Читать книгу Leichen bluten nicht - Roland Benito-Krimi 6 - Inger Gammelgaard Madsen - Страница 7

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Der Grabschänder war eines natürlichen Todes gestorben, was angesichts der Tatsache, wo und wann er gefunden wurde, seltsam klang. Aber das Ergebnis der Obduktion war eindeutig. Der Mann hatte einen akuten Herzstillstand erlitten. Was den verursacht hatte, konnte man nur mutmaßen. Roland dachte an die spöt­tisch Theorie des Kriminaltechnikers; dass die Leiche verschwunden war, konnte sicher auch einige unheimliche Gedanken in Gang setzen. Aber Harald Lund Inversen hatte ohnehin schon ein schwaches Herz gehabt und die anstrengende Arbeit, ein Loch von zwei Metern zu graben, hätte allein für einen Infarkt gereicht. Roland entschied sich, bei dieser Theorie zu bleiben. Jeden konnte ein akuter Herzstillstand ereilen, selbst Profisportler. Der Todeszeitpunkt war nicht ganz so leicht einzugrenzen gewesen, da Natalie mit ihrer Theorie bezüglich der kataleptischen Totenstarre Recht gehabt hatte. Leichenspasmus, wie sie auch genannt wurde. Wenn der Todesfall während anstrengender körperlicher Aktivität erfolgte, trat die Starre innerhalb kürzester Zeit ein und nicht erst, wie gewöhnlich, nach zwei bis drei Stunden.

Harald Lund Iversens Leiche war sofort freigegeben worden, damit seine Frau Lissi mit der Beerdigung nicht warten musste. Sie war widerwillig mitgegangen, als der Sarg ihres Sohnes ausgegraben und zur näheren Untersuchung ins Kriminaltechnische Zentrum gebracht worden war.

»Na, was hat die Witwe gesagt?«

Kurt Olsen stand auf einmal in der Türöffnung und hatte vergessen, die goldene, blank polierte Stanwell-Pfeife, die seiner Unterlippe einen leicht hängenden Zug gab, aus dem Mundwinkel zu nehmen. Sonst rauchte er nur in seinem eigenen Büro. Er rückte seinen Krawattenknoten zurecht und sah aus wie jemand, der auf dem Weg zu einer der gewöhnlichen Besprechungen war, auf die die hohen Tiere stets viel Zeit verwendeten. Diese Meetings waren in Rolands Augen nichts als reine Zeitverschwendung, die von anderen wichtigen Aufgaben abhielt.

»Ihr Sohn hätte in diesem Sarg liegen sollen. Er ist vor einer Woche bei einem Motorradunfall gestorben und wurde gerade erst beerdigt.«

»Verdammt nochmal, die arme Frau! Hat sie irgendeine Ahnung, warum ihr Ehemann ihren Sohn ausgraben wollte? Irgendwie ungewöhnlich und bizarr, nicht?«

Roland nickte. »Selbstverständlich war sie völlig schockiert darüber, auch ihren Mann so plötzlich zu verlieren, und natürlich nicht weniger über den leeren Sarg ihres Sohnes. Das Handeln ihres Mannes war ihr ganz und gar unverständlich. Als ich gehen wollte, fiel ihr allerdings plötzlich etwas ein.«

Der Vizepolizeidirektor bemerkte, dass er die Pfeife noch immer im Mund hatte und stopfte sie in seine Jackentasche.

»Und was?«

»Es bestand wohl ein großes Interesse an den Organen ihres Sohnes. Der Junge lag einige Tage, nachdem ihn die Ärzte für hirntot erklärt hatten, im Koma. Ein künstliches Koma, das einzig dazu diente, seine Organe am Leben zu erhalten. Kein Elternteil wünscht sich, dass ihr Sohn als Ersatzteillager für andere benutzt wird, wie sie es ausdrückte.«

»Eine etwas egoistische Haltung, wenn man weiß, wie viele Patienten auf ein neues Organ warten.«

»Das ist wohl etwas anderes, wenn es plötzlich aktuell wird und um die eigenen Lieben geht. Man hofft ja immer, dass sie doch überleben.«

Kurt Olsen schüttelte den Kopf und kratzte sich am Hals. Der Hemdkragen und der Schlips schienen ihn plötzlich zu stören.

»Harald Lund Iversen hat nicht darauf vertraut, dass man ihre Wünsche respektieren würde, weil man sie unter Druck setzte. Als wären die Körperteile ihres Sohnes plötzlich eine beliebige ›Exportware zum Verkauf für den Meistbietenden‹ geworden, wie sie sich ausdrückte.«

»Beliebig waren sie ja auf jeden Fall nicht«, unterbrach Kurt.

»Es hat Harald Inversen so sehr umgetrieben, dass er …«

»Dass er selbst kontrollieren wollte, ob sein Sohn, nennen wir es intakt in seinem Grab lag. Ist das die Erklärung?«, mischte sich Kurt wieder ein, als ob er keine Zeit hätte, auf Rolands Bericht zu warten.

Roland nickte. »Es deutet einiges darauf hin, ja.«

»Und dann findet er den Sarg leer vor! Kein Wunder, dass er einen Herzstillstand hatte. Aber wo zum Teufel ist die Leiche abgeblieben? Und wann ist sie verschwunden? Sicher vor der Beisetzung?«

»Ja, davon darf man fast ausgehen. Es ist höchst ungewöhnlich. Wo suchen wir nach einer Leiche?«

»Die Sargträger müssen doch gemerkt haben, dass er leer war, sollte man annehmen. Was wiegt ein leerer Sarg?«

Roland zuckte die Schultern. Woher sollte er das wissen? Der Sarg seiner Mutter hatte ungefähr eine Tonne gewogen, so hatte es sich angefühlt, aber das war nicht nur dem Sarg geschuldet. Salvatores hingegen, ein magerer junger Körper von knapp fünfzehn Jahren …

»Auf dem Bild, das wir im Portemonnaie des Vaters gefunden haben, sieht der Sohn aus, als ob er schmächtig gewesen ist, wenn er also nicht besonders viel gewogen hat, haben die Träger es vielleicht nicht bemerkt«, murmelte er.

»Hat die Kriminaltechnik keine Spuren im Sarg gefunden?«

»Sie sind noch nicht fertig mit der Untersuchung.«

Kurt Olsen streckte nonchalant seinen Arm aus und beugte ihn, sodass der Jackenärmel automatisch hoch glitt und er die Ziffern auf seiner modernen Armbanduhr sehen konnte.

»Ich gehe jetzt zu einer Besprechung, die dauert sicher den restlichen Nachmittag. Hältst du mich auf dem Laufenden?«

Roland stapelte einige Papiere, um beschäftigt zu wirken.

»Selbstverständlich.«

Der Fall war wirklich recht ungewöhnlich und konnte nicht wie ein anderer angegangen werden. Gehörte er überhaupt auf seinen Tisch? Eine verschwundene Leiche! Als ob sie nichts anderes zu tun hätten. Kurt Olsens Wohlwollen dem verhältnismäßig neuen Bürgermeister gegenüber kannte offenbar keine Grenzen. Es war ein Skandal, dass so etwas auf einem von Aarhus’ besten städtischen Friedhöfen passieren konnte. Wenn die Presse Wind von dieser Geschichte bekam, wollte er sich die Schlagzeilen gar nicht vorstellen: Leichenraub? Scheintod? Wiederauferstehung?

Fast glaubte er, dass ein Fluch auf dem Tag lag, als in diesem Moment das Telefon klingelte und ihre überforsche Stimme in sein Ohr drang:

»Ich war gerade beim Westfriedhof, was ist da los? Warum habt ihr ein Gebiet da draußen abgesperrt? Ist jemand tot?«

»Was hast du denn auf einem Friedhof erwartet?«, antwortete er müde und abweisend und nicht einmal, um witzig zu sein.

»Ich hab‘ gehört, dass es dem Mann gelungen ist, seinen Sohn auszugraben, ist das korrekt?«

Roland schloss die Augen und drückte Daumen und Mittelfinger fest gegen seine Schläfen. »Wer um alles in der Welt hat dir diese Information gegeben?«

»Ein Journalist von der BT. Stimmt das?«

»Nein, Anne. Das stimmt nicht, und ich gebe im Übrigen keinen Kommentar ab. Woher hast du meine neue Nummer?«

Er bekam keine Antwort, aber spürte ihren Eifer nach schlüpfrigen Details wie Elektrizität durch‘s Telefon vibrieren.

»Komm schon, Roland. Du weißt, dass ich es trotzdem irgendwie herausfinde, also kannst du mir genauso gut die richtige Version geben.«

»Ist dir nicht egal, ob die es vielleicht schon ist?«

Er vernahm ein ärgerliches Seufzen.

»Natürlich nicht. Nachrichten-Online ist ein sehr seriöses Nachrichtenportal, andere Zeitungen kaufen nicht umsonst unsere Artikel.«

Ja, leider Gottes, dachte er.

»Vielleicht ist es gar kein Verbrechen. Der Mann ist eines natürlichen Todes gestorben. Es war ein Herzstillstand, das kannst du schreiben, dann können wir das schon mal klarstellen.«

»Aber der Sarg war ja leer. Wo ist dann die Leiche? Grabschändung ist doch ein Verbrechen.«

Er wusste es. Es musste eine makabre Sensation geschaffen werden, das war das Mantra der Journalisten, und Anne Larsen war eine Meisterin in dieser Disziplin.

»Kein weiterer Kommentar, wie ich bereits sagte. Wenn du das nicht akzeptierst, muss ich auflegen.« Er tat es, bevor sie antworten konnte, weil er wusste, dass sie wie gewöhnlich nicht locker lassen würde.

Eine Zeit lang hatte er bei seiner Arbeit Frieden vor ihr gehabt, als die kleine Redaktion, für die sie früher als Kriminalreporterin gearbeitet hatte, in dem Massengrab der gedruckten Zeitungen unterging und sie eine neue Karriere als Reinigungsfachkraft gestartet hatte. Aber jetzt war sie zurück und hatte sich mit ihrem früheren Journalistenpraktikanten zusammengetan. Sie hatten ein erfolgreiches Onlineportal aufgebaut, das in Nullkommanichts alle Neuigkeiten direkt in das digitale Universum hinaus senden konnte. Er seufzte resigniert.

»Nachrichten-Online ist ein sehr seriöses Nachrichtenportal«, äffte er sie lautstark nach und versuchte ihre Stimme mit dem Nørrebro-Dialekt zu imitieren, was zu seiner eigenen Überraschung ziemlich gut klappte. Na klar, genauso wie alle anderen Sensationsmedien.

»Was hast du gesagt?« Niels Nyborg füllte den kompletten Türrahmen aus. Argwöhnisch schaute er ihn an und glaubte sicher, dass Roland wirklich einen an der Klatsche hatte.

»Sind sie auf dem Friedhof fertig?«, fragte Roland, um von seinem kleinen Selbstgespräch abzulenken.

Niels zog seine Jacke an, sein Blick war beunruhigend. »Ja, da gibt’s nichts mehr zu holen. Sieht so aus, als wäre er allein gewesen, und was er im Grab seines Sohnes verloren hatte, werden wir wohl nie herausfinden. Aber die vom Traumazentrum haben angerufen. Eine sehr schwere Vergewaltigung. Eine Frau hat ihre Freundin heute Morgen gefunden und es ist wirklich ein Wunder, dass das Opfer überlebt hat. Sie ist gerade aus der OP aufgewacht.«

»Ach du Scheiße.« Roland hatte bereits seine Jacke von der Stuhllehne gerissen, wo sie immer zum schnellen Ausrücken bereit hing. »Wo wurde sie gefunden?« Er versuchte mit Niels und dessen langen Beinen Schritt zu halten, während er die Jacke anzog. Eigentlich war es warm genug ohne, aber er wollte nicht nur im Hemd dort aufkreuzen.

»In ihrer eigenen Wohnung. Wenn du zum Krankenhaus fährst, nehme ich mir zusammen mit ein paar Kriminaltechnikern die Wohnung in der Neuen Munkestraße vor. Ich habe sie schon kontaktiert.«

Das alte Aarhuser Stadtkrankenhaus, gerade erst erweitert durch einen Anbau und einen neuen Flügel für das Dänische Neuro-Forschungszentrum, sollte jetzt bald geschlossen und durch das größte Riesen-Krankenhaus des Nordens auf den Feldern bei Skejby ersetzt werden. Gerüchten zufolge wollte die Universität die schönen alten Gebäude zwar übernehmen, aber dennoch war es ein Jammer, fand Roland.

Roland setzte die Sonnenbrille auf, während er vom Parkplatz direkt zum Traumazentrum ging. Gott sei Dank hatten sie von sich aus angerufen und mitgeteilt, dass das Mädchen für einen Besuch der Polizei und eine Vernehmung bereit war, sonst würde man ihn ganz sicher sofort an der Pforte abweisen. Auch mit einer Dienstmarke bekam man hier keine Sonderbehandlung.

Als er an die angelehnte Tür eines Büros klopfte, empfing man ihn auch nicht gerade mit offenen Armen. Eine kräftig gebaute Krankenschwester in einem offenbar zu engen und daher geöffneten Kittel sah sich seinen Ausweis skeptisch an und deutete auf eine Tür am anderen Ende des Flures. Und solche Leute belehrten einen über falsche Ernährungsgewohnheiten und Bewegungsmangel. Sie verwies auf die leitende Krankenschwester, im Hintergrund klingelten die Telefone unaufhörlich; dann knallte sie die Tür zu. Sie hatten viel zu tun. Stress konnte sich auf viele Arten zeigen und er wusste, dass sie es glücklicherweise nicht an den Patienten ausließen. Die letzte jährliche Evaluation der Patientenzufriedenheit hatte das Krankenhaus ganz an die Spitze geschickt. Er ging den Flur hinunter zu der bezeichneten Tür. Der Krankenhausgeruch ließ etwas in seinem Brustkorb verkrampfen und erschwerte ihm das Atmen, er bescherte ihm einfach zu viele hässliche Erinnerungen. Die Tür öffnete sich und eine schlanke, jüngere Frau mit zugeknöpftem Kittel kam ihm mit einem netten Lächeln entgegen. Vermutlich, weil sie noch nicht wusste, wer er war. Die dürfte ihn gerne über was auch immer belehren, dachte Roland bei sich. Er blickte auf das Namensschild auf ihrer Brusttasche, sie hieß Signe Hansen und war zu seinem großen Glück die Person, an die er sich wenden sollte.

»Maja kann nicht besonders lange sprechen, aber es ist wichtig, dass sie Ihnen erzählt, woran sie sich erinnert, bevor sie bewusst oder unbewusst alle Details vergisst. Wann kommt Ihre Kollegin?« Sie steckte einen Kugelschreiber in die Brusttasche und schaute ihm weiter direkt in die Augen. Ihre waren grün mit braunen Einsprengseln um die Pupille herum.

»Kollegin?« Verständnislos runzelte er die Stirn.

»Ja, aber das war doch eine ausdrückliche Bedingung, dass Sie eine Frau herschicken. Sonst kann Maja nicht erzählen, was passiert ist.«

Roland verfluchte Niels innerlich, sollte er derjenige sein, der die Nachricht vom Krankenhaus entgegengenommen hatte.

»Sie haben vielleicht keine Frauen bei der Polizei?«, fragte Signe Hansen in einem fast vorwurfsvollen Ton, hob eine dunkle Augenbrauen und wurde im selben Augenblick von dem Piepen des Pagers in ihrer Kitteltasche abgelenkt.

»Doch, natürlich. Selbstverständlich haben wir auch weibliche Kollegen. Ich hole jemanden her.«

»Gut. Sie kann mich einfach rufen, wenn sie soweit ist, ich sitze in diesem Büro.« Sie deutete auf die Tür, die ihm gerade vor der Nase zugeschlagen worden war. Er ging ins Wartezimmer, wo es erlaubt war, das Handy einzuschalten, und kontaktierte das Polizeipräsidium. Isabella war auf Streife, aber sie sollte sofort zum Krankenhaus geschickt werden, sobald der Diensthabende sie erreichte.

An diesem Vormittag saß nur eine junge Frau im Wartezimmer. Hochkonzentriert tippte sie in ihr Smartphone und schaute nicht einmal auf, als er hereinkam. Heutzutage war es selten, dass man jungen Menschen in die Augen sehen konnte. Selbst sein ältestes Enkelkind, Marianna, gerade neun geworden, war immer in irgendetwas auf einem digitalen Bildschirm vertieft. Solange hatten die Eltern natürlich ihre Ruhe. Olivias Zwillinge in Italien waren zum Glück noch so klein, dass sie noch nicht an so etwas dachten. Aber das würde früh genug kommen. Er setzte sich und wartete, während er das Mädchen betrachtete. Sie war tatsächlich ganz hübsch, diese schöne Kombination aus blonden Haaren und braunen Augen, ganz natürlich, ungeschminkt, vielleicht ein bisschen Wimperntusche, die benutzten ja die meisten jungen Mädchen. Ihr Gesicht war sehr ernst, es waren bestimmt keine Witze, die sie ihren Freunden da gerade schickte. Plötzlich spielte der dünne Apparat eine aktuelle Popmelodie; er hatte sie oft im Radio gehört, wusste aber nicht, wie der Song hieß; das war nicht die Art Musik, die er normalerweise hörte. Sofort klemmte sie sich das Telefon ans Ohr und das schwache »Hi« drückte ebenso viel Ernst aus wie ihre Augen, die nun kurz in seine sahen. Sie schaute jedoch schnell wieder weg, fast als ob sie den zwischenmenschlichen Kontakt fürchtete, und blickte nach unten auf ihre Sneaker mit orangefarbenem Schnürsenkeln und Nike-Logo, und mit denen sie nun nervös zu wippen begann, während sie sprach. Es war unhöflich, die Privatgespräche anderer zu belauschen, dachte Roland, aber in diesem öffentlichen Bereich waren sie ja irgendwie nicht privat, und wenn er vermeiden sollte zu lauschen, müsste er den Raum verlassen. Da ging ihm auf, dass das Mädchen die Freundin sein musste, die Maja am Morgen gefunden hatte. Sie erklärte ihrem Telefongegenüber, dass sie immer noch auf Neuigkeiten warte und bleiben wolle, bis sie mit eigenen Augen gesehen habe, ob Maja okay war. Denn sie habe echt abgefuckt ausgesehen, als sie sie gefunden habe, aber sie würde über Facebook alle auf dem Laufenden halten, versprach sie. Als sie die Verbindung unterbrochen hatte, fing sie sofort wieder an, zu tippen. Roland nahm seinen Dienstausweis aus der Tasche und hielt ihn in ihr Sichtfeld.

»Ich habe gehört, dass Sie Majas Freundin sind. Darf ich Ihnen ein paar Fragen stellen?«

Das Mädchen schaute ihn misstrauisch an, es fiel ihr schwer, sich vom ihrem Smartphone loszureißen.

»Ich muss das gerade noch abschicken.«

»Okay.« Roland wartete und steckte den Ausweis wieder in die Tasche. Er schaute auf die Uhr. Isabella musste bald auftauchen.

»Woher kann ich wissen, dass das eine richtige Dienstmarke ist?«, fragte sie unvermittelt, während sie weitertippte.

Roland zuckte die Schultern. Vernünftiges Mädchen, vorsichtig zu sein war eine gute Sache. Er hoffte, sie war es auch, wenn sie sich im Internet bewegte, wo mindestens genauso viele Gefahren im Verborgenen lauerten.

»Sie können ja eine SMS ans Polizeipräsidium schreiben und es sich bestätigen lassen.«

Endlich schaute sie ihn an.

»Wie heißen Sie?«, leitete er ein.

»Nanette.«

»Haben Sie auch einen Nachnamen?«

»Sunds.«

»Sie haben Maja heute Morgen gefunden?«

Sie nickte und ihre Bestürzung machte die braunen Augen noch dunkler.

»Hat Maja einen Freund?«

»Ja, aber der war’s nicht, falls Sie das glauben.«

»Wie können Sie sich da so sicher sein?« Er warf ihr ein kleines, aufmunterndes Lächeln zu, das nicht erwidert wurde.

»Der wohnt in Kopenhagen.«

»Okay. Und da war er auch gestern Abend und heute Nacht?«

»Ja, er war übers Wochenende bei Maja, ist aber am Sonntagabend heimgefahren. Jetzt ist er wieder auf dem Weg hierher. Ich hab’ ihm heute Morgen sofort eine SMS geschickt, als …«

Eine eingehende Nachricht ließ ihr Handy piepsen, das sie umklammerte wie eine Rettungsboje; der unentbehrliche Kontakt zu den Freunden und der Welt. Sie hatte ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Ding mit dem silberschimmernden Apple-Logo gerichtet, ein ultimatives Statussymbol.

»Wissen Sie, ob Maja gestern Abend mit jemandem ausgegangen ist?«

»Ist sie nicht. Wir waren gestern Nachmittag zusammen beim Spinning und da hat sie gesagt, dass sie sich einen ruhigen Abend machen und früh ins Bett gehen wollte. Wir hatten auch ein etwas wildes Wochenende.«

»Inwiefern wild?«, fragte Roland und hörte selbst, wie naiv das klang.

»Halt in der Stadt und so.«

Jetzt klingelte Rolands Telefon. Es war Niels, der wissen wollte, was er aus dem Mädchen herausbekommen hatte. Roland erklärte ihm, dass er auf Isabella warten müsse. In Majas Wohnung hatten sie keine Anzeichen für einen Einbruch oder Kampf gefunden, alles war in bester Ordnung und es sah nicht aus, als hätte sie Besuch gehabt. Aber das Schlafzimmer fanden sie etwas verwüstet vor, mit einem umgestürzten Nachttisch und einer zerbrochenen Lampe. Sowohl auf dem Boden als auch auf der Bettwäsche war Blut. Die Kriminaltechniker nahmen Proben, es handelte sich um Majas Blut. Roland bedankte sich für die Informationen und konzentrierte sich wieder auf Nanette.

»Hat sich Maja mit jemandem in der Stadt getroffen?«

Nanette schaute ihn beinahe beleidigt an.

»Nein, natürlich nicht. Sie ist verrückt nach Carsten, außerdem war der doch mit.«

Das klang fast, als wäre es etwas ganz anderes gewesen, wenn ihr Freund nicht dabei gewesen wäre.

»Wo haben Sie sie gefunden?«

»Im Bett. Sie hat nicht aufgemacht und ist nicht ans Handy gegangen. Ich hab’ einen Wohnungsschlüssel. Sie hat auch einen für meine, wenn wir uns mal ausschließen oder so, damit wir … als ich ’reingekommen bin war sie nicht da, und ich hab’ nach ihr gerufen. Aber dann, im Schlafzimmer …« Sie drückte zwei Finger gegen die Stirn und schloss die Augen fest, als ob sie so das Bild, das sie heraufbeschwört hatte, wieder verschwinden lassen könnte.

Roland gab ihr einen Moment, um sich zu sammeln.

»Sie sagen also, die Tür war abgeschlossen?«

Nanette nickte.

»Konnten Sie mit ihr reden?«

»Nein, ich dachte, sie wär’ tot. Ich hab’ sofort einen Krankenwagen gerufen.«

Plötzlich schaute sie zur Tür herüber. Er folgte ihrem Blick und stand sofort auf, als er Isabella mit der gleichen blonden Haarfarbe wie Nanette entdeckte. Man hätte sie fast für Schwestern halten können. Roland stellte sie einander vor.

»Ich unterhalte mich noch ein bisschen mit Nanette, während du mit Maja redest.« An Nanette gewandt fügte er hinzu: »Dann werden wir den, der das hier getan hat, bestimmt finden.« Ihre großen, braunen Augen waren voller Tränen. Mehrere ungeklärte schwere Vergewaltigungen in Aarhus – das würde einen Skandal geben. Das würde dem Bürgermeister garantiert nicht gefallen.

Leichen bluten nicht - Roland Benito-Krimi 6

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