Читать книгу Leichen bluten nicht - Roland Benito-Krimi 6 - Inger Gammelgaard Madsen - Страница 6

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Der beste Job der Welt! Keine lange und mühsame Ausbildung! Niemals Arbeitslosigkeit!

So hatte sein Vater seine Profession stets angepriesen, die er schon von seinem Vater übernommen hatte.

Johan Spang, Gott habe ihn selig, hatte oft versucht, seinen jüngsten Sohn zu überreden, auch ins Familienunternehmen einzusteigen, wie auch sein Bruder und seine älteste Schwester. Aber er hatte sich dagegen gesträubt, wie seine andere Schwester, die sich ebenfalls für einen anderen Weg entschieden hatte. Dieser Beruf war mit einem Tabu belegt. Als Kind hatte ihn der Anblick der Särge geängstigt, selbst der der leeren, oder nein, gerade der. Er hatte immer mit Abscheu auf seinen Vater geschaut, wenn er sich an den Tisch setzte, nachdem er einen toten Körper berührt hatte. Ihn in einen Sarg gelegt hatte. Es hatte ihn geprägt, der Sohn eines Bestatters zu sein, und unter keinen Umständen wollte er diesen Beruf eines Tages selbst ausüben.

Er nahm eine der weißen Karten aus dem Visitenkartenhalter, der vor ihm auf dem Palisanderschreibtisch stand. Nicht bloß ein billiger Halter aus Plastik. Nein, er war aus blankem Sterlingsilber. So blank, dass er sich darin spiegeln konnte. Die kurz geschnittenen, gekräuselten Haare mit den weißen Strähnen saßen perfekt – McDonald’s Haare, wie Mathilde sie aufgrund seiner Geheimratsecken spöttisch nannte, die sich wie das berühmte ›M‹ bogen. Er hob das Kinn ein wenig und betrachtete zufrieden den akkurat getrimmten Schnurrbart, der sein jungenhaftes Gesicht männlicher machte. Auch der Bart hatte weiße Sprenkel bekommen. Der Teint war ebenmäßig und sonnengebräunt, aber er sah auch, dass seine sonst ruhigen, stahlgrauen Augen Unsicherheit ausstrahlten. Er kippte die Karte zwischen zwei Fingern, während er darauf starrte. Der Geruch von Druckerschwärze haftete noch daran. Das Papier war so glatt, dass es an den Fingerspitzen unangenehm kitzelte und das Licht vom Fenster reflektierte. Er las den Text: Andreas Spang. Bestatter. Der Name war in gotischer Schrift geschrieben. Schwarze, geschwungene Buchstaben. Der Stil, den sein Großvater einst im 19. Jahrhundert festgelegt hatte, war bewahrt worden. Das Logo war ebenfalls altmodisch. Ein hässliches kleines Kreuz war oben auf die Karte gedruckt, darunter eine traurige schwarze Borte. Das würde er mit der Zeit ändern. Etwas Moderneres musste her. Ein Bestattungsunternehmen musste sich nicht so trist präsentieren. Eine ansprechende Homepage hatte er auch im Sinn. Vielleicht sogar mit einer Art Online-Shop. Mit einem Mausklick könnten die Kunden wählen, ob es eine Erdbestattung oder Einäscherung und welcher Sarg oder welche Urne es sein sollte. Ob die Asche über dem Meer oder einem Vulkan verstreut und ob der Sarg in einem ganz persönlich ausgewählten Bereich begraben werden sollte. Neue Zeiten waren angebrochen.

Pia hatte dafür gesorgt, dass die Visitenkarten genau heute, an seinem ersten Tag, geliefert worden waren. In der Regel hielt seine Schwester zuverlässig Wort. Sie kümmerte sich um die Abrechnung und andere Büroarbeit und auch um die Dekoration des Schaufensters. Frauen kennen sich besser damit aus, war die Devise seines Vaters gewesen, und damals hatte seine Frau, Andreas‘ Mutter, diese Arbeit gemacht, bis sie ihn verließ. Pia, die auch gerade geschieden worden war, übernahm ihren Part. Aber auch hier würde er Änderungen vornehmen, obwohl er genau wusste, dass es keine leichte Aufgabe war, den Tod spannend, einladend – und verkäuflich – zu präsentieren.

Er lehnte sich auf dem Stuhl zurück und betrachtete die Vitrine mit ausgewählten Urnen. Mehrere verschiedene Modelle waren systematisch aufgereiht, wie Aufbewahrungsdosen auf einem Küchenregal. Wieder Pias Werk. Einige hatten kunstvolle Muster, gestaltet von einem bekannten Designer. Die teuren. Andere waren schlicht in einer gedeckten Farbe gehalten. Aber wem bedeutete das etwas? An der gegenüberliegenden Wand hing das Firmenportrait von Johan Spang neben dem seines Vaters. Ihre Augen schienen über den Raum zu wachen. Über ihn. Sie hatten den gleichen ernsten Blick, der zu dem Gewerbe passte. Fast schien diese Berufung angeboren. Beide hatten etwas Ehrfurcht gebietendes. Großvaters Schnurrbart wand sich elegant nach oben, der seines Vaters, nicht ganz so exorbitant, hing nach unten, was ihm einen etwas verschlossenen Ausdruck verlieh. Aber was beide mit ihrer Haltung ausstrahlten, war absolute Disziplin.

Andreas wusste nur zu gut, dass sein neuer Job genau dies erforderte, samt vielen anderen wichtigen Eigenschaften: Mitgefühl, Geduld, Demut, und nicht zuletzt die Fähigkeit, mit Menschen in Trauer und Krise reden zu können. Diese Fähigkeiten hatten sowohl sein Großvater als auch sein Vater besessen, trotz allem. Sein Bruder hingegen hatte überhaupt keine soziale Kompetenz, deswegen kümmerte sich Erling um die schwere Arbeit mit den Särgen und fuhr den Leichenwagen. Andreas hatte keine Ahnung, ob er selbst jemanden trösten konnte. Würde er Gitta und Mathilde fragen, würden sie seine Frage ganz sicher nicht ernst nehmen. War das etwas, das man in dem vierzehntägigen Kurs lernen konnte, bei dem Pia ihn angemeldet hatte?

Erst, als er als Exportverkäufer bei Danish Crown gefeuert wurde, hatte er gemeinsam mit seiner Frau und seiner Tochter beschlossen, in Ringsted die Zelte abzubrechen und heim in die Provinz in Jütland zu ziehen. Nicht, weil der Export von Schweinefleisch zurückging – im Gegenteil -, seine Zahlen waren bloß einfach zu schlecht und so wurde er während der letzten Entlassungsrunde gefeuert. Er verstand nicht, wie die anderen das anstellten. Man konnte doch das Ausland nicht einfach zwingen, dänisches Schweinefleisch zu kaufen. Sie konnten es offenbar.

Aber es war trotzdem nicht so tragisch. Gitta musste nicht einmal ihren Job wechseln, sie wurde einfach auf die neue Route zwischen dem Aarhuser Flughafen und Helsinki versetzt und flog nicht länger Kopenhagen-London. Ihr sei es egal, hatte sie gesagt und ihr einstudiertes Zahnpastalächeln gelächelt; das, was ihn sofort umgehauen hatte, als er sie das erste Mal am Flughafen Heathrow getroffen hatte. Damals wollten sie beide nach Kopenhagen, doch der Flug hatte Verspätung gehabt und sie waren sich zufällig in der Abflughalle begegnet. Er hätte nie geglaubt, dass eine so hübsche Frau, die fünf Jahre jünger war als er, überhaupt Interesse an ihm haben könnte, aber sie hatte ihn mit ihren wasserblauen Augen angeschaut, sie waren ins Gespräch gekommen und als er das Flugzeug verließ, hatten sie Telefonnummern ausgetauscht. Sie hatte ihn angerufen. Er hatte nicht den Mut gehabt. Jetzt war Mathilde geradedabei, sich gut in der neuen Schule einzuleben. Aber wie würde ihr Alltag jetzt aussehen, wenn ihr Vater Bestatter war? Würde er wie sein Vater werden? Er hoffte nicht. Wie würde Gitta reagieren, wenn er nach einem Tag bei den Toten heimkäme und ihren Körper berührte? Wie seine Mutter, die ihren Mann am liebsten in Quarantäne geschickt hätte, als sich neben ihn in das gemeinsame Ehebett zu legen? Hatte er sich doch falsch entschieden, als er diesen Job hier angenommen hatte?

»Du bist es gewohnt, tote Schweine zu verkaufen, was ist der Unterschied?«, hatte Pia zynisch gefragt, damals, als er ihr seine Bedenken geschildert hatte. Seine Geschwister brauchten seine Unterstützung, nachdem ihr Vater vor einem Monat das Zeitliche gesegnet und die Firma ohne Leitung hinterlassen hatte.

Andreas legte die Visitenkarte an ihren Platz und fuhr mit den Händen über die polierte Oberfläche des Holztisches, wie um die Qualität zu beurteilen, aber er wusste, dass er das nicht zu tun brauchte. Sein Vater hatte immer nur Dinge von sehr hoher Qualität angeschafft. Davon zeugte auch das Büro. Aber stilvoll, nicht protzig. Man sollte ja nicht damit hausieren gehen, dass der Tod ein einträgliches Geschäft war, was er jetzt überrascht erkennen musste. Einträglicher als ein Verkäuferjob in der Fleischbranche jedenfalls. Das konnte ganz sicher der entscheidende Baustein in der Beziehung zu Gitta werden. Geld bedeutete ihr mehr als ihm.

»Guten Morgen! Na, du bist da! Erster Tag, was! Hast du schon gefrühstückt?« Pia war dabei, ihre schulterlangen, dunklen, fast schwarzen Haare, ebenfalls klein gekräuselte Locken wie die ihres Vaters, in einen Knoten hochzustecken, als sie in sein Büro kam. Sie redete undeutlich, da eine Haarnadel zwischen ihren Zähnen klemmte. Andreas nickte nur, überwältigt, wieder mit seiner Schwester zusammen zu sein. Es war so lange her. So viel aufzuarbeiten. Vieles, das unausgesprochen war.

»Okay, aber dann einen Kaffee? Ich mache eine Kanne. Dein erster Kunde kommt ja bald und will sicher auch einen. So läuft das hier«, fügte sie hinzu, als wolle sie unterstreichen, dass das hier etwas war, über das er nicht so viel wusste wie sie.

»Nervös?« neckte sie ihn. Er mochte diesen Anflug von Boshaftigkeit nicht, es klang, als mache sie sich über ihn lustig. Oder bildete er sich das bloß ein, genau wie das Gefühl, dass sie gerne in diesem Stuhl hier gesessen hätte und es nur nicht tat, weil Johan Spang in seinem Grab rotieren würde, wenn eine Frau seinen Platz eingenommen hätte? Genau deswegen hatte er es auch in seinem Testament anders verfügt, was am meisten Andreas selbst überrascht hatte. Aber Pia musste dankbar sein und ihm ein bisschen Respekt zeigen. Hätte er den letzten Wunsch seines Vaters nicht erfüllt, hätte das Familienunternehmen schließen müssen. Erling wirkte jedenfalls dankbar. Er hätte es auch schwer gehabt, einen anderen Job zu finden.

»Nein, ich bin nicht nervös«, log er.

»Ich kann’s dir ansehen, Brüderchen. Ich kenne dich. Deinen Blick.«

»Welchen Blick?«

Aber er wusste genau, was sie meinte; er hatte ihn selbst gerade in der Spiegelung im Visitenkartenhalter gesehen.

»Natürlich bist du das, wenn es das erste Mal ist. Ich werde wohl hierbleiben, dann kann ich dir zeigen, wie man sich anstellt. Nicht?«

Er wollte dankend ablehnen, sagen, dass er wohl allein klarkäme, nickte aber stattdessen und warf ihr ein Lächeln zu, das Erleichterung ausdrücken sollte. Pia lächelte zurück und verschwand in die Küche, die direkt gegenüber von seinem Büro lag. Er sah auf den Kalender, der auf der blanken Oberfläche des Tisches lag wie eine Störung der Perfektion. Der schwarze Lederumschlag war voller Fettflecken und abgenutzt. Johan Spang hatte seine Kalender immer darin aufbewahrt. Ein Erbstück seines Vaters, der die gleiche Tradition gepflegt hatte. Als Kind war es Andreas streng verboten gewesen, ihn anzufassen. Er öffnete ihn mit einem vorsichtigen Blick zum Porträt seines Vaters, als ob er erwartete, von ihm angebrüllt zu werden; dann blätterte er zum heutigen Datum. Pia hatte mit ihrer kindlichen Handschrift, die sich seit dem Teenageralter nicht sehr verändert hatte, den Namen seines ersten Kunden aufgeschrieben. Eine Frau, deren Mann gerade verstorben war. Sie war vielleicht betagt. Alt. Er wusste nicht, warum ihn dieser Gedanke ein wenig beruhigte. Oft fand diese Art von Gesprächen bei dem Kunden zu Hause statt, wusste er. Er erinnerte sich deutlich, dass sein Vater wegen dieser Art Treffen ständig weg gewesen war. Aber diese Kundin hatte aus irgendeinem Grund gewünscht, dass das Treffen bei ihnen im Bestattungsinstitut stattfinden sollte. Auch das erleichterte ihn ein bisschen. Hier wäre er zumindest einigermaßen in seinem Element. Er warf einen Blick auf die Uhr. Es war nur noch eine Viertelstunde, bis sie kommen würde.

Leichen bluten nicht - Roland Benito-Krimi 6

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