Читать книгу Leichen bluten nicht - Roland Benito-Krimi 6 - Inger Gammelgaard Madsen - Страница 9

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Isabella wirkte erschüttert, als sie endlich aus dem Traumazentrum kam. Nanette bekam immer noch keine Erlaubnis, ihre Freundin zu besuchen, man sagte ihr, sie solle später wiederkommen.

Roland begleitete Isabella nach unten zum Parkplatz. Sie war still und leichenblass.

»Kann ich mit dir fahren? Kim hat mich bloß mit dem Dienstwagen hier abgesetzt.«

»Selbstverständlich.«

Roland öffnete ihr die Beifahrertür und setzte sich danach selbst ans Steuer.

»Hast du etwas aus ihr herausbekommen?«

Er betrachtete Isabellas versteiftes Profil und ließ das Auto an. Er hatte sie selbst während der schlimmsten Obduktionen noch nie so gesehen.

»Männer sind Schweine!«, sagte sie verbissen.

»Nicht alle. Mikkel ist doch ein feiner Kerl!«

Er wollte ein kleines Lächeln bei der Erwähnung ihres Freundes und Lebensgefährten sehen, der mal sein Partner gewesen war. Jetzt war er damit beschäftigt, eine Leiche zu finden, die vom Westfriedhof verschwunden war. Aber Isabella lächelte nicht.

»Der hier muss einfach schnell gefunden werden, Roland. Nicht auszudenken, wenn er wieder zuschlägt! Es ist außergewöhnlich makaber. Du hättest sie gerade sehen sollen. Sie wurde bis zur Unkenntlichkeit verprügelt, er hat sie so gefesselt, dass sie Fleischwunden an den Knöcheln und Handgelenken hat und sie …« Isabella schüttelte den Kopf, gab auf und starrte durchs Seitenfenster hinaus in den Verkehr. Er sah, dass sie Tränen in den Augen hatte und wartete geduldig. Sie hielten an der roten Ampel in der Nørreport, als sie sich gefangen hatte und mit heiserer Stimme fortfuhr.

»Sie hat ernste Verletzungen, sowohl anal als auch vaginal, sagt die Krankenschwester. Sie mussten sie operieren, er … sie …« Es war deutlich, dass Isabella nicht darüber reden wollte. »Er hat einen Gegenstand benutzt, von dem man noch nicht weiß, worum es sich handelt. Maja weiß es auch nicht. Sie ist ohnmächtig geworden, als … Sie mussten ihre Gebärmutter entfernen … sie ist erst 20, verflucht nochmal!«

»Hat sie ihn nicht gesehen? Kann sie nicht einfach eine simple Beschreibung geben? Was auch immer.«

»Nichts. Sie war ins Bett gegangen und eingeschlafen, als er sich plötzlich im Bett auf sie geworfen und ihr den Mund zugehalten hat. Er muss sich irgendwo in ihrer Wohnung versteckt haben. Unheimlich. Sie hatte keine Ahnung, dass er die ganze Zeit dort war und nur darauf gewartet hat, dass sie einschläft. Er hat ihr aufgelauert, während sie gebadet hat, und … aber mehr habe ich nicht aus ihr herausbekommen. Als ich sie gebeten habe, mir eine Personenbeschreibung zu geben, ist sie völlig in Panik geraten. Die Apparate fingen an zu heulen und die Krankenschwester kam hereingestürzt und hat mich rausgejagt. Maja war zu Tode erschrocken, das steht fest.«

»Und sie ist sich sicher, dass sie ihn nicht kennt? Sie hat ihn nicht selbst hereingelassen?«

»Das müsste sie doch verdammt nochmal wissen, wenn sie es getan hätte! Sie hatte keine Ahnung. Plötzlich war er einfach da.«

Roland bog auf den Polizeiparkplatz ein. Wie war der Vergewaltiger reingekommen, wenn sie nicht selbst aufgemacht hatte? Die Tür war ja abgeschlossen, hatte Nanette gesagt. Also, falls sie die Wahrheit sagte.

»Würdest du ihre Familie und Kommilitonen überprüfen? Ihre Freundin im Krankenhaus, die sie gefunden hat, darfst du auch gerne etwas näher unter die Lupe nehmen. Sie heißt Nanette Sunds. Wir müssen wissen, ob ihre Aussage korrekt ist. Du bekommst meinen Bericht über unser Gespräch im Wartezimmer so schnell wie möglich.«

»Aber Maja will nicht, dass ihre Familie informiert wird.«

»Hat sie das gesagt? Was ist das für ein Unsinn? Natürlich müssen sie erfahren, was passiert ist.«

»Ich habe es ihr versprochen, Roland.«

»So etwas kannst du nicht versprechen, Isabella. Wieso dürfen sie nichts davon wissen?«

»Sie sagte, dass sie bloß ihrem Freund die Schuld geben würden. Sie können ihn nicht ausstehen.«

»Und sie ist sich sicher, dass er es nicht war?«

»Ja.«

»Wie das, wenn sie den Vergewaltiger nicht gesehen hat?«

»So etwas weiß man wohl einfach. Sie ist mir ein paar Mal entglitten, also ohnmächtig geworden, und ich habe mich nicht getraut, sie zu sehr unter Druck zu setzen.«

Isabella schnallte sich ab und stieg aus dem Auto. Sie schwankte einen Augenblick, was Roland besorgt registrierte. War es verkehrt gewesen, diese junge Beamtin zu einer so traumatischen Vernehmung eines Opfers in beinahe ihrem eigenen Alter zu schicken? Aber Isabella war die einzige qualifizierte Beamtin, die gerade verfügbar gewesen war. Sie hatten keine andere Wahl gehabt. Sie musste auch lernen, mit so etwas umzugehen, sonst sollte sie sich lieber nach einem anderen Job umsehen.

»Diesen Freund sollten wir sehr gründlich überprüfen. Der Freundin zufolge wohnt er in Kopenhagen, ist aber auf dem Weg hierher.«

Isabella nickte und ging vor ihm zum Aufzug. Schweigend fuhren sie nach oben. Ihre Wangen hatten ein bisschen mehr Farbe bekommen, aber in ihrem Blick lag etwas verborgen, etwas, das eher nach Angst als nach Entsetzen über diesen brutalen Übergriff auf eine junge Frau aussah. Sobald die Aufzugtür aufgeglitten war, ging sie hastig ins Büro, ohne ihn anzuschauen.

»Ich sehe bald einen Bericht von dir, ja, Isabella?«, rief er ihr nach. Zur Antwort hob sie eine Hand.

»Die vom Kriminaltechnischen Zentrum haben angerufen«, sagte die Dame am Empfang, als er an ihr vorbeiging. Sie war bereits so lange dort, dass sie fast zum Inventar gehörte; keiner bemerkte sie. Sie war bloß immer treu zur Stelle in ihrem Bürostuhl, wenn sie nicht in der Kantine war, um für den Chef Kaffee zu holen.

»Irgendeine Nachricht?«

»Du sollst zurückrufen.«

Er nickte nur über diese Selbstverständlichkeit. Sie hatten vielleicht etwas Neues über den Sarg. Kurt Olsens Büro war immer noch leer. Seine Tür war offen und der schwache Duft von Tabak wogte hinaus, aber Roland spürte kein Verlangen nach Nikotin. Nur das Kaugummi war immer noch sein Laster, aber daran hatte er sich so gewöhnt, dass er es wohl nie wieder ablegen würde. Es war zu einem Teil seiner Persönlichkeit geworden – wie einst die Zigaretten.

Das Kriminaltechnische Zentrum hatte keine Spuren im Sarg gefunden, die beweisen konnten, dass tatsächlich ein Mensch darin gelegen hatte.

»Auf dem Seidenfutter haben wir Haare gefunden, aber die scheinen auf den ersten Blick nicht von einem Menschen zu stammen«, sagte der Techniker.

Roland kratzte sich den Nacken. »Nicht von einem Menschen? Aber was in aller Welt ist es dann?« Sofort befürchtete er die Antwort »Vampir« oder »Werwolf«, aber der junge Kriminaltechniker hatte dieses Mal offenbar keine Horrorkomödie-artigen Ideen.

»Sie wurden zur näheren Analyse geschickt«, entgegnete er nur.

Sonst gab es nichts Verwendbares. Die Fingerabdrücke auf dem Sarg waren nach der Zeit in der feuchten Erde unbrauchbar.

Kim hatte das Bestattungsunternehmen ausfindig gemacht, das für die Zeremonie verantwortlich war, sodass Roland mit dem Inhaber sprechen konnte, die Nachricht lag auf seinem Tisch. Roland seufzte laut. Nach einer Leiche zu suchen wirkte so unverhältnismäßig, besonders, wenn es sich anscheinend nicht um ein Verbrechen handelte. Wäre die Leiche gestohlen worden, wäre es selbstverständlich etwas anderes, aber gehörte der Fall dann nicht zur Lokalpolizei wie jeder andere Diebstahl? Hier konnte man sich nicht nach irgendeinem Präzedenzfall richten. Die Leiche konnte doch eigentlich nur bei dem Bestatter sein. Er traf eine Entscheidung und verließ sein Büro.

Eine kleine Melodie spielte munter, als er die Tür öffnete. Das erschreckte ihn, da er in einem Betrieb wie diesem totale Stille erwartet hatte. Er stand in einem Vorraum mit ein paar hellgrauen Lehnstühlen und einer ausladenden Grünpflanze auf einem runden Glastisch am Fenster, auf dem er spiegelverkehrt Pietät Spang las. Der Raum war heller und harmonischer als er erwartet hatte, als er von der Straße aus die triste Fassade gesehen hatte. Auf dem Tisch lagen einige Flyer. Mein letzter Wille war die Überschrift, schwarze Schrift auf dem abgetönten Bild einer weißen Tulpe und mit dem Logo der Dänischen Bestatter darunter. Er räusperte sich. Er konnte nicht behaupten, dass er es genoss, hier zu sein, obwohl dieser Ort ein ebenso natürlicher Teil seiner Arbeit sein müsste wie das Institut für Rechtsmedizin. Aber das war dennoch etwas anderes. Näher dran. Näher am Grab. Die allerletzte Station des Lebens vor dem Himmel oder der Hölle.

Er wurde mitten in seinen morbiden Gedanken unterbrochen, als ein Mann, wohl ungefähr um die dreißig, die nächstgelegene Tür öffnete und ihm mit ausgestreckter Hand und lächelnd entgegenkam.

»Bitte entschuldigen Sie die Wartezeit.«

Der Mann hatte Geheimratsecken, kurzes, krauses Haar mit einigen grauen Sprenkeln, einen kleinen, gepflegten Schnurrbart und war mit einem weißen Hemd, einer schwarzen Hose und schicken Schuhen bekleidet. Er stellte sich als Andreas Spang vor. Roland bemerkte, dass er einen Ehering trug. Er stellte sich ebenfalls vor und zeigte seinen Dienstausweis; in den Augen des Bestatters erschien ein sowohl überraschter als auch erschrockener Ausdruck.

»Sollen wir dann nicht in mein Büro gehen?«

Roland folgte ihm durch die Tür, durch die der Bestatter gerade gekommen war, und hier sah es schon mehr wie ein Bestattungsunternehmen aus mit der Ausstellung diverser Urnen in einem Schaukasten und mehreren Flyern und Broschüren auf einem blankpolieren Tisch. Alles in dem Büro hatte eine exklusive und teure Ausstrahlung, aber auf eine antike Weise, die nicht zu dem jungen Mann passte, der sich auf den Bürostuhl aus braunem Leder setzte und ihn abwartend ansah. Der Stil passte besser zu den beiden älteren Herren, die als hübsch ausgeführte Originalgemälde in Goldrahmen verewigt an der Wand hingen.

»Möchten Sie einen Kaffee?« Andreas Spang trommelte nervös mit den Fingern auf die blanke Tischplatte.

»Nein, aber danke.«

Roland setzte sich und schielte zu den Bildern verschiedener Särge in einem Katalog, der aufgeschlagen auf dem Tisch lag. Eine Holzkiste für den letzten Aufenthalt des Körpers auf dieser Erde. Die Erinnerungen an Salvatores schlichten Sarg, den er vor einigen Jahren mit durch die schmalen, heißen Straßen Neapels getragen hatte, durchfluteten seinen Magen wie Säure, noch verstärkt durch seinen unerbittlichen Hass auf Salvatores Mörder, die nie ausfindig gemacht und bestraft worden waren. Wie die seines Vaters. Die Camorra war ein verborgener Feind, gnadenlos und ohne Gesicht.

»Natürlich bin ich sehr gespannt zu hören, wie ich der Polizei weiterhelfen kann. Ich habe das Geschäft gerade von meinem Vater übernommen«, er warf einen respektvollen Blick zu dem Porträt an der Wand, »daher kenne ich die täglichen Routinen noch nicht richtig.«

Roland konnte nicht umhin, ein wenig zu lächeln. »Es ist nun keine tägliche Routine, dass ich hierher komme, aber ich habe ein paar Fragen ein Begräbnis betreffend, um das Sie sich vor ungefähr einer Woche gekümmert haben.«

»Wie gesagt habe ich das Geschäft gerade erst von meinem Vater übernommen, der vor einem knappen Monat verstorben ist. Heute ist mein erster Arbeitstag, deswegen kann ich Ihnen leider nicht behilflich sein. Vielleicht kann es Pia, meine Schwester, sie hat sich nach dem Tod unseres Vaters um alles gekümmert. Aber sie ist im Augenblick nicht im Haus. Worum geht es denn?«

»Eine verschwundene Leiche«, erwiderte Roland und bemerkte die Irritation im Gesicht seines Gegenübers.

»Das klingt merkwürdig. Wie … verschwunden?«

»Es handelt sich um einen jungen Mann, der vor zehn Tagen bei einem Motorradunfall ums Leben gekommen ist. Als der Sarg geöffnet wurde, stellte sich heraus, dass er leer war.«

»Leer! Geöffnet? Warum wurde der Sarg denn geöffnet?«

Der Bestatter starrte Roland entsetzt an.

»Das wird derzeit noch geklärt. Aber nachdem sich ihr Unternehmen um die Bestattung gekümmert hat, sind Sie die Letzten, die mit der Leiche in Kontakt waren. Daher wenden wir uns zunächst an Sie. Ich würde natürlich gerne wissen, falls in diesem Zusammenhang irgendwelche Besonderheiten aufgetreten sind.«

Andreas Spangs linkes Auge zuckte leicht, offenbar ein Nerv, der nicht tat, was er sollte.

»Ich kann mir unmöglich vorstellen, dass unser Geschäft etwas damit zu tun hat. Das ist eine sehr ernste Anklage. Es muss etwas anderes passiert sein, das …«

»Was würden Sie vermuten?«

»Ja … das weiß ich nicht. Ich kenne das Prozedere wie gesagt noch nicht, und …«

»Wann ist Ihre Schwester zurück?«

»Ich weiß es nicht. Sie hatte zusammen mit meinem Bruder etwas zu erledigen. Soviel ich weiß, ging es um einen Sarg, der zur Kapelle gefahren werden sollte.«

Roland schaute auf die Uhr und stand auf. Wenn es stimmte, dass es der erste Arbeitstag des Mannes war, konnte er unmöglich etwas über die Sache wissen. Er legte seine Visitenkarte auf den Tisch vor Andreas, der sich ebenfalls sofort erhob.

»Würden Sie sie bitten, mich zu kontaktieren?«

»Ja, selbstverständlich.«

Er begleitete Roland zur Tür.

»Es tut mir sehr leid, dass ich nicht helfen konnte. Aber ich glaube nicht, dass es etwas mit uns zu tun hat«, sagte er und öffnete die Tür. Die muntere Melodie ertönte wieder.

»Wir müssen hören, was Ihre Schwester zu sagen hat.«

Roland sah, dass der Bestatter ihm durch die Scheibe in der grauen Fassade hinterherschaute, als er sich in sein Auto setzte. Er war froh, hier wegzukommen. Hoffentlich dauerte es lange, bis er sich wieder an so einem Ort aufhalten musste, umgeben von Urnen, Särgen, Broschüren über den Tod und den letzten Willen.

Leichen bluten nicht - Roland Benito-Krimi 6

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