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Die Pragmatische – Hannas Mutter

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Wie viele Kriegsenkel hat auch Hanna ein Leben lang die Unterstützung und Anerkennung ihrer Mutter vermisst. In unseren Gesprächen beklagte sie sich über deren Kaltherzigkeit. Sie, die mittlerweile Ende 40 war, fragte sich, ob sie nicht doch noch in irgendeiner Form die Zuneigung ihrer Mutter gewinnen könne. Hanna wollte endlich von ihr »gesehen« und »anerkannt« werden. Das wäre die nötige Rückenstärkung, die sie in ihrer derzeitigen Lebenssituation, in der sich wieder einmal alles auf den Kopf stellte, hätte gebrauchen können. In der Genogramm-Arbeit wurde schnell sichtbar, dass auch ihre Mutter schon früh gefordert gewesen war. Die Mutter ihrer Mutter – also Hannas Großmutter – starb, als ihre Mutter 12 Jahre alt war, an TBC – einer Krankheit, die auch in den Armenvierteln von Berlin grassierte. Während Hannas Großvater seiner Arbeit nachging, hatte ihre Mutter schon als Zwölfjährige für ihn und ihre kleineren Geschwister zu sorgen.

»Meine damals zwölfjährige Mutter«, so Hanna, »kam vermutlich dabei zu kurz.«

Später als Erwachsene und Mutter sei sie immer der »praktische Typ« gewesen. Unter dem Gesichtswinkel habe sie alles betrachtet; sie habe immer gearbeitet und nie Zeit an ihre Kinder »verschwendet«, wovon Hanna eines war.

Die beklagte Kaltherzigkeit von Hannas Mutter reicht weit zurück und lässt das zweifelhafte Ideal der »eisernen Zeit« aufscheinen, in der der »eiserne Wille« vor den persönlichen Bedürfnissen herrschte, in der es Angst, Schmerz und Zaghaftigkeit nicht geben durfte. Vielmehr galt es, stark zu sein, koste es, was es wolle. Nach dem Motto »Hurra, wir leben noch« wurde über die eigene Verletztheit hinweggegangen.17

»Abwesende bzw. traumatisierte Väter, die ständige Angst, dass der Vater nicht wiederkehrt, bzw. die Gewissheit, ihn verloren zu haben, überforderte und emotionslos wirkende Mütter, das mangelnde Zutrauen der Gesellschaft in die Erziehungsfähigkeiten der ›übriggebliebenen‹ Mütter und nagender Hunger (mit Sicherheit nicht nur physisch, sondern auch psychisch) hinterlassen Spuren auf den kleinen Seelen der Kinder.«18

Wie wir an diesem Beispiel sehen können, wurden die Eltern der Kriegsenkel häufig selbst schon als Kinder maßlos überfordert und mussten in Rollen bestehen, in denen sie nicht nur für sich selbst verantwortlich waren, sondern auch für den verbliebenen Elternteil und für ihre Geschwister. Auch sie waren schon in ganz besonderer Weise sowohl von den gesellschaftlichen Verhältnissen als auch von den privaten beziehungsweise familiären Umständen – den Auswirkungen des Ersten Weltkriegs, der Weltwirtschaftskrise und der daraus folgenden Armut, dem Verlust von Angehörigen – herausgefordert worden. Die Eltern der Kriegsenkel waren oftmals schon sehr früh Eltern für ihre eigenen Eltern, etwas, das sich in der Kriegsenkel-Generation wiederholte.

Obgleich das 20. Jahrhundert zum Jahrhundert des Kindes werden sollte beziehungsweise als solches deklariert wurde – und tatsächlich hat auch hier die Reformbewegung ihren Ausgang genommen –, haben gerade die Kinder die schlimmsten Verbrechen dieses Jahrhunderts erlebt und unter ihnen gelitten.

Dazu zählten der Nationalsozialismus, die Verfolgung Andersdenkender, der Krieg, die Flucht und Vertreibung, entfacht von den Nationalsozialisten und deren massenhaften Unterstützern, wozu auch ihre eigenen Eltern als Mittäter und Mitläufer gehörten. In sehr vielen Familien gab es zumindest zu Beginn der NS-Zeit große Sympathien mit dem Nationalsozialismus. Ein Umdenken erfolgte erst nach den ersten schlimmen Erfahrungen. So erzählte ein Kriegsenkel von seinem Großvater, dass dieser anfangs auch ein Nationalsozialist war. Erst als sein ältester Sohn gleich in den ersten Wochen des Krieges getötet wurde, führte das zu einem Wandel seiner Ansichten.

Hinzu kommt, dass ein Teil der Kriegskinder von Eltern erzogen worden ist, die in Auschwitz oder anderen Massenvernichtungslagern gearbeitet haben, die Menschen erschossen und vergewaltigt und die ihre Kinder aufgefordert haben, es ihnen gleichzutun.

Wir müssen uns fragen, was es für die Nachfolgegeneration bedeutet, Mütter und Väter gehabt zu haben, die sich freiwillig in KZs um Arbeitsstellen beworben haben oder – wie Hartmut Radebold schreibt – »die zuerst bei der Waffen-SS aktiv waren und schließlich mit dem ›aktiven Dienst im Konzentrationslager belohnt‹ wurden«.19 Ihre Nachkommen ringen häufig mit großer Scham und unendlichen Schuldgefühlen, die sie bis heute in ihrem eigenen Leben nicht ankommen lassen.

Viele Eltern der Kriegskinder waren in unterschiedlichster Form Teil des NS-Systems, legitimierten es und integrierten ihre Kinder bedenkenlos, wenn nicht sogar enthusiastisch in dieses System.

Die Kraft der Kriegsenkel

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