Читать книгу Leichen bluten nicht - Roland Benito-Krimi 6 - Inger Gammelgaard Madsen - Страница 8

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Pia hatte vollständig das Kommando übernommen. So hatte Andreas sie sehr gut in Erinnerung – herrschsüchtig und dominant. Er überlegte, wie wohl ihre Zusammenarbeit mit ihrem Vater gewesen war. Johan Spang tolerierte die Mitbestimmung der Frauen nicht. Wie es seine Mutter trotz allem so lange mit ihm ausgehalten hatte, begriff er nicht. Es hatte der Mann zu sein, der sowohl die Finanzen als auch die Arbeit steuert. Vielleicht war Pia ihm untertänig gewesen und revanchierte sich jetzt, indem sie ihren neuen Chef von Anfang an auf seinen Platz verwies. Der kleine Bruder, den sie immer hatte knechten können. Aber die unglückliche Frau auf dem Stuhl ihnen gegenüber sah diese Seite von ihr nicht. Er musste zugeben, dass Pia ihren Job verstand. Sie sprach beruhigend und verständnisvoll, zeigte Entwürfe für Anzeigen und Blumendekoration für die Kirche und schlug vor, die Beisetzung könne in der Kirche in Vejlby stattfinden. Die Frau nickte bloß, nahm ihre Brille ab und trocknete sich die Augen mit einem weißen, mit Spitzen besetzten Baumwolltaschentuch, das sie aus der Tasche gefischt hatte. Es war, als ob ihr erst jetzt aufging, dass sie ihren Mann nach 40 Jahren für immer verloren hatte, und Andreas fühlte einen starken Druck in der Brust, als er die Trauer so deutlich in ihrem Gesicht sah. Er schämte sich innerlich dafür, nicht die gleichen Gefühle gehabt zu haben, als sein Vater starb. Er hatte nicht eine einzige Träne vergossen, als er die Nachricht von seinem plötzlichen Tod erhalten hatte. Nun, wo er diese echte Trauer sah, überkam ihn der Drang zu weinen, obwohl er den Verstorbenen überhaupt nicht gekannt hatte. Eignete er sich für diesen Job, wenn es ihm so ging? Würde das mit der Zeit nachlassen?

Sie waren zu der Präsentation der Särge gekommen, als Pia in ihren Ausführungen abrupt unterbrochen wurde. Eine Frau in einem geblümten Sommerkleid trat plötzlich durch die Tür. Ihr Gesicht war vor Wut und Verzweiflung verzerrt. Anklagend deutete sie auf Pia.

»Wo ist er?«, schrie sie mit einer Stimme, die nicht klang, als ob sie von einem so schmächtigen Menschen käme.

Pia erwiderte ihren Blick ruhig und schien sie plötzlich wiederzuerkennen. »Was meinen Sie, Frau Iversen?« Schnell stand sie auf, führte die aufgewühlte Frau in den Vorraum und schloss die Tür hinter sich. Andreas war auf einmal mit der Kundin alleine und hatte keine Ahnung, was er sagen sollte oder was da vor sich ging. Die Frau schaute ihn nervös an, ganz offensichtlich interessierte sie das auch.

»Sollen wir uns jetzt die Särge ansehen?«, fragte er und öffnete den Katalog mit Bildern und Preisen des Sortiments. Er deutete auf einen ganz gewöhnlichen weißlackierten.

»Ja, der ist gut«, sagte die Frau, ohne das Bild richtig anzusehen und benutzte wieder das durchnässte Taschentuch. Sie schielte zu der geschlossenen Tür, durch die die lautstarke Stimme der Fremden drang, ohne dass sie jedoch verstehen konnten, was sie sagte. Er entdeckte jetzt auf der Preisliste, dass er auf den billigsten Sarg gedeutet hatte, aber das passte sicher gut zum Status der Witwe. Sie sah nicht wie jemand mit viel Geld aus.

Hinter der Tür wurde es still. Kurz darauf kam Pia zurück und lächelte entschuldigend.

»Bitte entschuldigen Sie die Störung. Es hat sich als Missverständnis herausgestellt.« Sie setzte sich. »Wir sind sicher bei den Särgen angekommen, nicht?«

»Ich habe den ausgewählt, den ihr Kollege mir empfohlen hat«, sagte die Frau heiser. Ihre Augen hatten einen neugierigen Schimmer angenommen, und hätte die Trauer nicht gerade jetzt alles in ihrer Welt überschattet, hätte sie ganz sicher um eine Erklärung für die sonderbare Unterbrechung gebeten.

»Welcher ist das?«, fragte Pia lächelnd.

Andreas deutete auf die Abbildung und sie warf ihm sofort einen scharfen Blick zu.

»Den würde ich jetzt nicht gerade empfehlen, Frau Kjeldsen. Er ist von nicht so hoher Qualität wie zum Beispiel dieser hier.« Sie drehte den Katalog zu der Kundin um und zeigte ihr einen Sarg aus hellem Birkenholz. »Der soll doch auch präsentabel aussehen, wenn er in der Kirche steht, nicht? Das sind Sie Ihrem Mann doch wohl schuldig?«

Die Witwe nickte passiv und sank wieder traurig in sich zusammen.

»Okay, dann nehmen wir stattdessen die Variante aus Birkenholz«, korrigierte Pia mit einem tadelnden Blick in Andreas‘ Richtung. Der kostete fast siebentausend Kronen. Andreas wurde schlecht und er trank von dem kalten Kaffee in seiner Tasse, was ihm nur eine noch stärkere Übelkeit bescherte.

Pia besprach die letzten notwendigen Details der Beerdigung mit der Witwe, unter anderem, wann sie die Leiche ihres Mannes aus dem Krankenhaus abholen konnten, wo er nach kurzer Krankheit verstorben war. Pia begleitete sie zur Tür und verabschiedete sie. Versprach, dass alles genau nach Plan verlaufen würde. Andreas stand auf, um die Beine zu strecken. Während des gesamten Gesprächs hatte sich sein Körper verkrampft angefühlt und er zweifelte immer mehr daran, dass er mit dieser Arbeit würde umgehen können. Und er hatte bisher noch nicht einmal das Schwerste durchgemacht. Den Kontakt mit den Toten und den Särgen.

»Das lief doch prima«, meinte Pia, als sie zurückkam und die Tassen auf ein Tablett stellte.

Die Witwe hatte den Kaffee nicht angerührt, aber sie hatte das nasse Taschentuch auf dem Tisch liegen lassen. Pia warf es in den Papierkorb.

»Pia, ich weiß echt nicht, ob ich das hier schaffe.«

Sie stoppte ihn auf dem Weg in die Küche mit dem Tablett und schaute ihn vorwurfsvoll an.

»Was meinst du? Das lief doch prima, habe ich gesagt.«

»Ich merke, dass mir diese Art Gespräche nicht liegt. Ich habe keine Ahnung, wie ich die Leute trösten soll, ich …«

Pia ging schnell in die Küche und stellte das Tablett ab, sodass die Tassen klirrten, dann kam sie zurück und stellte sich direkt vor ihn wie eine unüberwindbare Mauer.

»Du sollst nicht trösten, Andreas. Du sollst dafür sorgen, dass unsere Kunden nicht an all das denken müssen, was mit einem Todesfall einhergeht. Sie haben ohnehin schon genug im Kopf. Es ist allein schon ein Trost, dass wir uns um all das Organisatorische kümmern.«

»Vielleicht, aber …« Obwohl er versuchte, den Blickkontakt zu vermeiden, konnte er dem Blick ihrer scharfen, schwarzen Augen nicht ausweichen. Sie leuchteten so intensiv wie die seines Vaters und Großvaters auf den Porträts.

»Jetzt sei mal nicht so egoistisch, ja, Andreas! Denk an Gitta und Mathilde, die haben sich hier so gut eingelebt. Denk an Papa und Opa! Wenn du abspringst, zerfällt ihr ganzes Lebenswerk!«

»Ich bin mir recht sicher, dass du das hier gut im Griff hättest.«

»Wie sollte ich das? Und dann mit einem geistig behinderten Bruder als Teilhaber!«

»Nennst du Erling geistig behindert?«

»Ist er doch. Das weißt du genau. Ich könnte den Laden unmöglich alleine schmeißen.«

»Ach, und ob. Einen Sarg für siebentausend Kronen! Sind wir wirklich die Aasgeier, zu denen uns manche machen?« Seine Stimme war nun ein Knurren, das registrierte er selbst.

»Sie kann es sich leisten. Hast du nicht gesehen, in welchem Auto sie gekommen ist? Ein neuer Audi! Und weißt du, wer ihr Mann war?«

Andreas schüttelte den Kopf und setzte sich müde zurück auf den Stuhl, auch wenn sich seine Beine immer noch steif anfühlten.

»Ist es nicht egal, wer er ist?«

»Nicht ganz. Er hatte etliche Vorstandsposten in großen Unternehmen hier in der Stadt inne, weißt du nicht, was die verdienen? Die hat genug Geld!«

»Sie sah aber nicht so aus!«, verteidigte er sich.

Pia setzte sich geduldig auf den Stuhl ihm gegenüber und strich sich eine verirrte Locke hinters Ohr.

»So kann sich Trauer auch zeigen, Bruderherz. Sie hat es einfach nicht geschafft, das Betty Barclay Kostüm anzuziehen und die Gucci-Tasche rauszusuchen.«

Andreas starrte auf den blanken Tisch und schüttelte über ihre Bemerkung den Kopf.

»Und wer war diese Frau, die das Ganze mittendrin unterbrochen hat? Und von wem hat sie gesprochen? Wer war das, von dem sie glaubte du wüsstest, wo er ist?«

»Ach, die!« Pia winkte ab, als ob sie eine lästige Fliege verscheuchte. »Das ist eine andere Form, in der sich Trauer zeigen kann. Einige werden paranoid und glauben, wir hätten ihre Lieben gestohlen. Die wollen der Tatsache nicht ins Auge sehen, dass sie dahingeschieden sind.«

»Da kannst du es sehen! Mit so etwas würde ich überhaupt nicht klar kommen. Sie braucht doch Hilfe! Von einem Psychologen! Ich bin kein Psychologe!« Andreas gestikulierte wild.

»Das musst du auch nicht sein, kleiner Idiot. Du lernst eine Menge darüber, wie man so etwas meistert, in dem Kurs, in den du nächste Woche gehst«, beschwichtigte Pia und versuchte ihm durch die Haare zu wuscheln, wie sie es immer getan hatte, als sie Kinder waren, wenn er sich dämlich angestellt hatte. Unbewusst zog er sich vor ihrer Berührung zurück.

»Außerdem«, fuhr sie ungerührt fort, »kennst du Mama. Sie würde nie zulassen, dass ich hier die Leitung übernehme. Du warst immer ihr … Augenstern.«

Nun schaute er sie an, nicht nur aufgrund der Bitterkeit in ihrer Stimme.

»Was hat Mama damit zu tun?«

Pia erhob sich irritiert vom Stuhl und ging ans Fenster. Ihr Blick folgte einen Moment lang abwesend den Autos, die draußen auf der Straße vorbeifuhren.

»Ich habe ganz vergessen, dass du so lange weg warst. Sie ist natürlich wieder angekrochen gekommen. Sonderbarerweise hat Papa sie nicht aus dem Testament gestrichen, wie er es hätte tun sollen, nachdem sie … sie besitzt jetzt die Hälfte der Firma.«

Andreas wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Er hatte mit seiner Mutter nur sehr wenig Kontakt gehabt, seit sie seinen Vater verlassen hatte. Ihr neuer Mann hatte all ihre Aufmerksamkeit beansprucht und sie wohnten einfach zu weit weg. Mathilde kannte ihre Oma kaum. Aber er hasste sie nicht, wie es seine Geschwister taten. Sie waren dichter dran gewesen.

»Dann seht ihr sie jetzt bestimmt oft?« Es überraschte ihn, eine zurückhaltende Hoffnung in seiner Stimme zu hören.

»Nicht, wenn wir es vermeiden können. Aber sie ist auch nicht clever genug, um ein Geschäft zu führen. Es reicht nicht, Inhaber zu sein. Halber Inhaber«, korrigierte sie, denn Andreas besaß ja die andere Hälfte. Irgendwie verstand er die Bitterkeit seiner Schwester gut. Sie hatte über Jahre hinweg zusammen mit ihrem Vater und ihrem Bruder so viel Arbeit in das Bestattungsunternehmen gesteckt, während er einfach nach Seeland abgehauen war und sich geweigert hatte, mit dem Ganzen etwas zu tun zu haben. Jetzt war dieses blühende Geschäft seins und sie nur angestellt. Johan Spang hatte das in seinem Testament festgelegt und Andreas hatte keine Ahnung wieso. Sie hatten sich überhaupt nicht nahegestanden. Es wunderte ihn auch, wie es seine Mutter geschafft hatte, die Hälfte zu erben. Aber was wusste er schon darüber, was sein Vater für sie empfunden hatte. Er wusste nicht einmal, wie er die Scheidung aufgenommen hatte. Seine Mutter hatte ihn persönlich angerufen und ihm erzählt, dass sie einen anderen Mann getroffen habe und Johan verlassen werde, wie sie ihn gegenüber ihren Kindern immer genannt hatte, nie ›Papa‹. Mathilde war gerade erst geboren und er hatte sich um so viel anderes in seinem Leben kümmern müssen.

Pia drehte sich vom Fenster weg und sah in anklagend an.

»Ich finde, du solltest dich nützlich machen und den Pfarrer anrufen. Die Familie will ein schnelles Begräbnis. Es darf nichts schief gehen! Eine Beerdigung kann man nicht einfach an einem anderen Tag wiederholen.«

»Was soll ich ihm sagen?«

»Du machst bloß auf den Todesfall aufmerksam und beschreibst, wie die Angehörigen die Zeremonie wünschen, das, was wir gerade besprochen haben. Der Küster wird sich dann später melden und uns mitteilen, wann der nächstmögliche Termin frei ist und welcher Pfarrer die Trauerfeier abhalten kann. Erst danach kannst du die Urkunden für die Gemeinde fertig machen. Dann kannst du versuchen, den Steinmetz zu erreichen. Also, falls er nicht gerade in der Kneipe sitzt. Der Grabstein soll vorbereitet werden. Um Blumen und Schmuck für den Sarg werde ich mich wohl kümmern, und mit dem Ausfüllen diverser Unterlagen helfe ich dir natürlich jetzt beim ersten Mal. Sterbegeld muss in diesem Fall wohl nicht beantragt werden.«

Es zuckte leicht um ihren Mund, aber er konnte nicht erkennen, ob es wirklich ein kleines Lächeln war.

»Wenn du mit dem Pfarrer eine Vereinbarung getroffen hast, kannst du die Zeitungsredaktion kontaktieren und die Anzeige aufgeben. Das kriegst du sicher alleine hin? Der Text steht hier.« Sie deutete auf einen handgeschriebenen Zettel auf dem Tisch. »Zwei Spalten à dreißig Millimeter. Mehr konnte sie ihrem Ehemann trotz allem nicht opfern. Bis zur Beerdigung müssen wir dann die Leiche vorbereitet haben.«

Die Leiche! Andreas erschauderte. Dieses Wort klang so geschlechtslos und anonym. Der Text, auf den Pia gedeutet hatte, zeigte, dass es sich um einen Mann handelte. Unser geliebter Vater, Schwiegervater und Großvater, begann er. Ein Mensch mit Familie. Ein Mensch, der nicht mehr war, und den er nun auf diese letzte Reise schicken sollte. Er wusste immer noch nicht, ob er das hier fertig bringen würde.

Leichen bluten nicht - Roland Benito-Krimi 6

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