Читать книгу Leichen bluten nicht - Roland Benito-Krimi 6 - Inger Gammelgaard Madsen - Страница 5

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Die Sonne ging über dem Horizont auf wie eine Kugel glühenden Lebens. Die Schwärze der Nacht war vertrieben. Ein neuer Tag brach an. Für einige jedenfalls, dachte er, als er auf dem Pfad zwischen den Gräbern zu der kleinen Versammlung ging, die er glücklicherweise sofort entdeckt hatte, als er den parkähnlichen Friedhof von immerhin über sechzehn Hektar Größe betreten hatte. Hier war Platz für alle, unabhängig vom Glauben; selbst Atheisten hatten ihre eigene Gräberfläche bekommen.

Der Kies knirschte unter seinen Schuhen und störte die ehrfürchtige Stille, die Friedhöfe kennzeichnet, hier jedoch mit der Ausnahme, dass man zwischen Vogelgezwitscher schwach den Verkehr vom Viborgweg und der Westringstraße hörte. Seine krumme, südländische Nase nahm den würzigen Duft von Zypressen und Thujen und die Frische nächtlichen Taus auf.

Zum Glück kam nicht länger Licht oder schwarzer Rauch aus dem viereckigen weißen Schornstein des Krematoriums. Er schielte dorthin und versuchte, nicht daran zu denken, warum er oben leicht geschwärzt war. Er hatte gehört, dass die übergewichtigen Menschen den schwarzen Rauch erzeugten. Aber diese Zeit war vorbei. Jetzt, in Kälteperioden, trat nur ein wenig Dampf aus. Zu viele Dioxine und Schwermetalle, unter anderem Quecksilber von Zahnplomben, hatten dem Krematorium vor einigen Jahren bei neuen verschärften Umweltschutzanforderungen schlechte Noten beschert. Die Technik, um dieses Problem zu beheben, hatte einen Anbau erfordert; jetzt konnte man den Rauch abkühlen und ihn mit einem Filter reinigen, bevor er in die Atmosphäre verschwand. Das Kühlwasser dieses Prozesses wurde verwendet, um die Kapellen und das Krematorium zu beheizen, der Überschuss ging in die Heizungen für die Fernwärmeverbraucher. So konnte man nach dem Tod wenigstens ein bisschen von Nutzen sein, ohne schwarzen Rauch zu verursachen, dachte er. Das war ein kleiner Trost. Roland zog die weiße Schutzkleidung an, die ihm ein Beamter reichte, ehe er sich dem Tatort näherte.

Der Westfriedhof war früher schon Vandalismus ausgesetzt gewesen, teilweise von ganz unfassbaren Dimensionen. Einer der Fälle wurde von der Presse als ›größte Grabschändung aller Zeiten‹ bezeichnet. 179 umgeworfene und zerstörte Grabsteine und Monumente, einige von ihnen so groß, dass ein Kran sie danach wieder aufrichten musste. Nichts hatte auf Satanismus oder etwas anderes Okkultes hingedeutet, aber diese Art Verbrechen waren ohne Zeugen schwer aufzuklären, und die gab es selten, da sie oft nachts verübt wurden, zu einer Zeit, in der Friedhöfe in der Regel nicht so gut besucht waren.

Den bizarren Anblick, der sich ihm bot, als die Anwesenden mit heiseren, aber höflichen Morgengrüßen vor ihm zurückwichen, damit er sehen konnte, was der Kriminaltechniker gerade auf seiner Kamera digital verewigte, hatte er jedoch nicht erwartet. Einige Erdklumpen rollten ins Grab, als er sich vorbeugte und hinuntersah. Ein Hauch von Kühle und der Geruch muffiger Erde schlugen ihm entgegen. Es war der Tod, der auf die Morgenluft traf, die von der Sonne bereits ein bisschen aufgewärmt worden war.

»Ja, man denkt fast an die Rache der Zombies oder sowas«, sagte der Rechtsmediziner Henry Leander, ohne dass es witzig klang, was es sicher auch nicht sein sollte. Dass Leander auch erschienen war, zeigte, für wie ernst Vizepolizeidirektor Kurt Olsen die Lage hielt. Oder vielleicht war es nur, um der Gemeinde, besonders dem Bürgermeister gegenüber Entgegenkommen zu zeigen, da es sich hier nun einmal um eine kommunale Einrichtung handelte. Vielleicht als Kompensation für die mangelnde Aufklärungsquote bei den vielen Grabschändungen. Henry Leander hatte im Übrigen angefangen, sich mit kleinen Schritten seiner Pension zu nähern. Es war lange her, dass Roland seinen alten Freund zuletzt gesehen hatte, aber nicht einmal als er sich neben ihn stellte, wandte Leander den Blick von dem offenen Grab ab. Er war gebräunter als sonst, was seinen elegant geschwungenen Schnurrbart kreideweiß wirken und zu dem Schutzanzug passen ließ. Der Mundschutz hing unter seinem Kinn. Er hatte die Hände hinter dem Rücken verschränkt und schien gar nicht er selbst zu sein. Oder war es bloß so, dass sich alte Kollegen und Mitarbeiter veränderten, wenn sie aus dem Arbeitsalltag verschwanden und man sie nicht mehr jeden Tag sah? Dass sie auf irgendeine Weise aufblühten, jünger wirkten, entspannter, lebendiger. Sie hatten jetzt Zeit, auszuspannen, länger zu schlafen und ihren Hobbies nachzugehen. Leander verbrachte jetzt sicher viel Zeit in seinem Keller mit seinen Insekten. Soweit Roland wusste, würde er seine Forschung dieser kleinen Viecher und ihrer wichtigen Bedeutung für die Polizeiarbeit fortsetzen. Er gab sporadisch Seminare über Entomologie an der Universität. Seine Stellvertreterin, die sehr junge Natalie Davidsen, machte sich bereit, die Leichenschau vorzunehmen, und zog ebenfalls die weiße Schutzkleidung und Latexhandschuhe an, bevor sie mit dem Kriminaltechniker die Plätze tauschte. Leander reichte ihr helfend die Hand; das Loch war fast zwei Meter tief. Sobald der Techniker aus dem Grab gestiegen war, bürstete er sich hektisch die Erde vom Anzug, als wäre es giftiger Staub. Dann kontrollierte er die Qualität der Beweisfotos.

»Willst du sie dir auch anschauen, Herr Kommissar?«, fragte er, als wären es Urlaubsbilder aus den Katakomben.

Roland schaute ihm über die Schulter. Der Tote lag in einer krampfartig verrenkten Stellung. Normaler Körperbau. Er hatte einen dreckigen, aber schicken, hellen Trenchcoat an, eine Rasur nötiger als Roland und markante Pigmentstörungen im Gesicht. Mit der rechten Hand umklammerte er einen Spaten. Roland hörte, dass hinter ihm etwas vorging und drehte sich um. Gerade legten sie die Leiche auf eine weiße Plastikunterlage. Natalie kramte in den Taschen des toten Mannes. Der Kriminaltechniker machte wieder Bilder, als sie ein braunes Lederportemonnaie aus einer Hosentasche zog und es öffnete.

»Harald Lund Iversen«, las sie von einem abgenutzten, geknickten Führerschein ab. »56 Jahre alt.«

»Was zum Teufel hat er da unten in dem Grab gemacht?«, fragte der Techniker, während er immer wieder auf den Auslöser der Kamera drückte, während Natalie in das Diktiergerät sprach und die Beweise dokumentierte. Ein paar Geldscheine, Münzen, ein Einkaufszettel, ein Bon von 7-Eleven, ein Schlüsselbund mit vier Schlüsseln, ein Foto von ihm und sicher seiner Ehefrau, ein zerknülltes Bild eines jungen Mannes, vielleicht sein Sohn. Gott sei Dank hatte der Verstorbene selbst gerade die wichtigsten Informationen geliefert, das ersparte ihnen eine zeitraubende Identifizierung. Seltsamerweise hatte er kein Handy bei sich.

»Wie ist er gestorben?«

»Das kann ich dir noch nicht sagen, Benito«, antwortete Natalie, stand auf und verstaute die Gegenstände in kleinen Plastiktüten, in Tütchen, die sie dem Kriminaltechniker reichte. Ihr Augenkontakt dauerte einen Moment zu lang.

»Wenn jemand es weiß, soll er es bitte für sich behalten«, sagte der Techniker mit einem verschmitzten Grinsen, riss, nur widerwillig, den Blick von Natalie los und studierte wieder das Ergebnis seiner Aufnahmen.

Roland warf ihm einen irritierten Seitenblick zu; noch einer dieser Neuen, der nicht wusste, wann man besser seine Klappe halten sollte. Er hatte gehört, dass er Single war, mit einer Harley Davidson herumfuhr, an der er gern selbst herumschraubte, und Mitglied eines Motorradclubs war, der letzten Sommer eine Tour durch die Staaten gemacht hatte: Orlando-Los Angeles inklusive eines guten Stücks der Route 66. Ein junger Mann mit einem Hang zu grenzüberschreitenden Beschäftigungen. Roland vermutete, er war einer der vielen, die im Fernsehen von CSI fasziniert waren und sicher mit ihrem Job prahlten, um bei Ladys in der Disco zu landen. Falls man mit der Art Job irgendwo landen konnte.

Er schaute nach unten in das feuchte Grab, wo einer der Friedhofsgärtner ihn entdeckt hatte.

»Wann ist er gestorben?«, fragte er weiter. Die üblichen Fragen, über die die Rechtsmediziner allmählich die Augen verdrehten, weil sie sie meistens nicht vor einer Obduktion beantworten konnten, und das wussten die Ermittler ganz genau. Aber Natalie war neu und unternahm trotz allem einen Versuch, damit Roland mit seiner Arbeit beginnen konnte.

»Die Leichenstarre ist voll ausgeprägt. Es war eine verhältnismäßig milde Nacht, aber feucht …« Sie schob die Ärmel ihres Anzugs hoch und schaute auf die Uhr. »Ich würde sagen, der Tod ist vor ungefähr sechs Stunden eingetreten. Vor Mitternacht. Es sei denn, hier wäre die Rede von kataleptischer Totenstarre. Aber ich werde versuchen, das ein bisschen weiter einzugrenzen, wenn ich ihn auf dem Tisch liegen habe.«

Leander warf ihr ein diskretes anerkennendes Lächeln zu, das von dem weißen Schnurrbart beinahe verdeckt wurde. Er konnte seinen Ruhestand unbesorgt fortsetzen; sein alter Job war in guten Händen.

»Sieht aus, als wäre es ihm gelungen, den Sargdeckel abzuschrauben. Was er wohl vorhatte?«, sagte Natalie nachdenklich.

Roland trat über die Erdhaufen, die entlang der Grabränder aufgehäuft worden waren, und bog die Zweige eines Wachholderbusches zur Seite, sodass er den Namen auf dem Stein lesen konnte.

»David Lund Iversen. Er ist vor zehn Tagen gestorben und nur achtzehn Jahre alt geworden.«

»Das muss wohl ein Familienmitglied sein. Aber warum wollte er ihn ausgraben?« Natalie war wieder ins Grab geklettert und stand auf dem Sargdeckel.

»Vielleicht war er psychisch krank. Ob er wohl etwas mit den Grabschändungen zu tun hat, die hier passiert sind?«, fragte der Kriminaltechniker und sah sich um, als ob er erwartete, noch weitere zu entdecken.

»Kaum«, erwiderte Roland.

Man ging davon aus, dass die Täter Jugendliche waren, die wahrscheinlich in betrunkenem Zustand hier randaliert hatten. Das waren wirklich keine Jungsstreiche mehr, so viel stand fest. Er starrte auf den Toten, der gerade von den ersten Sonnenstrahlen, die sich über die Baumkronen schlichen und einen neuen, warmen Sommertag ankündigten, beschienen wurde. Der Ausdruck in Harald Lund Iversens Gesicht konnte beinahe darauf hindeuten, dass er wirklich einen Zombie gesehen hatte, und er sah nicht wie jemand aus, der sich normalerweise in der Nacht auf Friedhöfen herumtrieb, um Gräber zu schänden – wie solche Typen auch aussehen mochten.

»Wie hat er es wohl geschafft, dieses Loch zu graben?«, fragte Henry Leander und schüttelte verwundert den Kopf.

»Das Grab hier liegt ja ein bisschen abseits, daher …«

»Aber gibt es hier nicht auch Nachtwächter seit den Vorfällen damals 2005? Oder Videoüberwachung?« Leander schaute sich um, als suche sein Blick nach Kameras in den Baumkronen. Aber dort hingen nur die vielen Nistkästen, hier machte man sich verdient um den Vogelschutz. Über 50 Holzkästen waren rund um den Friedhof angebracht worden, sie waren aber kaum so genial gewesen, diskret Kameras darin zu installieren.

»Es gab viel Gerede darüber, doch es wurde nie etwas daraus. Es gibt ethische Einwände.«

Leander nickte. »Vielleicht war es der Anblick der Leiche, der ihn umgebracht hat. Ein Schock. Nicht alle können sowas ab.«

»Vielleicht hat die Leiche ihn ermordet und ist dann abgehauen«, unterbrach der Kriminaltechniker und lachte allein über seinen Witz, aber sein Lachen gefror jäh und er wurde sichtlich blass, als Natalies Ruf unten aus der Tiefe ertönte:

»Der Sarg ist leer!«

»Leer?«

Roland beugte sich wieder vor und schaute zu ihr hinunter. Sie hatte ihre Beine links und rechts auf den Grabrändern abgestellt, sodass sie in der Grätsche über dem Sarg stand, und den Deckel so weit angehoben, dass man hineinschauen konnte.

»Wie kann der leer sein? Man begräbt doch nicht einfach einen leeren Sarg!«, murmelte Roland.

Er sah, wie die Beamten weiter oben auf dem Pfad mit einer Familie sprachen, die auf dem Weg zu einem Grab war. Die Kinder hatten Blumen im Arm. Sie sollten zusehen, dass sie hier fertig wurden.

»Irgendjemand tut das offenbar. Wir müssen den Sarg mit ins Kriminaltechnische Zentrum nehmen«, sagte Natalie und strich sich mit der Oberseite des Armes die Haare aus der verschwitzten Stirn.

»Kümmerst du dich um die Genehmigung, Benito?«

Leichen bluten nicht - Roland Benito-Krimi 6

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