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Mutter- und vaterlose Kinder des Ersten Weltkriegs

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Das Leid und Elend der Kriegskinder des Ersten Weltkriegs verdeutlichen noch andere Zahlen. In ganz Europa schätzt man die Zahl der Kinder, die infolge des Ersten Weltkriegs verwaist waren – also beide Elternteile verloren hatten –, auf ca. sechs Millionen.13 »Fast ein Drittel aller Männer, die zwischen 1933 und 1945 geboren wurden, wuchsen kriegsbedingt ohne Vater auf.«14 »Hinzu kommen Hunderttausende, besonders Frauen und Kinder, die an Hunger und Krankheiten starben, als ›indirekte Opfer des Krieges‹.«15

Wie groß das Elend war, sehen wir auch in dem aufrüttelnden Bilderzyklus von Käthe Kollwitz Deutschlands Kinder hungern und an den Zille-Bildern über das »Milljöh«, in denen das Elend der Arbeiterfamilien in Berlin dargestellt ist.

Die Gesellschaft jener Zeit zwischen 1918 und 1933, der Zeit der Weimarer Republik also, wird daher auch als »Kriegsopfergesellschaft« bezeichnet. Direkt oder indirekt war die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung mit den sowohl physischen als auch psychischen Auswirkungen des Krieges unmittelbar und dauerhaft konfrontiert.16 Welches unermessliche Leid diese Kriegskinder-Generation, also die späteren Eltern der Kriegskinder des Zweiten Weltkriegs, ertragen hat, lässt sich nahezu an jedem Genogramm nachvollziehen. Diese existenzielle Not bleibt anhaltend im kollektiven Gedächtnis.

An der Familiengeschichte von Sarah, einer Kriegsenkelin, wird dies deutlich:

»Eine Überzeugung, glaube ich, hat viel mit dem Mangel zu tun und ist bis heute Thema bei manchen aus unserer Familie: Es ist immer zu wenig da.«

In ihrer Familie ist insbesondere die väterliche Seite von den hier erwähnten zeitgeschichtlichen Ereignissen betroffen: Die Familie hatte kriegs- und krankheitsbedingt den Verlust von vielen geliebten Menschen zu verkraften und zusätzlich noch den Verlust ihrer materiellen Existenz – zuletzt durch die Flucht nach dem Zweiten Weltkrieg. Dreimal verloren sie Erspartes: durch den Ersten Weltkrieg, dann 1929 durch den Börsenkrach und schließlich 1945 durch die Flucht. Allein wegen dieser Verluste hat die Familie – wie viele in dieser Zeit – mehrere große existenzielle Krisen durchlebt. Aber es kamen noch Verluste ganz anderer Art hinzu. Die Großmutter verlor mit 14 Jahren den Vater und im Ersten Weltkrieg ihren Bruder sowie ihren ersten Verlobten, im Zweiten Weltkrieg schließlich noch ihren ältesten Sohn. In diesem Zusammenhang ist es sodann nicht verwunderlich, wenn wir Einschätzungen über Großmütter aus jener Zeit hören, die nicht besonders herzlich anmuten:

»Sie war eher herb, erzählt meine Mutter, aber gerecht.« (Sarah)

Erst zur Enkelin konnte sie wieder herzlich sein:

»Ich erinnere mich nur, wie gerne ich auf ihrem Schoß saß und sie mir ein Lied vorsang, das ich liebte: ›In einem kleinen Apfel …‹«

Schließlich starb sie 1965 an Krebs, wozu die (Kriegs-)Enkelin meint:

»Auch das ist kein Wunder: Bruder, Verlobter, ältester Sohn in Kriegen verloren und dann noch die Tochter als Baby. Und schließlich die Flucht.«

Das sind Beispiele, die beredt darüber Auskunft geben, in welcher Weise die Großeltern vieler Kriegsenkel als Kinder vom Ersten Weltkrieg und dessen Folgen betroffen waren. Oft sind sie durch den Ersten Weltkrieg vater- und mutterlos und aufgrund der Weltwirtschaftskrise häufig in großer Armut aufgewachsen. Diese gesellschaftlichen und familiären Verhältnisse haben die Eltern der Kriegskinder zu Beginn ihres Lebens vorgefunden, und von ihnen wurden sie geprägt. Auch dieses Erbe finden wir in der Kriegsenkel-Generation wieder.

Ein weiteres Beispiel zeigt, unter welchen Bedingungen die Kinder dieser ersten Kriegskinder-Generation groß geworden sind:

»Die Eltern meines Vaters, meine Großeltern, waren in dieser Zeit so arm, dass sie später ihre Kinder kaum ernähren konnten, obwohl sie Bauern waren. Sie haben meinen Vater als Neunjährigen zu einem Bauern gegeben, wo er sich das tägliche Brot verdienen musste. Zum Schlafen kam er wieder heim. Dass er trotzdem so liebevoll zu uns Kindern war in Anbetracht dieser Erfahrungen, das hat mich immer wieder erstaunt.« (Vera)

Und noch ein Beispiel, das aufzeigt, dass bereits in der Generation der Mütter und Väter der Kriegsenkel viele ohne Vater oder Mutter aufgewachsen sind, nämlich Hannas Mutter.

Die Kraft der Kriegsenkel

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