Читать книгу Leichen bluten nicht - Roland Benito-Krimi 6 - Inger Gammelgaard Madsen - Страница 15
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»Gleiche Vorgehensweise. Kein Einbruch, gefesselt und grob misshandelt. Auch eine junge Studentin.«
Roland heftete die Fotos vom Tatort mit Magneten an die Tafel und machte das Fenster weiter auf. Er öffnete auch einen weiteren Knopf seines kurzärmligen Hemds, bevor er sich gegenüber von Isabella, Mikkel und Kim niederließ, die den Fall von Kurt Olsen zugeteilt bekommen hatten, der selbst zur Pressekonferenz gegangen war. Um die verschwundene Leiche kümmerten sich jetzt andere Kollegen. »Warum sie wohl so daliegt?«, fragte Isabella heiser.
»Der Täter hat diese Stellung arrangiert«, sagte Roland, der auf eine Reaktion gewartet hatte. Die rechte Hand des Mädchens lag im Schoß und bedeckte ihr Geschlechtsteil, die andere lag auf der linken Brust.
»Keuschheit?«, schlug Kim vor. »Sie versucht, sich zu bedecken.«
»Warum sollte ein Vergewaltiger sie in eine solche Stellung legen?«
»Vielleicht weiß er das nicht mal selbst, Isabella«, meinte Mikkel.
»Vielleicht ein Anzeichen von Reue? Er will sie zudecken. Verbergen, was er getan hat«, war Isabellas Vorschlag.
»Wir wissen es nicht. Es kann Zufall sein und vielleicht nichts zu sagen haben. Leider hat er keine Fingerabdrücke hinterlassen.« Roland öffnete ein Mineralwasser, es war eiskalt. Die Flasche war beschlagen. Er wollte sie gegen seine Stirn pressen. Die Kohlensäure zischte, als er ins Glas einschenkte.
»Ist es das gleiche Seil wie das, mit dem Maja gefesselt war?«, fragte Kim. »Weiß die Kriminaltechnik, welches?«
»Eine harte Sorte. Vielleicht Nylon.«
»Wer benutzt wohl Nylonseile?«, dachte Mikkel laut.
»Die meisten. Viele Handwerker und Fischer«, informierte Kim.
»Das untersuchst du, Kim.« Roland nahm ihn sofort beim Wort. Er war ohnehin am besten in dieser Art Geduldsaufgabe.
»Wir sind ja alle Händler durchgegangen, als wir im Gitte-Mord ermittelt haben«, erinnerte sich Kim. »Kann man diese Informationen nicht vielleicht gebrauchen, wenn ich sie finde?«
»Das war kein Nylonseil, das war ein Manilaseil, das ist ein Naturprodukt, das ist nicht das gleiche«, stellte Mikkel fest.
Einen Augenblick lang wurde es am Tisch ganz still. Nur Isabella sah unbeeindruckt aus, registrierte aber den Stimmungsumschwung und schaute sie fragend an. Damals, als das kleine Mädchen erwürgt in einem Müllcontainer in Brabrand gefunden worden war, war sie noch nicht dabei gewesen. Es war das Puppenkind genannt worden.
Mikkel studierte die Fotos der beiden jungen Frauen. Roland hatte sie an die weiße Tafel geheftet und ihre Namen in blau darunter geschrieben. Maja Andersen und Tanja Borg.
»Zwischen den beiden Mädchen gibt es ja keine Ähnlichkeiten. Die eine ist blond und geschminkt, die andere brünett und natürlich. Aber sie haben beide kurze Haare. Ganz gewöhnliche Typen, die nicht besonders aus der Menge hervorstechen.« Mikkel war derjenige, der das Thema wechselte.
»Hast du zu viele Krimis über Serienmörder geguckt? Das gab es hier in Dänemark noch nicht, dass ein Geisteskranker aufgrund irgendeines Kindheitstraumas oder einer dominanten Mutter ausschließlich blonde oder brünette Frauen ermordet.«
Kim sagte das mit einem kleinen, trockenen Lächeln, so etwas sah man in seinem stets souveränen und ernsten Gesicht sonst eher selten.
»Das gab es noch nicht, meinst du! Irgendwann ist ja immer das erste Mal. Vielleicht ist die Art, wie sie positioniert ist, seine Signatur«, gab Mikkel zurück.
»Das hier darf unter keinen Umständen an die Presse kommen. Fangen sie erstmal an über einen mutmaßlichen Serienmörder in Aarhus zu schreiben, wird sich selbst die Weltpresse für den Fall interessieren. Serienmord ist eine Riesenneuigkeit hier im Norden. Aber Mikkel ist da an was dran. Wir müssen herausfinden, ob die beiden Mädchen etwas gemeinsam haben, das uns auf die Spur des Täters bringen kann. Wenn es nicht ihr Aussehen ist, kann es etwas Anderes sein. Ein gemeinsamer Sport, ein Hobby, Kurs oder so etwas. Zwischen ihren Wohnungen liegen nicht mehr als circa sechshundert Meter. Sie können ins gleiche Fitnessstudio, auf die gleiche Abendschule oder was auch immer gegangen sein. Roland deutete auf die Karte von Aarhus, die hinter ihm an der Wand hing.
»War da nicht was, dass ein Serienmörder in der Regel in einem bestimmten Radius der Tatorte wohnt? Ich meine, das lehren sie an der FBI Academy in Quantico«, sagte Mikkel und prüfte die Karte.
»Wieder Serienmord. Man spricht nicht von Serienmord, bevor nicht mindestens vier Menschen getötet wurden«, kam es erneut belehrend von Kim.
»Wer guckt jetzt zu viele Krimis?« Mikkel schaute Kim höhnisch an.
»Schluss damit! Wir reden nicht von einem Serienmörder. Der Mann scheint von Vergewaltigungen getrieben zu sein, das ist doch ganz sicher ein sexuelles Motiv.« Roland wusste genau, dass die Hitze allen zu schaffen machte, sie wurden gereizt und bissig und wer würde auch nicht lieber zu Hause im Garten sitzen, die Füße in einem Bottich mit kaltem Wasser und ein frisch gezapftes Bier vor sich.
»Was meinst du, Isabella?« Es gefiel ihm nicht, dass sie so schweigsam war. Das sah ihr nicht ähnlich, erst recht nicht, wenn sich die Jungs in den Haaren lagen, aber sie saß bloß da und starrte auf die Fotos der beiden jungen Frauen.
»Es gibt ja auch den Begriff des Serienvergewaltigers. Der Amager-Mann ist uns allen ja noch frisch im Gedächtnis und vielleicht haben wir es hier mit so einem Typen zu tun«, sagte sie nachdenklich.
»Dann muss er trotzdem noch zwei weitere erwischen, bevor man es als Serie bezeichnen kann«, kommentierte Mikkel mit einem spöttischen Blick zu Kim.
»Und das müssen wir verhindern«, beeilte sich Roland einzugreifen, bevor Kim zurückschlug.
»Warum nimmt er die Stricke wieder mit? Und was ist wohl bei Maja schief gelaufen? Sie hat er ja nicht getötet. Also falls es der gleiche Täter ist«, schloss Isabella.
»Isabella und Mikkel, versucht die Nachbarn, Familien und Freunde der beiden zu erreichen. Findet heraus, ob die Mädchen etwas gemeinsam hatten. Kim, überprüf’ alle Vergewaltiger aus unserer Kartei. Sie müssen ein Alibi für jede Millisekunde des Todeszeitpunkts haben. Und dann kannst du Natalie und das Kriminaltechnische Zentrum kontaktieren und alle möglichen Zusammenhänge beider Tatorte auflisten, die untersucht werden sollen. Es muss auch bald eine Rückmeldung von Tanjas Obduktion kommen. Niels ist dabei.«
»Niels? Warum bist du nicht … was machst du dann?«, wollte Isabella wissen, während alle drei auf einmal aufstanden.
Roland schaute auf die Uhr. »Ich habe eine wichtige Verabredung mit Irene. Sie hat mich gebeten, bei einem Gespräch dabei zu sein. Es geht um eine Untersuchung, für die sie letzte Woche in einer Privatklinik war.«
Es war ein schwieriges Thema für alle in der Abteilung, dass seine geliebte Ehefrau im Rollstuhl saß. Vor allem, weil er selbst nicht besonders offen damit umging. Er hatte nur notgedrungen ein wenig von der kleinen Besserung erzählt, die es im letzten Jahr gegeben hatte. Tatsächlich, seit Irene zum zweiten Mal Oma geworden war und sich aus ihrem Rollstuhl erhoben hatte, um es ihm durchs Fenster im zweiten Stock nach unten in den Garten zuzurufen. Man wusste ja nie, ob es vielleicht bloß ein Reflex gewesen war und es dennoch nie wieder besser als jetzt werden würde. Die Ärzte hatten sich skeptisch und verwundert ihren Bericht darüber angehört, was an dem Wintertag passiert war, als Olivias Zwillinge geboren worden waren, denn dass eine reine Emotion solche Wunder bewirkte, war höchst unwahrscheinlich. Irenes Wirbelsäule hatte dauerhaft Schaden genommen und sie war für den Rest ihres Lebens an den Rollstuhl gefesselt. Aber Roland hatte nie die Hoffnung verloren. Man hörte so viel über kleine Wunder, die passierten, und die nur zeigten, dass die Ärzte nicht immer Recht hatten. Der Wille war der größte Faktor für eine Genesung, meinte er. Leider hatte Irene den nach den vielen Rückschlägen, die sie erlitten hatte, verloren. Aber er würde alles dafür tun, dass Irene ihr Leben zurückbekäme. Es war einfach nicht gerecht, dass ein Verrückter es innerhalb weniger Sekunden zerstören konnte, bloß, weil er unzufrieden mit der Entscheidung seiner Sozialarbeiterin war.
»Habt ihr angefangen, Privatkliniken zu konsultieren?«, fragte Isabella vorsichtig.
»Die öffentlichen haben ja aufgegeben und sagen, dass sie nicht mehr tun können, was blieb uns also anderes übrig?«
Er konnte an ihren Gesichtern ablesen, was sie dachten, aber er würde sich nie mit dieser Tatsache abfinden.
»Können die in der Privatklinik Irene denn helfen?«, erkundigte sich Mikkel.
»Das werden wir heute vielleicht wissen.«
Die neue Privatklinik lag in Skejby, hatte aber nichts mit der Uniklinik in Skejby zu tun. Es war jedoch eine gute Adresse. Irene hatte die Anzeige in der Zeitung gesehen und er hatte sie natürlich darin bestärkt, es dort mit einer Untersuchung zu probieren. Das Gebäude war ganz neu und modern. Es herrschte eine angenehme und beruhigende Atmosphäre, sobald sie die helle, barrierefreie Vorhalle betraten. Ein Arzt mittleren Alters empfing sie und nahm sie mit in sein Sprechzimmer, in dem man durch große Fenster einen Ausblick auf den Egå Engsø hatte. Er bat Roland, Platz zu nehmen, und setzte sich mit einem freundlichen Lächeln in dem sonnengebräunten Gesicht ihnen gegenüber an den Schreibtisch. Er trug einen schimmernden Ehering, der ganz neu aussah, wie das Interieur, und strahlte auf Anhieb Autorität und Kompetenz aus. Roland sah sofort, dass Irene es ebenso auffasste und wusste, welch große Bedeutung es für den Ausgang dieses Gesprächs haben würde. Er selbst fühlte sich ein bisschen nervös. Worüber wollte der Arzt mit ihnen sprechen? Rolands Hände lagen auf der blankpolierten Armlehne des Stuhls.
»Willkommen in der Privatklinik Mollerup. Ja, sie ist weder nach dem Wald noch nach dem Golfplatz benannt«, bemerkte er mit einem Schmunzeln. »Der Gründer der Klinik heißt Carsten Mollerup. Ich heiße Kenneth Rissvang und bin gerade erst aus den USA zurückgekehrt, wo ich neun Jahre lang als Chirurg tätig war. Haben Sie etwas dagegen, wenn wir uns duzen?«
Chirurg? Roland wunderte sich einen Augenblick lang darüber, dass das Gespräch mit einem Chirurgen und nicht mit einem Allgemeinmediziner stattfand, aber er nickte und Irene antwortete, dass es nichts ausmachte, wenn sie nicht formell seien, im Gegenteil.
Kenneth Rissvang schaltete einen großen, modernen Bildschirm hinter sich an. Wilhelm Conrad Röntgens Erfindung im Jahre 1895 war natürlich auch digitalisiert worden. Roland konnte Schatten auf dem dunkelgrauen Röntgenbild erkennen, und er verstand nicht viel von dem, was er sah.
»Ja, ich weiß, das sagt euch wohl nicht so viel, aber wie ihr vielleicht sehen könnt, ist die Verletzung von Irenes Wirbelsäule hier.«
Er deutete auf eine Stelle, die Roland deutlich sehen konnte, jetzt, wo explizit darauf hingewiesen wurde.
»Rückenmarkverletzte können in zwei Gruppen eingeteilt werden: die Paraplegiker und die Tetraplegiker. Die Erstgenannten haben Verletzungen unter dem siebten Rückenwirbel, wie es auch bei Irene der Fall ist. Eine Verletzung, die Lähmungen in den Beinen, in der Blase und im Darm verursacht und oft auch die Sexualfunktion stören kann. Diese Verletzung bewirkt, dass du nicht laufen kannst. Du gehörst also zu der Gruppe der Paraplegiker«, sagte er und schaute Irene freundlich und direkt an. »Ansonsten bist du völlig gesund. Dein Herz arbeitet perfekt und all die übrigen Organe sind ja fast wie bei einer Zwanzigjährigen.«
Irene erwiderte das Lächeln geschmeichelt. Diese Art Komplimente bedeuteten einer Frau über 50 sicher eine Menge. Roland überlegte, ob er wohl den gleichen Bescheid bekommen würde, wenn er sich zu einer gründlichen Untersuchung seines nicht allzu trainierten Körpers durchränge. Das Schwimmen in Ballehage war bestimmt nicht genug, selbst wenn das Winterbaden das Herz stärkte, das redete er sich jedenfalls ein, und die Wanderungen mit Angolo trugen sicher auch nicht außerordentlich zu seiner Gesundheit bei. Aber immerhin besser als nichts.
»Aber was ist mit der Verbesserung, die wir an dem Tag gesehen haben, als Irene aus dem Rollstuhl aufgestanden ist?«, fragte er und nahm unwillkürlich Irenes Hand, die schlaff auf der Armlehne des Rollstuhls lag.
»Ja, das hat sicher viele Ärzte im Krankenhaus verwundert, kann ich mir vorstellen, aber mich nicht«, erklärte der Chirurg. »Das sagt mir, dass Irenes Rückgrat geheilt werden kann. Es gibt Impulse, die bei Beeinträchtigungen funktionieren, und das gilt es auszunutzen.« Er lächelte freundlich und Roland musste ganz automatisch das Gleiche tun. Irene hatte Tränen in den Augen.
»Soll das heißen, dass ich vielleicht wieder laufen kann?«
Kenneth drehte sich zu seinem Computerbildschirm und gab etwas in den Computer ein. Sie sahen nur die Rückseite des Bildschirms.
»Wie ich sehe, ist es ungefähr zwei Jahre her, dass du durch das Projektil verletzt wurdest. Das ist eine lange Zeit, aber ich erzähle euch mal eine kleine Geschichte. Wollt ihr übrigens etwas Kaltes trinken? Das ist ja eine ganz schöne Hitze im Moment.«
Er hatte einen Minikühlschrank in seinem Büro, aus dem er eine Karaffe mit stillem Wasser holte.
»Eingerichtet aufgrund der großen Nachfrage bei den Temperaturen«, bemerkte er lächelnd er und schenkte in drei Gläser ein. Eine halbe Zitronenscheibe schwamm in der Karaffe und gab dem Wasser einen leichten Zitrusgeschmack. Roland leerte das Glas gierig in einem Zug. Er war durstig und seine Gemütslage ließ ihn die Regeln der Höflichkeit vergessen.
Der Chirurg stellte die Karaffe auf den Tisch und setzte sich wieder ihnen gegenüber, mit einer Miene, als wolle er zwei gespannt wartenden Kindern ein Märchen erzählen.
»Als ich in den USA war, gab es dort einen viel diskutierten Fall, der die Auffassung dessen, wann alle Hoffnung vergebens ist, auf den Kopf gestellt hat. Es handelte sich um einen sechsjährigen Jungen aus Arizona, der eine Querschnittslähmung davontrug, als das Auto seiner Familie von einem anderen Auto gerammt wurde, dessen Fahrer während des Fahrens eine SMS geschrieben hatte. Dieser kleiner Junge landete wie du, Irene, im Rollstuhl und war darauf gefasst, dass er nie wieder ein normales Kind sein würde.«
Er schaute nur Irene an, und das irritierte und freute Roland zugleich, denn er konnte sehen, dass Irene bereits von der Geschichte fasziniert war und ihre Augen vor Hoffnung und Erwartung glänzten.
»Der Junge ging zur Physiotherapie, wie du auch. Eines Tages sagten die Ärzte, sie könnten nichts mehr für den Jungen tun. Aber seinen Eltern fiel es schwer, das zu akzeptieren.« Jetzt wurden die freundlichen hellbraunen Augen auf Roland gerichtet.
»Sie kämpften weiter und fanden eine Möglichkeit. Stammzellentherapie. Aber die Behandlung war in den USA nicht möglich, sodass sie in Panama vorgenommen wurde. Sie kostete ungefähr 180.000 dänische Kronen, die die Familie nicht aufbringen konnte, aber mithilfe von Fundraising und der Unterstützung großzügiger Menschen bekamen sie das Geld zusammen. Der Sohn wurde behandelt und machte so große Fortschritte, dass die Eltern nicht daran zweifeln, dass er eines Tages tatsächlich wieder laufen wird. Es ist nur eine Frage der Zeit.«
Roland sah, dass Irene Tränen die Wangen hinunterliefen und er drückte ihre Hand noch fester, auch, um sie in die Wirklichkeit zurück zu holen. Es ging um sie, nicht um einen kleinen Jungen in Arizona, der vielleicht einfach nur Glück gehabt hatte.
»Aber muss ich dann nach Panama?«, fragte sie endlich bewegt, als ob das die größte Herausforderung wäre.
Kenneth Rissvang lächelte und legte eine sonnengebräunte Hand auf ihren Arm.
»Nein, das ist die gute Nachricht. Die Operation kann hier in Dänemark vorgenommen werden. Hier in der Klinik. Ich kann sie vornehmen.«
Roland lehnte sich auf dem Stuhl zurück und wusste nicht, was es für Gefühle waren, die in seinem Magen und Brustkorb rotierten. Eine Operation an der Wirbelsäule. Dem Rückenmark. Das klang so schrecklich lebensgefährlich.
Irene schaute ihn an und an diesen Blick würde er sich bis ans Ende seiner Tage erinnern, so viel Freude und Hoffnung hatte er noch nie zuvor bei irgendeinem Menschen gesehen.
»Gibt es da kein Risiko?«, fragte er den Chirurgen, obwohl er genau wusste, dass es Irenes Freude trüben könnte.
»Bei Operationen gibt es immer Risiken. Wie immer im Leben. Aber seit diesem Fall, den ich gerade geschildert habe, wurden eine Menge dieser Operationen durchgeführt, sie sind allesamt erfolgreich verlaufen und hatten eine Menge positiver Resultate. Die Patienten hatten danach eine viel bessere Lebensqualität.«
Irene schaute den Arzt mit großer Bewunderung im Blick an.
»Und du meinst, mir kann auch geholfen werden?«
»Ganz sicher. Wenn die Impulse da sind, müssen wir lediglich einen Spender finden.«
Roland hatte gewusst, dass es ein Aber gab. Spender fielen nicht vom Himmel, sie waren Mangelware und viele Patienten warteten jahrelang vergeblich auf ein neues Organ.
»Es gibt leider nicht viele Spender«, bestätigte der Arzt Rolands Gedanken. »Die gute Nachricht ist, Irene, dass ich schon einen Spender für dich habe. Aber …«
»Aber …«, wiederholte Irene, als ob ihr wieder alle Hoffnung genommen wurde.
»Aber wir müssen auch über den finanziellen Aspekt sprechen«, fuhr der Chirurg fort und schaute wieder Roland an, der sich unter seinem Blick wand.
»Alles in allem beläuft es sich mit Spender, Operation und Nachsorge auf ungefähr 200.00 Kronen.«
»Ja, aber wir bezahlen unsere Steuern, wir sind krankenversichert und wir …«
»Nun ist es so, dass die Öffentlichen Kassen diese Behandlung in Dänemark nicht unterstützen. Also zumindest noch nicht, daher …«
»Wir sprechen hier doch wohl nicht von einer experimentellen Behandlung?« Alles in Rolands Körper sträubte sich gegen diesen Gedanken. Irene sollte kein Versuchskaninchen für eine illegale Operation werden, da machte er ganz sicher nicht mit. Schon gar nicht zu diesem Preis. Woher sollten sie all das Geld nehmen?
»Nein, nein, überhaupt nicht! Ich habe viele von diesen Behandlungen in den USA durchgeführt und mit den allerbesten Forschern zusammengearbeitet. Das ist kein Hokuspokus, aber die dänischen Behörden sind ja immer skeptisch, wenn es um neue Behandlungsmethoden geht. Ethik und so etwas. Dänische Forscher verfolgen diese Behandlungsform mit großem Interesse, und wenn sie die Ergebnisse in den USA und in Asien sehen, dann wird es nicht mehr lange dauern. China ist am weitesten damit, diese Art von Behandlungen durchzuführen, sie können wirklich gute Resultate vorweisen.« Kenneth lächelte und erhob sich. Er nahm eine Broschüre aus einem Regal hinter sich und reichte sie Irene.
»Jetzt könnt ihr mal hineinschauen, darin steht alles über die Transplantation, sodass ihr ganz in Ruhe herausfinden könnt, ob das nicht die Lösung ist, um Irene wieder ein besseres Leben zu geben.« Wieder schaute er zu Roland, der sich beeilte, Irene über die Schulter und auf die Broschüre zu gucken, in der sie bereits eifrig blätterte.
»Ich lasse euch einen Augenblick alleine, ich komme gleich wieder.« Der Arzt verließ sein Büro mit dem obligatorischen aufmunternden Lächeln und schloss die Tür hinter sich.
»Guck, Rolando, das klingt gar nicht so gefährlich, es wird ein paar Monate dauern, aber stell dir vor, wenn nun …«
Sie schaute ihn an und all seine Gegenargumente waren kurz davor, zusammenzubrechen.
»Ja, aber Irene … wir wissen doch nicht, ob es hilft. Das ist viel Geld und die Methode ist illegal. Ich bin Polizist, und …«
Seine Stimme wurde immer schwächer, da er selbst hörte, wie er bloß Wort für Wort die Hoffnung zerstörte, die er die ganze Zeit versucht hatte, in Irene keimen zu lassen. Jetzt, wo sie wieder welche hatte, versagte er. Wut blitzte in ihren Augen auf – oder war es Enttäuschung? Tiefe Enttäuschung.
»Du denkst jetzt also nur an deinen Job. Mal wieder! Und Geld? Ist es nicht wichtiger, dass ich hier rauskomme?« Sie schlug so heftig mit den Handflächen auf die Armlehnen des Rollstuhls, dass Roland zusammenzuckte. »Wenn ich einfach aufstehen könnte, wie damals an dem Tag, könnte ich viele Dinge endlich wieder allein tun. Unter anderem auf die Toilette gehen. Wenn du wüsstest, wie erniedrigend es jedes Mal ist, wenn … jedes Mal …« Sie schnaubte und schüttelte bloß den Kopf. »Ist dir das wirklich nicht wichtiger als dein Polizeijob und das verdammte Geld?«
Ihre Worte trafen ihn wie ein Schlag. Wäre ihm damals, an diesem Abend, sein Job nicht wichtiger gewesen, würde sie vielleicht überhaupt nicht da sitzen. Wenn er da gewesen wäre, um sie zu retten, wenn …
»Die Antwort darauf kennst du doch genau, Irene. Natürlich ist deine Gesundheit wichtiger als alles andere!«
»Das Geld können wir beschaffen, wir können mein Auto verkaufen. Wir haben sicher viele Dinge, die wir verkaufen können. Wir können eine Hypothek auf das Haus aufnehmen, es gibt eine Menge Möglichkeiten.«
»Irene, es geht nicht um das Geld. Sondern …« Er fuhr sich mit einer Hand durch die Haare, das an den Schläfen schweißnass war. »Ich habe Angst, Irene! Irgendetwas kann schief gehen. Ich kann dich völlig verlieren, und …« Seine Stimme brach und er sah sofort eine Veränderung in ihren braunen Augen, sie wurden mit einem Mal wieder liebevoll. Jetzt war sie diejenige, die ihre Hand auf seine legte und sie fest und überzeugend drückte.
»Natürlich hast du Angst, Rolando. Die hab ich auch. Aber wenn die das schon in Panama und China können!«