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Die Kriegsenkel – entwurzelt, rastlos und getrieben

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Dazu waren die Kriegsenkel lange Zeit nicht in der Lage, denn niemand konnte sich so recht erklären, warum viele aus den Jahrgängen von ca. 1950 bis etwa 1980 immer wieder ihre Beziehungen beenden oder ihre Arbeitsstellen wechseln, um rastlos ständig neu anzufangen. Oder warum viele aus diesen Jahrgängen genauso immer wieder anhalten und auf der Bremse stehen. In Therapie und Beratung war man ebenso ratlos angesichts des Phänomens, dass viele aus diesen Jahrgängen mit ihrem Leben hadern und sich fragen, wie sie endlich ihren Platz finden können. Nur wenige professionelle Helferinnen und Helfer konnten sich erklären, warum viele aus diesen Jahrgängen das Gefühl hatten, immer noch auf der Flucht zu sein … so viele Jahre nach dem Faschismus, dem Krieg und der Flucht.

Auch ich als Therapeutin und Coach konnte lange Zeit nicht verstehen, womit das zu tun haben könnte. Viele, die in meine Praxis kamen, zeigten sich zutiefst verunsichert; sie zweifelten häufig an sich selbst und meinten, keine Existenzberechtigung zu haben. Bis heute fühlen sich viele Kriegsenkel entwurzelt, viele rastlos und getrieben. Sie leiden entweder unter völligem Stillstand oder arbeiten bis zum Umfallen. Oftmals können sie bemerkenswerte Karrieren vorweisen und sind beruflich anerkannt und erfolgreich. Trotzdem klagen sie über eine Leere und darüber, dass sich dennoch keine Zufriedenheit einstellt. Viele fragen sich: Bin ich es überhaupt wert, Erfolg zu haben? Bin ich es wert, in einer Beziehung zu leben oder eine Familie zu haben? Darf ich erfolgreicher sein als mein Vater oder meine Mutter, denen dazu die Möglichkeit fehlte, die mit schlimmen Erlebnissen während des Krieges und auf der Flucht konfrontiert waren?

Erst als die Kriegskinder, also die Eltern der Kriegsenkel, mit ihrem Leid in die Öffentlichkeit gingen – siehe der Kriegskinder-Kongress in Frankfurt/Main 2005 mit so herausragenden Experten wie Peter Heinl u. a. –, war es den Kriegsenkeln ein paar Jahre später möglich, ihre eigene Thematik als kollektives Thema in einem gesellschaftlichen Diskurs zu entwickeln. Und so haben sich die in der Mehrzahl Mitte der 1960er-Jahre Geborenen im Zuge dessen als Kriegsenkel neu erfunden.

Und dennoch möchte ich noch einmal genauer fragen: Wie kommt man aber 70 Jahre nach Kriegsende dazu, sich in den Kontext des Zweiten Weltkriegs zu stellen, wo doch die Kriegsenkel in Friedenszeiten und viele in einem relativen Wohlstand und dem unbeirrbaren Glauben an die Zukunft aufgewachsen sind? »Sie suchten sich und fanden ihre Eltern im Krieg«, heißt es in dem Buch Nebelkinder7. Auf der Suche nach sich selbst – also von heute ausgehend – haben die Kriegsenkel einen Zusammenhang entdeckt, der ihnen Erklärungen an die Hand gibt, warum sie geworden sind, wer sie heute sind, und zu wem sie in Zukunft werden können. Diese Fragen sind es auch, die Kriegsenkel in meine Praxis und zu mir als Therapeutin und Coach führen. Sie wollen wissen, warum sie immer wieder schnell aufbrechen müssen und anscheinend keine Zeit dafür haben, den Dingen ihren Lauf zu lassen. Ganz so, als seien sie immer noch auf der Flucht – wie einst ihre (Kriegskinder-)Eltern. Daraus hat sich bei vielen die Sehnsucht entwickelt, endlich anzukommen in privaten und beruflichen Beziehungen, im Leben und in der Gesellschaft und endlich Wurzeln zu schlagen, eine Spur zu hinterlassen und sichtbar zu werden.

Von dieser Sehnsucht ausgehend, schauen die Kriegsenkel ganz neu auf ihr eigenes schwieriges Aufwachsen mit Kriegskinder-Eltern, denn eine Kriegsenkel-Biografie beginnt mit dem Leid dieser Kriegskinder.

Eine typische Kriegsenkel-Biografie ist in einem oft unerkannten Ausmaß vom schwierigen Aufwachsen der Eltern und von deren leidvollen Erfahrungen während der NS- und Kriegszeit geprägt. Aber allein daraus lässt sich das Phänomen des »Immer-wieder-neu-Anfangens« und des »Auf-der-Bremse-Stehens« nicht erklären. Das biografische Gepäck der Kriegsenkel beinhaltet auch die Erfahrungen mit den Herausforderungen der offenen Gesellschaft beziehungsweise der »Vielfaltsgesellschaft«8. Welchen Einfluss können der schnelle Wandel und die zahlreichen und zugleich unübersichtlichen Möglichkeiten dieser Gesellschaft darauf haben, dass sie nicht ankommen können und immer wieder aufbrechen müssen?

Um zu wissen, was die Kriegsenkel in ihrem biografischen Rucksack sowohl an leidvollen Erfahrungen als auch an Sehnsüchten nach neuen Lebensmodellen und an Kompetenzen mit sich führen, lohnt es sich, in einem ersten Schritt das Leben ihrer Eltern als Kriegskinder und in einem zweiten Schritt ihr eigenes Heranwachsen in einer Gesellschaft mit zahlreichen, oftmals unübersichtlichen Optionen und Angeboten zu betrachten.

Die Kraft der Kriegsenkel

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