiks Allee angemietet. Näher an allem dran. So viel sie wusste, waren sie früher als Lager für ein Schuhgeschäft – oder war es ein Taschengeschäft? – benutzt worden. Jedenfalls hatte sich der Übelkeit erregende Ledergeruch in den Räumen festgesetzt, und es war viel instand zu setzen gewesen. Nicolaj hatte sich um das Ganze gekümmert. Oder besser gesagt, für das Ganze bezahlt. Er hatte einen ihr unbekannten Betrag von seinem Vater geerbt, der vor einem halben Jahr gestorben war, und sie hatte nicht gegen seinen plötzlichen Entschluss protestiert, in andere Räumlichkeiten zu ziehen. Jetzt hatte sie es nicht mehr weit zur Arbeit, es waren nur ein paar Minuten zu Fuß. Es war eine ganz gemütliche kleine Redaktion geworden mit einem Extraraum für Besprechungen. Das Bad war jedoch nicht renoviert worden und sah nicht besonders einladend aus. Tropfende Wasserhähne, die im Laufe der Zeit rostfarbene Streifen in dem Porzellanwaschbecken hinterlassen hatten, und dicke bräunliche Kalkränder in der Kloschüssel, ganz zu schweigen von dem Gestank aus dem Abfluss, der bei Regen besonders schlimm war. Aber wie Nicolaj sagte, sollten sie sich ja auch nicht überwiegend dort aufhalten, Schreibtische für die Computer und Sitzgelegenheiten würden reichen. Sie betrachtete ihr Gesicht in dem fleckigen Spiegel. Sauberer hatte sie ihn nicht bekommen. Die Zeit als Reinigungsassistentin hatte sie doch ein kleines bisschen geprägt; sie konnte keinen Schmutz mehr sehen, ohne den Drang zu verspüren, sauberzumachen. Das machte sich so gesehen auch in ihrem Beruf als Journalistin bezahlt. Ihr Gesicht sah genauso müde aus, wie sie sich fühlte. Sie hatte letzte Nacht nicht viel geschlafen. Esben war zu Besuch gekommen und das bedeutete immer schlaflose Nächte. Ihr tat alles weh und sie hielt ihre Handgelenke unter kaltes Wasser. Zum Glück waren die Spuren nicht so deutlich, sodass Nicolaj sie hoffentlich nicht bemerkte. Esben schnürte die Fesseln nicht besonders fest, es reichte, dass sie da waren, um ihm das Gefühl zu geben, Macht über sie zu haben. Sie sollte die Unterwerfung spüren. Sie schauderte, aber nicht aus Unbehagen. Die Scham war deutlich als eine intensive Röte in ihrem Gesicht zu sehen. Heute, am Tag darauf, konnte sie sich aus einer gewissen Distanz betrachten; das, was sie sah, gefiel ihr nicht. War das wirklich sie? Diese andere Seite von ihr, die niemand anders kannte. Ihr gemeinsames kleines Geheimnis. Er hatte versucht sie zu überreden, mit in den SM-Club zu kommen, aber da zog sie dann doch eine Grenze. Sie wusste, dass er selbst ab und zu dort Gast war, aber das machte ihr nichts aus. Sie war nicht einmal eifersüchtig. Vielleicht war sie bloß mittlerweile abgestumpft. Vielleicht war ihr die Fähigkeit, Liebe zu empfinden, zusammen mit Adomas abhandengekommen. Sie nahm ein frisch gewaschenes Handtuch von dem halbverrosteten Haken und trocknete sich das Gesicht ab. Schaute wieder in den Spiegel. War sie außerstande, etwas zu fühlen? Traute sie sich nicht, aus Angst vor einem erneuten Verlust? Genoss sie Esbens harte Behandlung, weil sie es verdiente, bestraft zu werden? Das mit Adomas war ihre Schuld gewesen. Sie schüttelte über sich selbst den Kopf. Vielleicht könnte ein Psychologe all die törichten Fragen beantworten, aber sie wollte mit so einem Experten, der in der menschlichen Psyche herumwühlte, nichts zu tun haben. Es gab zu viel Mist auszugraben. Nein, sie empfand bloß nichts für Esben. Jedenfalls keine Liebe, so war das einfach. Es war nur Sex. Nicht mehr. Harter und brutaler Sex, wie sie es offenbar wollte.
Sie hörte, dass Nicolaj gekommen war, und beeilte sich, aus der Toilette zu kommen, rannte ihn beinahe um, da er auf dem Weg hinein war, um Wasser für die Kaffeemaschine zu holen.
»Mann, hast du mich erschreckt! Du bist schon hier?«, japste er und griff sich demonstrativ ans Herz.
»Anscheinend, und jetzt krieg bitte keinen Herzinfarkt, ja.«
Sie hörte, dass er den Wasserhahn anmachte und ihr wurde schlecht, wie immer, wenn sie sich vorstellte, Wasser aus diesem ekligen Wasserhahn trinken zu müssen.
»Nein, davon gibt’s in letzter Zeit echt genug«, rief er, um das Rauschen des Wassers zu übertönen.
»Was meinst du damit? Denkst du an den Grabschänder?«, fragte sie und schaltete den Computer an. Er fuhr mit einer gewaltigen Beschleunigung der Lüftung hoch. Einige Computer waren in der Sommerhitze ausgefallen.
»Unter anderem … und an das Vergewaltigungsopfer.«
Nicolaj kam aus der Toilette und goss Wasser in den Behälter der Kaffeemaschine. Sie versuchte sich damit zu trösten, dass er es immerhin nicht aus der Kloschüssel geholt hatte.
»Was meinst du?«
Nicolaj warf Kaffeebohnen in die Mühle, die einen Augenblick lang alle anderen Geräusche übertönte. So mochte er seinen Kaffee am liebsten – frischgemahlen – danach gab er ein paar Löffel voll in den Filter. Bald ließ der Duft sie den verkalkten und rostigen Wasserhahn vergessen.
»Sie ist letzte Nacht gestorben. Auch an einem Herzstillstand.«
Annes Inneres gefror zu Eis, ohne dass ihr jedoch dadurch weniger heiß war.
»Was sagst du? Woher weißt du das?«
»So wie es aussieht warst du wohl noch nicht auf Nachrichten-Online.«
»Nein, ich bin gerade erst gekommen. Aber da steht ja wohl auch nicht, woher du das weißt, oder?«
Er blinzelte ihr bloß frech zu.
»Okay, dein Kontakt«, sagte sie dann wie selbstverständlich und hatte auf ihrem Bildschirm die Datenbank aufgerufen, mit der sie die Homepage aktualisierten. »Du hast um halb fünf aktualisiert, wie ich sehe. Kriegst du so früh am Morgen Bescheid?« Sie hörte selbst, dass in ihrer Stimme ein Hauch von Neid lag. Es war ihr nicht gelungen, einen neuen Informanten zu finden, nachdem ihrer auf unbestimmte Zeit im Gefängnis gelandet war.
Nicolaj schenkte Kaffee in zwei Becher und stellte einen vor Anne auf den Schreibtisch.
»Ich habe es nicht von der Person erfahren, von der du es glaubst«, neckte er sie weiter.
»War es dann jemand aus dem Krankenhaus? Es muss doch einer sein, der …«
»Zerbrich dir darüber mal nicht den Kopf, Anne. Ich habe meine Kontakte, du deine.«
»Ach, und wen habe ich wohl?«, entgegnete sie sauer und nippte an dem heißen Kaffee, obwohl sie lieber etwas Kaltes zu Trinken gehabt hätte.
»Benito! Rolando Benito!« Er sprach den Namen übertrieben italienisch aus mit extra gerolltem r und einem t wie ein sehr weiches d.
Sie konnte nicht anders als zu lächeln. Er ist echt keine große Hilfe, dachte sie. Aber das Eis im Magen war trotz des heißen Kaffees nicht geschmolzen. Das Mädchen war tot. Jetzt war der Vergewaltiger plötzlich zum Mörder geworden. Vielleicht war das überhaupt nicht seine Absicht gewesen. Sie dachte wieder an Esbens brutale und dennoch weiche Hände und daran, wie sie seine Berührungen genossen hatte. Was hatte Maja gefühlt? Es war ihr nicht gelungen, ein Interview mit ihr zu bekommen. Das Traumazentrum ließ die Presse nicht hinein und sie hatte nur einige von Majas Freundinnen erwischt, die auch nicht besonders viel über sie erzählen konnten. Sie waren alle zu betroffen von dem Vorfall, und nur eine einzige war sehr mitteilungsfreudig gewesen. Fast zu eifrig. Natürlich keine, die Maja sonderlich nahe stand, sodass Anne nicht wusste, wie viel sie auf das, was sie erfuhr, geben sollte, aber das war jedenfalls die Grundlage ihres gestrigen Artikels gewesen, in dem sie eine ganz gewöhnliche junge Frau beschrieben hatte, die studierte, in ihrer Freizeit Sport trieb und verrückt nach ihrem Freund war, der das Wochenende bei ihr verbracht hatte, am Sonntagabend aber zurück nach Kopenhagen gefahren war, wo er wohnte. Aber wie war der Vergewaltiger in die Wohnung gekommen, wenn sie im dritten Stock wohnte? War es nicht unglaubwürdig, dass sie ihn nicht selbst hineingelassen hatte? Was hatte Maja Andersen zu verbergen versucht? Benito hatte sie ebenfalls nicht erreichen können. Und dann war da auch noch diese andere merkwürdige Sache mit dem Grabschänder und der verschwundenen Leiche, über die er ebenfalls kein Wort verlor. Aber endlich! Endlich war etwas Spannendes passiert! Sie konnte es kaum erwarten, sich in die Recherche zu stürzen, es war so lange her, seit sie an einem Fall gearbeitet hatte. Wenn es doch bloß nicht so verflucht heiß wäre und ihr nicht alles wehtun würde. Sie ging einige Nachrichten durch. Ein weniger interessanter Diebstahl in einem Juweliergeschäft auf dem Ströget landete ganz unten im Stapel, und eine Frau in Lystrup wurde 100 Jahre alt, darum durfte Nicolaj sich kümmern. Sie schnappte sich den Kriminalstoff, er um alles andere. Das war die Absprache.
Nicolaj erreichte das Redaktionstelefon vor ihr, als es plötzlich die Stille mit einer lauten, pulsierenden Tonfolge durchbrach, die alle Nervenfasern zum Zittern bringen konnte. Sie hatte viel zu langsam reagiert. Gespannte Aufmerksamkeit schimmerte in Nicolajs grünen Augen, während er zuhörte, und er schaute sie die ganze Zeit an.
»Und du meinst also, es ist die gleiche Vorgehensweise?« Er nickte, setzte sich und notierte etwas auf seinem Schreibblock. Anne explodierte fast vor Neugier, es ging um etwas Großes, das konnte sie sehen. Nicolaj hatte diesen Gesichtsausdruck, den er bekam, wenn ihn etwas wirklich schockierte, was tatsächlich nicht oft vorkam. Sie wandte den Blick nicht von ihm ab und versuchte zu lesen, was er notierte, konnte es aber nicht sehen. Endlich legte er auf.
»Neue Vergewaltigung letzte Nacht. Das Mädchen ist gestorben.«
Anne brachte keinen Ton heraus. Nicolaj reichte ihr einen Zettel mit einer Adresse, schnell hingekritzelt, sie konnte sie gerade so entziffern.
»Wenn du schnell bist, kannst du die Erste sein.«
Sie riss ihm den Zettel aus der Hand, schnappte sich ihre Kamera und wirbelte aus der Tür wie ein Orkan.
Die Hitze schlug ihr unten auf der Straße entgegen, wo die heiße Luft flirrte, wie sie es nur in einer stickigen Stadt kann. Der Geruch von Abgasen war sehr markant und ihre Übelkeit nahm zu. Sie hatte kein einziges Polizeiauto gesehen oder gehört und plötzlich fühlte es sich wie früher an, wenn sie vor ihnen da war. Wer wohl Nicolajs Kontakt war? Aber das war jetzt egal. Es war nicht so weit, sie würde ganz sicher zur gleichen Zeit wie die Polizei eintreffen. Jetzt würde Roland Benito nicht mehr umhinkommen, sich zu der Sache zu äußern.