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Ein Brief eines Nachkriegskindes, Dezember 2015

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Liebe Ingrid,

Du hast mit diesem Thema meinen Lebensnerv berührt. Nach jahrzehntelanger Beschäftigung mit diesen Geschehnissen spüre ich allerdings seit Kurzem, dass ich nicht mehr weit davon entfernt bin, dieses Thema loslassen zu können. Ich kann es immer mehr ohne Schmerzen in mein Leben integrieren.

Seit meiner Jugend bin ich auf der Suche nach Antworten zu genau diesem Thema. Das Leben meiner Eltern war von der Nazizeit geprägt, meine Schwester ein im Krieg geborenes Kind, mein Bruder wurde bald nach der Heimkehr aus der Kriegsgefangenschaft geboren, und als er nach einigen Lebensmonaten starb, nahm sein Tod auch die aufkeimende Hoffnung auf Zukunft mit sich. Später wurde ich als Nachkriegskind in die Wiederaufbauzeit geboren. Somit fanden sich in meiner Familie unterschiedliche Probleme, die jeder Angehörige für sich allein und alle miteinander lebten, aber nicht lösen konnten.

Mein Vater kam traumatisiert, verwundet und unterernährt – wahrscheinlich auch schuldig am Ermorden von Frauen und Kindern der deutschen Feinde – aus der englischen Kriegsgefangenschaft in Italien in sein nach Ausbombung nicht mehr vorhandenes Zuhause in Bonn. Das Trauma wurde im Wiederaufbau verdrängt – aber nachts schlich es sich wohl in viele Schlafzimmer. Auch mein Vater hatte – wie andere aus dem Krieg heimgekehrte Soldaten – nachts hörbare Albträume. Tagsüber hat er unser Überleben gesichert. Er hat die Familie anfangs mit Sozialleistungen über Wasser gehalten, die es aber nur dann gab, wenn man wöchentlich eine bestimmte Stundenzahl beim Aufräumen des Schutts der zerstörten Altstadt half, auch dann, wenn der Körper erschöpft war von Krieg und Gefangenschaft.

Beim Zusammensein mit Freunden, die sich oft und gerne bei uns einfanden, wurde über Kriegserlebnisse und Kämpfe gesprochen, aber nicht über ihre Gefühle. Es waren neu geschlossene Freundschaften, denn bis auf zwei überlebende Freunde aus Vorkriegs- und Kriegszeiten waren die anderen im Krieg gefallen. Ich war – heute denke ich, Gott sei Dank – still zuhörend dabei, denn mit dem Gehörten, verbunden mit dem aufkommenden Wissen über Holocaust und Krieg, konnte ich mir mit den Jahren einiges zusammensetzen und auch erklären. Zahlreiche Fragen blieben. Die Diskrepanz zwischen diesem Wissen, seinen Orden und Auszeichnungen, seiner Zugehörigkeit zur Ordnungspolizei in Polen und Serbien und zur Waffen-SS, der SS-Division »Reichsführer SS« in Korsika, Italien und Ungarn und seiner gelebten Sensibilität konnte ich aber nie auflösen oder gar verstehen. Ich hatte einen liebevollen Vater, einen, den ich jedem Kind nur wünschen kann. Die Zwiespältigkeit war aber für mich irgendwann da, weshalb eine große Verwunderung, eine Irritation geblieben ist. Noch heute sehe ich mir stets mit Herzklopfen neue Dokus oder Fotos sehr genau an, die seine Einsatzorte betreffen, in der Anspannung, ihn möglicherweise darauf zu erkennen, und atme auf, wenn es nicht so ist.

Meine Mutter litt an ihrer kriegsbedingten Traumatisierung und zeigte mir distanzierte Zuwendung – meiner Schwester aber aufgrund gemeinsamer Kriegserlebnisse Verbundenheit. Ich denke, dass ich für sie ein Ersatzkind war für meinen gestorbenen Bruder, denn ich würde heute auf ihren Wunsch sogar seinen Namen tragen, wenn ich ein Junge wäre. Für meinen Vater war ich das Wunschkind, das er hat aufwachsen sehen – meine Schwester war bereits eingeschult, als er aus der Kriegsgefangenschaft heimkehrte. Aber nach meinem Gefühl waren wir sicher keine Ausnahme mit dieser komplizierten Familienkonstruktion.

Mein Vater ist nach dem Krieg trotz gutem Angebot nicht in seinen geliebten Beruf als Polizist zurückgekehrt, sondern hat gleich ein Handwerk erlernt, mit der Begründung, nie wieder eine Uniform tragen zu wollen, und er lehnte jegliche Einladungen zu Kameradschaftstreffen ab, war sogar Mitbegründer der SPD in unserem Stadtteil. Er hatte offensichtlich seine Lektion gelernt – und heute bin ich erleichtert, dass er durch seinen frühen Tod nicht mehr das Opfer meiner jugendlichen und damals sicherlich inquisitorischen Fragen werden konnte, die von unserer Generation so gestellt wurden, dass in ihnen bereits die Verurteilung lag. Andererseits hätte gerade er mir erklärt und geantwortet. Jedenfalls gibt mir sein Tod die Möglichkeit, dies so glauben zu können. Doch wie hätte er detailliert über Taten reden sollen, die er sich wahrscheinlich selbst nie zu tun zugetraut hatte und die er doch ausführte, auch wenn er diese nun offenbar verurteilte und persönliche Konsequenzen zog.

Bei meiner Mutter war allein schon die Erwähnung einer deutschen Schuld unmöglich, denn sie fühlte sich als Opfer und nicht als Täterin. Sie schwieg und hatte angeblich nichts gesehen und gehört, was in Hitlerdeutschland geschah. Sie entzog sich jeglicher Befragung auch meiner Kinder, die von der Schule einmal die Hausaufgabe bekommen haben, mit den Großeltern über diese Zeit zu reden. Ihre Schwester führte dem von den Nazis eingesetzten Bonner Bürgermeister den Haushalt – und als ich ihr dies als Beweis vorhielt, dass es nicht möglich gewesen ist, gar nichts zu wissen, sagte sie: »Meine Schwester und ich sind uns einig, wir wissen nichts.« Dabei stand ihr Elternhaus in Nachbarschaft zur Synagoge, die in der Reichskristallnacht zerstört wurde. Sie wiederholte erklärend den Satz ihres Pfarrers, dass »die Juden unseren Herrgott gekreuzigt hätten«.

Meine Mutter litt darunter, dass ihre Generation später in der öffentlichen Meinung allein schon durch das Aufwachsen in der NS-Diktatur bereits als Täter gesehen wurde – obwohl sie selbst doch ausgebombt worden war und somit alles verloren hatte und zeitlebens den verbrannten Briefen, Fotos und Erinnerungen nachtrauerte. Das Rheinland war gegen Kriegsende Ziel von Bombardierungen, die später als Probe für die Bombardierung Dresdens in die Geschichte eingingen. Deshalb evakuierte man die Bevölkerung in den ländlichen Osten – an einem Wochentag gingen Züge nach Thüringen, an einem anderen nach Brandenburg. Meine Mutter und meine Schwester bestiegen zusammen mit meiner Tante, deren Sohn und meiner Großmutter in Bonn den Zug nach Brandenburg. Dort wurden sie als »Bombenweiber« empfangen. Sie wurden deshalb so genannt, weil sie aus dem Bombenkrieg im Rheinland kamen. Ihnen wurde bestenfalls ein Platz im Stroh zugewiesen, und nur unwillig gab man ihnen etwas zu essen. Sie wurden von dort bis Frankfurt/Oder »getrieben« und vom Russen »überrollt«, so nannten sie dies später. Was das für die Frauen bedeutete, ahnte man damals. Heute hat man darüber Gewissheit. Lange habe ich meiner Mutter gegenüber daraus keinen Hehl gemacht, dass ich diese Schilderung für etwas übertrieben hielt. Aber dann berichteten im Rheinland alte Frauen Ähnliches von ihrer Evakuierung ins Brandenburgische. Auf der Flucht von der Oder zurück nach Bonn »feierte« meine Schwester auf dem Schoß meiner Mutter sitzend im Schnee unter einem Baum vor den Toren Dresdens im Kreis der anderen Verwandten ihren vierten Geburtstag. Sie hat die helle Bombennacht nie vergessen. Ich habe schon früh die besondere Beziehung von meiner Mutter zu meiner Schwester verstanden und akzeptiert – sie hatte ihre Kindheit in Bunkern im Arm meiner Mutter verbracht. Nach ihrer Einschulung, kurz nach Kriegsende, wurde sie von kriegsversehrten, traumatisierten oder unverbesserlichen (Nazi-)Lehrern mehr schlecht als recht unterrichtet. Diese Kinder sind die gänzlich unschuldigen Opfer und hatten auch nach dem Krieg nicht dieselben Chancen wie die später Geborenen. Ich habe meine Schwester bewundert und geliebt, sie hat mich beschützt und gab mir, was meine Mutter nicht mehr zeigen konnte. Die Trauer um ihren frühen Tod schmerzt heute wie damals.

Die Evakuierung der Rheinländer ist medial wenig thematisiert worden, vielleicht, weil es Frauen und Kinder betraf und die Sorge um die Soldaten Vorrang hatte. Wahrscheinlich auch, weil dieser Teil der Kriegsgeschichte Brandenburgs hinter dem Eisernen Vorhang verborgen lag und später unwichtig wurde für die westliche Politik. So erlebte auch meine Familie auf der Flucht zurück von Brandenburg nach Bonn Tiefflieger und Verlust, zwar nicht der Heimat, aber des Zuhauses, das zwischenzeitlich in Schutt und Asche gebombt worden war. Meine Mutter war zeitlebens in ihren Ängsten gefangen: vor Gewitter, vor Fremden, vor der russischen Sprache und vor dem Leben.

Ja, das waren die Geschichten meiner Kindheit. Ich hörte sie wie heute Gutenachtgeschichten. Draußen waren die Trümmergrundstücke gegenwärtig, Kriegsversehrte auf den Straßen, die mit ihren Bauchläden von Tür zu Tür gingen und Waren anboten. Dann kamen die ersten Gerüchte um die Verbrechen der Nazis auf, aus denen dann Gewissheit wurde. In den Geschichten der Eltern waren sie selbst stets die Opfer – in den Nachrichten dann die Täter. Es war schwer, all das in meine jugendliche Seele einzuordnen. Denn im Gegensatz zu heute, wo das Wissen um die Kriegsschuld offenliegt, wurden wir sukzessive durch den beginnenden Auschwitz-Prozess damit konfrontiert. Ich erinnere mich an das erste Foto von ermordeten Juden, das uns eine jüdische Lehrerin zeigte. Eine Verbindung zu meiner Gegenwart, zu meiner Familie gelang mir erst einmal nicht. Dann kamen die Aussiedler-, Vertriebenen- und Flüchtlingskinder aus dem Osten in unsere Schulklassen und in unser eigenes instabiles Leben. Ich begann früh, zu lesen und alles zu sammeln, was ich über die – erst später Holocaust genannten – Verbrechen finden konnte. Im Zuge der Wehrmachtsausstellung gab es dann weitere Informationsveranstaltungen und Diskussionen, die wieder eine Änderung der Blickrichtung mit sich brachten, denn bis dahin waren alle Kriegsverbrechen einzig der Waffen-SS zugeschrieben worden. Dieses lebenslange Reflektieren hat mich geprägt, mein Bewusstsein für Unrecht geweckt, das dann in eine politische Überzeugung einging und in ein soziales Denken, das sich manchmal in Richtung Helfersyndrom neigte und bis heute überlebt hat als »Sich-verantwortlich-Fühlen« für vieles, was gar nicht in meiner Verantwortung liegt.

Meine Mutter hätte eine Therapie benötigt, die es aber im Nachkriegsdeutschland nicht gab. Uns allen hätte es geholfen. Später interessierte sich niemand für die Gründe ihrer »Angststörung«, wie ihr Leiden plötzlich genannt wurde, sie wurde einfach medikamentös behandelt. Für meine Mutter war es nur eine Linderung körperlicher Symptome, aber nicht für mich. Ich war zeitlebens überfordert, da ich mitfühlend auf den Gefühlszustand meiner Mutter reagiert habe. Denn zu all dem Leid im Krieg kam der Verlust meines drei Monate alten Bruders, gestorben am plötzlichen Kindstod, und der Verlust meiner 17-jährigen Schwester, die an einer Embolie nach einer Operation gestorben ist, und wenige Jahre später der plötzliche Tod meines Vaters an einem seit Kriegszeiten wandernden Splitter, der eine Gefäßverstopfung auslöste. Mit 15 Jahren war ich mit meiner Mutter allein, die ich bis dahin nur unwirklich neben der Liebe meines Vaters und meiner Schwester wahrgenommen hatte. Meine Mutter und ich trennten uns erst bei ihrem Tod vor einigen Jahren – ich pflegte sie zu Hause bis zuletzt.

Das Leid hat auch in unserer Familie bereits mit dem Ersten Weltkrieg begonnen. Unsere WK-II-Soldaten-Eltern gehörten zu einer Kriegskinder-Generation, traumatisiert vom Ersten Weltkrieg, wenn auch wegen der unterschiedlichen Kriegsführung nicht so direkt betroffen wie die Kinder des Zweiten Weltkriegs. Und doch: Meine Mutter hat ihren Vater – also meinen Großvater – erst nach seiner Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft des Ersten Weltkriegs kennengelernt, was sich dann später bei meiner Schwester und unserem Vater wiederholte. Und mein Großvater väterlicherseits, dessen Bruder sowie der Patenonkel meines Vaters fielen in Verdun, als mein Vater ein halbes Jahr alt war. Er ist nicht nur ohne Vater und väterlichen Beschützer aufgewachsen, der Familie fehlte auch der einzige Ernährer. Schon diese Kinder erlebten den Verlust von Familienangehörigen, die Weltwirtschaftskrise und den Hunger und schließlich die Verirrungen in die Nazi-Ideologie. Dann kam auch schon der Zweite Weltkrieg und damit weitere Traumatisierungen durch das Kriegsgeschehen und wieder Verlust von nahestehenden Menschen, Verlust der vertrauten Umgebung und das Wissen, um Ideale, um die Kindheit oder um das Leben betrogen und zum Täter geworden zu sein. Daneben gab es die Gruppe der Uneinsichtigen, die das nicht erkennen wollte oder konnte. All dieses Leid wurde dann erneut an uns Kinder weitergegeben … und wir mussten uns durchwühlen zu der Erkenntnis, dass diejenigen, die wir als Opfer erlebt haben, auch Täter waren, oder umgekehrt, die Täter auch Opfer waren. Das muss man erst einmal verarbeiten. In den 1960er-Jahren hört dann der traumatisierte und verwundete Heimgekehrte, der im Krieg seinen verletzten Kameraden zum Lazarett getragen und Freunde begraben hat, der allerdings auch an Verbrechen schuldig geworden war, von seinem halbwüchsigen Kind: Väter sind Täter …

Aber wie sollten die Eltern über das Geschehene sprechen, über Taten, die zu tun sie sich selbst nicht zugetraut, die sie aber doch getan hatten? Haben sie sich vielleicht gefragt oder geschämt, wie wir als Heranwachsende auf Geständnisse reagieren würden, und deshalb geschwiegen? Aber hätten wir überhaupt ein Geständnis gewollt und über die auch von ihnen verübten Grausamkeiten reden wollen? Wären wir Heranwachsende damit nicht vollständig überfordert gewesen? Ein Eingeständnis der Eltern von aktiver oder passiver Schuld oder von Schuldig-geworden-Sein durch Schweigen, das hätte uns damals schon geholfen. Aber das erreicht man nicht mit Anklagen wie »Was habt ihr getan?«. Die Kinder als Vertreter der Anklage und Richter über die Taten des Vaters, nicht vorstellbar.

Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass Kinder ihren Eltern nicht vergeben können, was sie getan haben, woran sie schuldig wurden. Vergeben können nur die Opfer. Haben die Täter gesühnt, endet Sühne irgendwann, endet Schuld irgendwann? In meiner Religion heißt es, dass jeder für seine Taten selbst verantwortlich ist, und das gab mir endlich die Ruhe, nach der ich mich sehnte.

Bis dahin fühlte ich mich überverantwortlich in Wiedergutmachung, habe seit der Jugend in Hilfsorganisationen mitgewirkt und schon mit 15 Jahren gewusst, dass ich Kinder adoptieren würde.

Erst in Sarajevo ist mir bewusst geworden, dass meine persönliche Geschichte Triebfeder war, mich während des Bosnienkrieges bei Hilfsorganisationen zu melden und zu helfen, später dann nach Kriegsende vor Ort in Bosnien. Mein Vater war während des Krieges in dieser Region – und ich fühlte mich gut, dort meinen persönlichen Anteil an der Wiedergutmachung zu geben. Ich denke, es ist kein Zufall, dass ich nun auf der »Opferseite« lebe, nämlich bei denen, die durch die Serben in Konzentrations- und Vergewaltigungslagern litten und dieselben Kriegsgräuel erlebten, die auch unsere Elterngeneration einst verübte – auch verübte an denen, die dann in Bosnien zu Tätern wurden. So kenne ich die Täter- und die Opferseite. Die Anklagen des deutschen Täterkinds – und die Traumatisierung des bosnischen Opfers. Bosnien hat mich Wesentliches gelehrt.

Sehr herzliche Grüße von Nura Ursula.

An diesem Brief lässt sich beispielhaft ablesen, dass Kriegsenkel sich einreihen in eine Kette von Ereignissen, die weit in die vorhergehende Generation reicht. Daher lohnt es sich, das Zeitfenster noch ein bisschen mehr zu öffnen und zu fragen, welchen Ereignissen und Herausforderungen die vorangegangenen Generationen, also die Eltern und auch die Großeltern der Kriegs- und Flüchtlingskinder-Generation, ausgesetzt waren.

Die Kraft der Kriegsenkel

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