Читать книгу Die Kraft der Kriegsenkel - Ingrid Meyer-Legrand - Страница 18

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Das nationalsozialistische Erziehungsideal

Um die Kriegskinder des Zweiten Weltkriegs und das Erbe, das sie an die Kriegsenkel weitergegeben haben, noch besser zu verstehen, sollten wir uns die nationalsozialistische Erziehung und ihre Auswirkungen noch einmal vor Augen führen. Das Kriegskind Elisabeth – Jahrgang 1931 – hat damit ihre Erfahrungen gemacht.

Das oberste Erziehungsziel galt der Hingabe an den Führer. Dafür wurde die Rolle der Mutter zu einer gesellschaftlichen Aufgabe umdefiniert. Die Rolle der Frau im Faschismus bestand darin, dem »Führer« Kinder zu schenken. Kinder zu bekommen hatte damit einen gesellschaftlichen Stellenwert und ein gesellschaftliches Ziel: den Krieg. Die Mütter erhielten also einerseits eine Aufwertung, andererseits aber wurden sie abgewertet.

Elisabeth – vom Regen in die Traufe

Für Elisabeth war der BDM (Bund Deutscher Mädel) ein wichtiger Ort, zu dem sie immer dann flüchtete, wenn sie wieder einmal von ihrem Vater geschlagen worden war. Von ihm wurde sie regelrecht misshandelt. Für jede kleine Verfehlung setzte es Prügel mit einem Lederriemen, der extra für sie griffbereit an der Eingangstür hing. Ihre Eltern waren keine Nazis, sondern gläubige Christen, aber das hat sie nicht daran gehindert, sich in schlimmster Weise an ihrem Kind zu vergehen. Aus Protest gegenüber ihren Eltern ist Elisabeth daher gern zu den Treffen des BDM gegangen. »Dagegen konnten sie nichts sagen.« Dennoch gestaltete sich der Aufenthalt auch hier für sie äußerst ambivalent: Dieses »ewige Marschieren und Strammstehen« ging arg an die Kräfte dieses zarten, sensiblen Mädchens. Auch in anderen öffentlichen Einrichtungen der Nazis, die allesamt von dem Gedanken der Zucht und Ordnung durchdrungen waren und in denen alles Schwache eliminiert wurde, hat sie schmerzhafte Erfahrungen gemacht. Beispielsweise wurde sie während einer Kinderlandverschickung, auf der diese zierliche Person eigentlich aufgepäppelt werden sollte, ebenso schwer misshandelt. Schon geringste Abweichungen von der Norm wurden gnadenlos mit Schlägen und Demütigungen vor der Gruppe geahndet. So sah das Ideal der Erziehung der Nazis aus.

Kinder gehörten dem Führer und nicht den Familien

Wie wir unter anderem an diesem Beispiel sehen können, trieb die Erziehung der Nazis einen Keil zwischen Familie und Gesellschaft. Kinder gehörten dem Führer und nicht den Familien. Möglich wurde damit auch, dass Kinder und Jugendliche gegen ihre eigenen Familien eingesetzt und instrumentalisiert werden konnten. Viele Kriegskinder, die eine offene Rechnung mit ihren Eltern hatten, stellten daher häufig schon im jungen Alter für die eigene Familie eine ernsthafte Bedrohung dar; sie bekamen damit eine ungeahnte Macht über ihre Familien und auch über all diejenigen, die von den Nazis verfolgt wurden. Auf diese Weise ging das Erziehungsziel der Nationalsozialisten auf: Man wollte Menschen heranwachsen sehen, die gewalttätig, herrisch, grausam waren und bei denen alles Schwache und Zärtliche ausgemerzt war. Allerdings sollten nicht nur Gefühle der Schwäche eliminiert werden, sondern jegliches Gefühl. Für Staat und Partei wurden Menschen gebraucht, die gehorchten und Befehle erfüllten. Das Mittel der Wahl waren Demütigungen und harte Arbeit.

Ein kleiner Ausschnitt aus einem Erlebnisbericht eines Stadtkindes – Frau K. L. aus Regensburg, die 1944 zur »körperlichen Ertüchtigung« aufs Land geschickt wurde, um dort hart zu arbeiten – mag verdeutlichen, dass kaum ein (gesellschaftlicher) Bereich von dieser menschenverachtenden Haltung verschont blieb.

Wir standen den Dorfleuten gegenüber, die uns wie auf einem Viehmarkt nach Nutzwert beurteilten. Da ich ziemlich klein war, fand sich erst spät jemand bereit, mich aufzunehmen. Von Anfang an wurde ich zur Arbeit angehalten. Beim Stallausmisten und bei der Feldarbeit leistete ich nicht genug und wurde als »Stadtkind« ausgelacht. Ich sollte stattdessen das Haus putzen. Ich kam zwar aus einem Arbeiterhaushalt, aber dort hatte mir noch niemand solche Arbeit als Pflicht angewiesen. Es gab nur ein Plumpsklo im Schweinestall, keinerlei Hygiene, und niemand kümmerte sich um meine Kleider oder Wäsche. Meine Mutter konnte mich nur selten besuchen, weil sie aufgrund einer Denunziation – sie hatte einen Witz erzählt – dienstverpflichtet war. Bei einem Besuch nach etwa drei Monaten stellte sie entsetzt fest, dass ich Läuse hatte und dass sich eine Wunde, die unversorgt geblieben war, entzündet hatte. Es herrschte auch keine gute Stimmung im Dorf, man spürte das gegenseitige Misstrauen. Ich stand aber hilflos vor dieser Erfahrung von totaler Fremdheit. (…) Schon uns Kindern war es klar, dass wir stark zu sein hatten. Genau deshalb war es mir auch unmöglich, über die Zumutungen meiner »Gastfamilie« gegenüber irgendjemandem etwas anzudeuten. Ich fühlte mich schuldig, ohne zu wissen, wieso. Ich habe Jahre gebraucht, um diese Grunderfahrung von Hilfslosigkeit erklären und damit überwinden zu können, eine Kriegserfahrung, die weit über das Kriegsende hinaus wirkte.22

Die Kriegskinder erlebten den Nationalsozialismus in einer Lebensphase, in der sie am stärksten zu beeinflussen waren. In einer Lebensphase, in der man versucht, sich die Welt in all ihren Aspekten anzueignen, und vieles infrage stellt, erlebten sie Hilflosigkeit und Verunsicherung und die daraus folgende Desorientierung. Wie kann Persönlichkeitsentwicklung in einem System stattfinden, in dem man zum Beispiel nicht neugierig fragen darf, in dem jemand durch eine harmlose Frage in akute Lebensgefahr versetzt werden konnte?

Ich erinnere mich in diesem Zusammenhang gern an eine kleine Szene, die Vicco von Bülow, bekannt als Loriot, in einem Interview schilderte, die ich hier frei nacherzähle.

Als Vicco von Bülow eines Morgens auf dem Weg zur Schule war und an einem Geschäft vorbeikam, sah er, wie sich ein paar Jungen daranmachten, die Schaufensterscheiben einzuwerfen und die Fassaden mit Judenhassparolen zu beschmieren. Ganz erschrocken sah er sich um und fragte einen herannahenden Passanten, so wie ein Kind spontan reagiert, wenn es etwas Unrechtes sieht: »Dürfen die das?« Unauffällig, aber mit sehr viel Nachdruck, wurde er von diesem Passanten schnell an dem Ereignis vorbeigeschoben und von ihm leise, aber wiederum sehr eindringlich, darauf hingewiesen, dass er so etwas nie wieder laut fragen dürfe, andernfalls könne er dadurch in große Probleme geraten. Er erzählte, wie erschüttert er gewesen sei, weil er die Welt einfach nicht mehr verstanden habe.

»Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind« (J. Haarer)

In der nationalsozialistischen Erziehung ging es gerade nicht darum, dass jemand durch eigenes Nachdenken die Welt zu verstehen versuchte. Diese Erziehung setzte auf totale Anpassung, Gehorsam und auf Selbstaufgabe. Solcher Art zugerichtete Menschen lassen sich leichter steuern als jene, die sich ihrer selbst und ihrer Gefühle bewusst sind. Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind23, ein weit über die NS-Zeit hinaus populärer Erziehungsratgeber, bildete die Grundlage für die systematische Zerstörung der kindlichen Gefühle. Im Mittelpunkt einer Mutter-Kind-Beziehung standen nicht die elementaren Bedürfnisse des Kindes, sondern der Gehorsam. Und so geriet die Gestaltung der Mutter-Kind-Beziehung von Beginn an zu einem einzigen Machtkampf. Schreien und Weinen eines Kindes – elementare Willensäußerungen – sollten ignoriert werden. In einer viel zitierten Passage schreibt J. Haarer, wie mit einem unruhigen, weinerlichen Kind zu verfahren sei:

Dann, liebe Mutter, werde hart! Fange nur ja nicht an, das Kind aus dem Bett herauszunehmen, es zu tragen, zu wiegen, zu fahren oder es auf dem Schoß zu halten, es gar zu stillen. Das Kind begreift unheimlich rasch … und der kleine, aber unerbittliche Haustyrann ist fertig.24

Dieses Buch liest sich wie eine Betriebsanleitung für eine Maschine: »Babys sollen nach festem Plan gefüttert und gewogen werden und zu bestimmten Zeiten eine ›Ausfahrt‹ machen.«25

Babys wurden gerade einmal zur Körperpflege aufgenommen und in der übrigen Zeit alleingelassen. Heute wissen wir, dass diese Art der »Erziehung« die Entwicklung eines Kindes nicht nur nicht fördert oder behindert, sondern sie regelrecht zerstört. Mangelnde liebevolle Zuwendung, fehlendes Selbstwirksamkeitserleben und Erfahrungen von Ohnmacht wirken sich verheerend auf das Kind aus. Vorgeschlagen wird hier eine Erziehung, die als grobe seelische Vernachlässigung bezeichnet werden kann.

Welche Folgen schwere seelische Vernachlässigungen haben können, wurde unlängst bekannt durch die Studie über die jahrelang vernachlässigten Kinder in den Heimen und Krankenhäusern von Siret (Rumänien). Hierin wurde der Frage nachgegangen, wie wichtig die soziale Bindung für die Entwicklung des Gehirns ist. Man hat herausgefunden, dass sich bei mangelnder Zuwendung die Gehirnaktivität deutlich reduziert, so als ob jemand im Gehirn das Licht ausgeknipst hatte.26 Oft hielten die Auswirkungen noch jahrelang an. Die Kinder waren dann scheu, und ihr Immunsystem war nur schwach entwickelt. Dennoch lässt diese Studie Hoffnung aufkommen, denn einerseits steht zwar fest, dass der Mangel an Zuwendung Spuren in Gehirn, Körper und Psyche hinterlässt, aber andererseits kann dieser später auch wieder – allerdings oft nicht vollständig – ausgeglichen werden, vorausgesetzt, es lässt sich ein vertrauensvolles Verhältnis zu nahen Bezugspersonen aufbauen.

Nach dieser Studie dürfte die nationalsozialistische Erziehung ebenso weitreichende Folgen haben, sofern die emotionale Zuwendung auch in späteren Lebensphasen ausblieb und dieser Mangel nicht durch fürsorgliche Menschen ausgeglichen wurde.

Eigene Gefühle sind bedrohlich!

Vor diesem Hintergrund ist es nachvollziehbar, dass viele Kriegskinder sich bis heute nicht vorstellen können, eigene Gefühle zu haben. Einst haben sie gelernt, besser keine eigenen Bedürfnisse zuzulassen und ihre Gefühle als etwas Fremdes zu begreifen; sie haben ihr Eigenes als etwas so Bedrohliches erlebt, das ihre Eltern in einem Maße gegen sie aufbringen konnte, dass sie ihre eigene Existenz gefährdet sahen. Sie haben daraus nur die Schlussfolgerung ziehen können, dass nicht das Verhalten der Eltern grausam, sondern dass ihr eigenes falsch war. Dass sie selbst falsch waren. Mit anderen Worten: »Wenn meine Eltern schlecht sind, dann ist es meine Schuld.«27 Das Eigene wird auf diesem Wege zum Gegner, und diesen gilt es sowohl in sich selbst als auch in anderen zu bekämpfen und zu vernichten. Kinder übernehmen in diesem Prozess die kaltherzige, unempathische Haltung der Eltern und richten sie gegen sich selbst. Das Kind beginnt, sich seiner selbst zu schämen. Bereits derart verunsichert, hilflos und so manches Mal innerlich regelrecht zerrüttet, hatten viele Kriegskinder die schlimmsten Ereignisse noch vor sich: den Zweiten Weltkrieg, die Flucht und Vertreibung.

Krieg, Flucht und Vertreibung

Vielen Kriegskindern wurden Nächte in Luftschutzkellern zugemutet, Bombenterror und der Verlust ihrer Häuser und Wohnungen. Sie erlebten, dass die Nationalsozialisten den Tod ihrer eigenen Kinder in Kauf nahmen – indem sie sie entweder diesen Erlebnissen aussetzten oder sie gar als 15-, 16-, 17-jährige Jungen noch in den letzten Tagen des Krieges an die Front schickten, wo sie als Kanonenfutter verheizt wurden. Heute verwenden wir dafür die Begriffe der Schüler- oder Kindersoldaten, damals hießen sie Flakhelfer. Für dieses Inferno waren größtenteils ihre eigenen Angehörigen verantwortlich – ihre Großeltern und Eltern.

Überdies waren sie als Kinder und Kleinkinder mit ihren Müttern über Wochen und Monate bis zur Erschöpfung auf der Flucht und dabei äußerst brutalen Erfahrungen ausgesetzt. Sie haben Erschießungen mit ansehen müssen, Leichen, die am Wegesrand lagen. Ihre Mütter waren – genau wie sie selbst – Vergewaltigungen und anderen Gewalttätigkeiten ausgeliefert. Schutzlos waren sie wochenlang in bitterer Kälte unterwegs und mussten wiederholt oder andauernd Hunger leiden.

Für die Flüchtlingskinder kam noch die prägende Erfahrung hinzu, Fremde im eigenen Land zu sein. Sie spürten schnell, dass sie oftmals nicht willkommen waren. Viele lernten das Gegenteil kennen, nämlich, dass sie offen angefeindet wurden. Allein so eine Erfahrung reicht allgemein schon aus, eine lebenslange tiefe Verunsicherung davonzutragen. Diejenigen, die ihre vertraute Umgebung und damit ihre vertrauten Nachbarn und Freunde verlassen mussten, standen vor einer ganz besonderen Herausforderung: In einer für sie fremden und sie oftmals anfeindenden Umgebung waren sie vollkommen auf sich gestellt und mussten neu anfangen. Oft führten diese Erfahrungen zu einem Verhalten extremer Anpassung.

Die Kraft der Kriegsenkel

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