Читать книгу Leichen bluten nicht - Roland Benito-Krimi 6 - Inger Gammelgaard Madsen - Страница 17

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Es fiel ihm schwer, sich zu konzentrieren, als er zurück ins Polizeipräsidium kam. Die Büros waren leer, alles stand so still wie die Luft; hier konnte man kaum atmen. Waren alle einfach nach Hause gegangen? Er wusste, dass das sicher nicht der Fall war, obwohl es völlig berechtigt gewesen wäre. In einer derart heißen Sommerperiode wunderte er sich darüber, dass man in Dänemark keine Siesta einführte wie in seinem Heimatland. Um diese Tageszeit war da unten alles geschlossen, alle waren zu Hause, um gemeinsam mit der Familie zu essen und sich zu entspannen, bis es kühler wurde und die Geschäfte und Behörden wieder öffneten. Und momentan war es nicht einmal in Neapel so heiß wie hier. Kurt Olsen war noch nicht von der Pressekonferenz zurückgekommen und hatte Rolands Abwesenheit wohl gar nicht bemerkt. Gut so! Ihm war bewusst, dass er es in der letzten Zeit übertrieben hatte. Wenn Irene seine Hilfe brauchte und anrief, ließ er auf der Stelle alles stehen und liegen und fuhr zu ihr. Egal, worum es ging. Nach dem Unfall damals hatte er angefangen, seine Prioritäten anders zu setzen. Irene, die Kinder und Enkelkinder kamen nun vor der Arbeit. Das war auch einer der Gründe dafür, dass er sich nicht darum bemüht hatte, Kurt Olsens Nachfolger zu werden. Nächstes Jahr, hatte der Vizepolizeidirektor gesagt, nächstes Jahr wolle er seinen Ruhestand genießen, dann müsse man sehen, wer hier das Ruder übernähme. Ob es ein Externer werden würde oder einer von ihnen. Kurt Olsen hatte direkt ihn angesehen, als er das sagte, hatte Roland den Eindruck gehabt, aber vielleicht war das bloß ein Gefühl gewesen. Mikkel Jensen hatte ja lange an seinem Anspruch auf den Posten gearbeitet, ohne es zu verbergen, und das hatte Roland akzeptiert. Er hatte diese Ambitionen nicht. Mehr Geld bedeutete nur größere Verantwortung und größere Verantwortung bedeutete mehr Arbeit. Aber mehr Geld könnte in der neuen Situation, in der sie sich nun befanden, helfen. Irenes Operation würde teuer werden. Er war immer noch dagegen und wollte nochmals versuchen, sie zur Vernunft zu bringen. Diese Art Transplantationen waren in Dänemark illegal, daher konnte man davon halten, was man wollte, aber es war ja nicht nur das. Was nun, wenn es nicht half, und es Irenes Zustand bloß verschlechtern würde? Vielleicht überlebte sie die Operation nicht. Eingriffe am Rückenmark, und damit am Nervensystem des Menschen, waren nicht ganz ohne Risiko. Der Chirurg hatte das ja selbst gesagt, aber er konnte Irenes Freude und neugewonnene Hoffnung nicht einfach ignorieren und sich nur auf seine eigene Furcht konzentrieren. Es war Irenes Leben und ihre Entscheidung. Die Transplantation würde hier in Dänemark vorgenommen werden, in einem medizinischen System, in das sie beide Vertrauen hatten. Kenneth Rissvang würde sich höchstpersönlich darum kümmern. Er wirkte sehr kompetent und hatte Erfahrungen in den USA gesammelt, die in vielen Dingen so weit voraus waren.

Roland streifte die Schuhe unter dem Tisch ab, seine Strümpfe waren schweißnass. Bei dieser Hitze müssten es Sandalen sein, aber das passte nicht so richtig.

»Wie ist es gelaufen?«, ertönte es von der Tür, die er offen hatte stehen lassen, um ein bisschen Durchzug zu schaffen. Er richtete sich in seinem Stuhl auf und versuchte, Isabella gefasst anzulächeln.

»Gut. Es sieht so aus, dass Irene abgesehen von ihrer Lähmung in einem ausgezeichneten gesundheitlichen Zustand ist. Wie ein junges Mädchen.«

»Das klingt doch richtig toll. Können sie ihr dann in der Privatklinik helfen?« Sie setzte sich nicht, sondern blieb vor ihm stehen wie eine gehorsame Schülerin.

»Das wird die Zeit zeigen. Jetzt müssen wir abwarten.« Er tat, als ob er mit einigen Papieren beschäftigt wäre. »Was habt ihr über die beiden Mädchen herausgefunden?«

»Sie haben nicht viel gemeinsam.« Mikkel, der gerade durch die Tür trat, antwortete. Isabella drehte sich überrascht um, kurz darauf kam Niels mit einigen Unterlagen herein. Sie hatten keine Zeit vergeudet, während er weg gewesen war. Die Obduktion war anscheinend auch abgeschlossen. Roland bemerkte allmählich den Wert der Position eines Vizepolizeidirektors, abgesehen von mehr Gehalt und Geld für Irenes Genesung: die anderen mit den schlimmsten Aufgaben betrauen zu können.

»Setzt euch«, sagte Roland, dem gleich noch wärmer wurde, als sie sich wie eine Mauer um ihn herum aufstellten. Und Niels reichte fast bis zur Decke.

»Aber es ist der gleiche Täter, daran gibt es sicher keinen Zweifel.« Niels legte Tanjas Obduktionsbericht vor ihm auf den Tisch. »Sie wurde wahrscheinlich mit dem gleichen Gegenstand misshandelt, die gleichen Verletzungen wie Maja im Unterleib auf jeden Fall, aber mit der Ausnahme, dass Tanja nicht nur verprügelt wurde, sie wurde auch erwürgt. Sie hat sich stärker zu Wehr gesetzt als Maja, das konnte Natalie an den Verletzungen erkennen. Vielleicht hatte sie noch nicht so tief geschlafen.«

»Oder der Täter macht Fortschritte«, sagte Mikkel tonlos.

»Konnte Natalie Spuren unter den Fingernägeln feststellen?«, fragte Roland.

»Leider keine DNA. Tanjas Nägel waren kurz, fast abgekaut, und sie konnte vielleicht nicht sein Gesicht zerkratzen oder überhaupt die Haut. Aber Natalie hat etwas Wachsähnliches unter dem Mittelfingernagel gefunden. Die Kriminaltechniker kümmern sich gerade darum. Außerdem hatte Tanja Ekzeme auf den Armen und Händen. Aber keiner ihrer Freunde wusste etwas davon, dass sie an Ekzemen litt. Zumindest keiner von denen, mit denen ich gesprochen habe.« Niels kratzte sich das Gesicht.

»Viele junge Leute leiden heutzutage an Allergien und Ausschlägen. Konnte Natalie sagen, welche Form von Ekzem?«

Niels schüttelte den Kopf. »Noch nicht.«

Roland versuchte, den Eindruck zu verbergen, den die Bilder von der Obduktion auf ihn machten. Tanja sah auf den ersten Blick schlimmer aus als Maja.

»Sieht aus, als ob seine Brutalität zunimmt«, bestätigte Niels seine Gedanken. »Ich hoffe echt, wir finden ihn bald.«

»Ist Kurt schon zurück?«, wollte Mikkel wissen. »Was er wohl der Presse gesagt hat?«

Roland war froh darüber, dass sich der Vizepolizeidirektor um die Presse kümmerte. Natürlich nicht, wenn diese Position seine wurde, aber dann konnte einfach veranlasst werden, dass ein anderer diesen Part übernahm. Es fiel ihm schwer, sowohl mitten in einer Ermittlung Zeit dafür zu finden als auch ihre provokanten Fragen zu beantworten, Fragen nach dem Mörder zum Beispiel, ohne ausfallend zu werden.

»Nein, er ist noch nicht zurück. Die Geier sind wohl dabei ihn aufzufressen. Es sind ja sogar zwei Fälle, über die sie informiert werden wollen.«

»Ja, apropos. Was hast du bei dem Bestatter herausgefunden? Hast du etwas aus ihm herausbekommen?« Isabella versuchte ein kleines Lächeln zu verbergen. Der Fall mit diesem leeren Sarg war so spektakulär, dass es schwer war, ihn ernst zu nehmen, aber Roland bewahrte seine ernste Miene.

»Der Bestatter ist eine Frau. Ich gebe zu, dass ich sie noch nicht gesprochen habe. Ihr Bruder hat gerade das Geschäft übernommen und wusste nichts.«

»Es ist doch sicher auch wichtiger, diesen äußerst lebendigen Täter zu finden, oder nicht«, scherzte Mikkel.

»Beides ist wichtig. Ich kontaktiere sie später. Heute war wohl eine Beerdigung, soweit ich das verstanden habe.«

»Dann ist doch bloß zu hoffen, dass der Verstorbene nicht auch noch verschwindet«, spottete Mikkel.

Roland räusperte sich.

»Der technische Bericht über den Sarg liegt in der anderen Akte«, sagte Niels und deutete darauf.

»Die Frage ist, wo in der Kette er verschwunden ist. Wurde er im Krankenhaus obduziert?«, fragte Isabella und setzte wieder eine professionelle Miene auf.

»Nein, sieht nicht so aus. Es war ein Motorradunfall, daher war nicht besonders viel zu machen. Es wurde eine toxikologische Analyse durchgeführt um festzustellen, ob er Drogen oder Alkohol konsumiert hatte. Anscheinend nicht.«

»Okay, aber sonst könnte er doch nach der Obduktion verschwunden sein«, schlug sie vor.

Eine Weile war es ganz still. Durch das offene Fenster hörte man nur den Lärm von den Bauarbeiten am Hafen.

»Ich werde mal mit dieser Bestatterin sprechen«, wiederholte Roland. »Es muss eine natürliche Erklärung geben. Zurück zu den Mädchen!«

»Ja, das einzige, was sie gemeinsam haben, ist das Alter, und dass sie auf die gleiche Uni gegangen sind. Aber Tanja hat Naturgeschichte studiert und Maja Psychologie, es war also nicht das gleiche Fach. Maja sieht aus, als wäre sie sportlich gewesen, das war Tanja nicht, wir haben nicht einmal Turnschuhe bei ihr gefunden. Aber sie war kreativ. In ihrer Wohnung waren Unmengen von Fotos. Übrigens gute. Freunde und Familie bestätigen auch, dass sie Amateurfotografin auf hohem Niveau war. Aber wir haben etwas in ihren Schlafzimmern gefunden, was uns verwundert hat. Von ihrem ›das nette Mädchen‹-Typ ausgehend meine ich«, fügte Isabella hinzu.

»Ja?«

Roland hob interessiert die dunklen Augenbrauen.

»Dildos.«

Mikkel sagte das ganz trocken und nüchtern.

»Dildos?«

»Ja, und anderes Sexspielzeug. Sie hatten es beide gut versteckt in einer Schublade im Schlafzimmer.«

»Tja, ist das nicht total normal für Frauen?«, fragte Kim. »Wurden sie vielleicht in demselben Geschäft gekauft?«

»Das weiß man nicht. Die Modelle sind von den Firmen Scala und Orion, die kann man in allen Sexshops, auch im Internet, kaufen, daher ist es fast unmöglich, den Verkäufer ausfindig zu machen.«

»Was ist mit einer Quittung für den Kauf?«, fragte Roland und fühlte sich auf diesem Wissensgebiet ganz außen vor.

»Wir sind Ordner mit diversen Unterlagen durchgegangen, aber es war nichts zu finden«, sagte Mikkel.

»Sowas heben Mädchen doch auch nicht auf.« Die Andeutung eines kleinen Lächelns erschien schnell wieder auf Isabellas von Lipgloss schimmernden Lippen.

»Ach, du vielleicht nicht?« Kim stupste sie mit dem Ellbogen an und grinste leicht anzüglich.

»Jetzt hör auf!«, Mikkel warf ihm einen warnenden Blick zu.

Roland dachte, dass Mikkel sich wohl in seiner Männlichkeit verletzt fühlen könnte, wenn Isabella, seine Freundin, so etwas in der Schublade hätte. Vielleicht spielte er mit? Er hatte nie darüber nachgedacht, ob Irene wohl so etwas besaß. Wenn Kim meinte, dass das für Frauen ganz normal sei?

»Aber ich glaube nicht, dass wir darauf so viel geben sollten. Das ist kein Beweis dafür, dass sie etwas Besonderes gemeinsam hatten«, stellte Isabella fest.

»Also haben wir nur die Universität als gemeinsamen Nenner. Wir müssen versuchen herauszufinden, ob es dort jemanden gibt, der Potential zum Vergewaltiger und Mörder hat«, murmelte Roland und überflog gleichzeitig die Papiere vom Kriminaltechnischen Zentrum.

»Ich habe Tanjas Kamera mitgenommen. Darauf waren mehrere Digitalfotos, die sie erst vor kurzer Zeit gemacht hat, ich bin die meisten durchgegangen.« Isabella nahm wieder einen großen Schluck aus ihrem Wasserglas. Auf ihrer Oberlippe hatten sich kleine Schweißperlen gebildet, wie Tau auf einer Pfirsichhaut.

»Gut, Isabella. Können die uns einen Eindruck davon vermitteln, wie Tanja so war, was sie gemacht hat?«

»Sie war ein bisschen unterwegs und es sind auch Fotos von einigen Personen dabei, mit denen wir nicht gesprochen haben.«

»Die müssen wir ausfindig machen.«

Isabella nickte. »Ich bin dabei. Aber ich will euch gerne etwas zeigen, das vielleicht wichtig ist. Ich glaube, Tanja wurde überwacht.«

»Wieso glaubst du das?«

»Kommt mit.« Isabella stand auf und ging ins Vorzimmer, wo sie einen größeren und besseren Bildschirm als Rolands hatte. Sie weckte den Computer aus seinem Ruhezustand, rief die Bilder von der Speicherkarte der Kamera auf, die in dem Kartenschlitz steckte und klickte auf eine Serie Fotos, die in einem Park oder Wald aufgenommen worden waren. Zuerst hatte Tanja Bilder von ein paar Kindern auf einem Spielplatz und einigen Hunden gemacht, die im Wasser spielten. Es sah aus, als ob es am Meer war. Roland wischte sich den Schweiß von der Stirn und beneidete sie. Die nächsten Bilder waren Nahaufnahmen verschiedener Blätter und Blumen. Eine weiße Blume mit einem Schmetterling auf dem Kronblatt, eine gelbe mit einer Biene. Roland räusperte sich hörbar. Das waren zwar hübsche Fotos, aber sie hatten keine Zeit, hier herumzustehen und sie zu bewundern.

»Was wolltest du uns zeigen, Isabella?«, fragte er ungeduldig.

Tanja ging nun einen dicht bewachsenen Waldrand entlang. Einer der Wälder, die wild wuchern durften, vermutete er. Sie hatte den Fokus auf eine besondere Baumrinde gerichtet. Die Rinde war gestochen scharf, während die Blätter im Hintergrund dunkel und verschwommen waren. Das Mädchen hatte zweifelsohne Ahnung von Fototechnik gehabt.

»Das hier«, sagte Isabella und deutete auf ein Bild, ohne den Bildschirm zu berühren, während sie zu ihm aufsah. »Und das hier.«

»Was, Rinde?«

»Ich glaube, das ist eine Art Pilz«, murmelte Kim hinter Roland und zupfte sich mit einer professoralen Miene an einem imaginären Spitzbart. Isabella schaute wütend zu ihm hoch.

»Mann, natürlich nicht die Rinde. Versucht doch mal, das hinter dem Baumstamm zwischen den Zweigen und Blättern zu erkennen. Im Dunkeln. Könnt ihr das nicht sehen?« Sie deutete wieder auf den Bildschirm.

Roland beugte sich näher an den Bildschirm heran.

»Und hier auf dem nächsten Bild und dem übernächsten, aber dann ist es weg. Kannst du sie nicht sehen, Roland? Die Augen?«

Er kniff seine ein wenig zusammen und jetzt konnte er etwas erkennen. Etwas, das in der Dunkelheit zwischen den Blättern schimmerte. Eine dunkle Silhouette in dem verschwommenen Hintergrund trat deutlicher hervor.

»Ich kann versuchen, das ein bisschen aufzuhellen.« Isabella benutzte die Maus, um die Helligkeit zu regulieren.

Roland richtete sich verblüfft auf. Jetzt war es ganz deutlich. Dort stand eine Person und lauerte zwischen den Bäumen, fast unmöglich zu sehen, verborgen zwischen den Blättern in der Dunkelheit, aber als Isabella das Bild aufhellte, war es zweifelsfrei zu erkennen. Das, was aufleuchtete, war ein Augenpaar.

»Kann das nicht bloß ein Spaziergänger sein?«, schlug Kim vor.

»Zwischen den dichten Bäumen da? Das ist doch eine höchst ungewöhnliche Stelle, um dort spazieren zu gehen. In der Regel folgen die Leute in Parks den Wegen.«

Roland gab ihr Recht. Die Person war dort zwischen den Bäumen fehl am Platz.

»Ja, wir müssen herausfinden, wo diese Bilder gemacht wurden.«

»Ich glaube, Tanja wurde überwacht«, wiederholte Isabella. »Vielleicht über längere Zeit und Maja vielleicht auch. Der Täter kannte ihre Gewohnheiten und Routinen. Deswegen konnte er in ihr Zuhause eindringen, zum richtigen Zeitpunkt, wenn sie nicht da waren.«

Roland nickte langsamen bestätigend. »Und Tanja hatte ihn mit im Fokus, sicher ohne es zu wissen.«

Leichen bluten nicht - Roland Benito-Krimi 6

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