Читать книгу Die Kraft der Kriegsenkel - Ingrid Meyer-Legrand - Страница 17
Oskar Gröning – ein Kriegskind
ОглавлениеDie Geschichte von Oskar Gröning, dem »Buchhalter von Auschwitz«, der Anfang April 2015 als 94-Jähriger vor Gericht gestellt wurde, ist so ein Beispiel.
Er hatte als gelernter Bankkaufmann das Geld, das man den todgeweihten Juden abgenommen hatte, zu zählen und nach Berlin zu schicken. Sein Vater, ein vom Ersten Weltkrieg versehrter Mann, wurde Mitglied im »Stahlhelm«, der paramilitärischen Schutztruppe der Deutschnationalen Volkspartei. Seinem Sohn Oskar Gröning erlaubte er als Zwölfjährigem (!), in der Jugendorganisation des Stahlhelms mitzumarschieren. Uniform, Fahne, Disziplin, Gehorsam – das waren die höchsten Werte im Hause Gröning. Als Hitlers Armee im September 1939 in Polen einmarschiert, ist Oskar Gröning begeistert. »Da konnten wir mal die Polacken verhauen« – so redet er noch im Januar 2015, als er als alter Mann vor Gericht steht. »Die Waffen-SS! Die zackigste Truppe! Wir wollten dazugehören!« Im September 1942 wird er mit einigen Kameraden nach Berlin beordert. In Anwesenheit einer Riege hoher SS-Führer wird ihm und seinen Kameraden eröffnet, dass sie für eine Tätigkeit gebraucht würden, »die sicher nicht angenehm ist, aber die gemacht werden muss, um den Endsieg zu erreichen«.20 Am nächsten Tag fährt er nach Auschwitz und erfährt, was dort geschieht. Oskar Gröning nimmt daran keinen Anstoß. Im Strafprozess sprach der Angeklagte 2015 über sich und seine Taten folgendermaßen: »Vielleicht war es die Gewohnheit, Tatsachen so zu akzeptieren, wie sie auftraten. Vielleicht war es aber auch die Bequemlichkeit des Gehorsams, zu dem wir erzogen waren und der Widersprüche nicht zuließ. Dieser uns anerzogene Gehorsam verhinderte, die tagtäglichen Ungeheuerlichkeiten als solche zu registrieren und dagegen zu rebellieren. Es ist nach heutigen Maßstäben nicht zu fassen.«
Was hier immer noch ausgeklammert bleibt, ist, dass »Menschen unter allen Umständen eine Verantwortung für ihr Handeln« tragen.21 Hannah Arendt hat schon früh darauf aufmerksam gemacht, dass die Banalität des Bösen an jenem Punkt beginnt, wo das System übernimmt und Menschen nicht länger selbst denken, sondern nur ausführen. So fangen Prozesse an, die autonom und ohne jegliche Form von Menschlichkeit funktionieren.
Dieses Beispiel von Oskar Gröning steht stellvertretend für alle anderen, die als Folge des Zusammenspiels der Erfahrungen der Mütter und Väter im Ersten Weltkrieg und den Naziorganisationen (Waffen-SS) die Katastrophe vorbereitet haben: die Verfolgung und Vernichtung von Juden, Sinti und Roma, Homosexuellen, Menschen mit Behinderung, (politisch) Andersdenkenden etc. und den Krieg.
So hat die Kriegskinder-Generation nicht nur die schlimmsten Verbrechen erlebt, ein Teil dieser Generation war bereits in jungen Jahren aktiv daran beteiligt. Damit war ihr junges Leben von Beginn an mit einer schweren Hypothek belastet. Ein unerbittlicher Drill, dumpfer Gehorsam und das Dazugehören-Wollen sind Parameter, von denen die nationalsozialistische Erziehung geprägt war. Das nationalsozialistische Erziehungsideal bestand darin, Menschen heranzuziehen, vor denen sich die Welt fürchten sollte. Die Geschichte von Oskar Gröning zeigt uns, wie die Realisierung dieses Ideals ausgesehen hat und aufgegangen ist.