Читать книгу Die Kraft der Kriegsenkel - Ingrid Meyer-Legrand - Страница 9
Meine eigene Geschichte
ОглавлениеMeine eigene Geschichte beginnt mit der großen Wanderung meiner Urgroßeltern und den anschließenden vielen Fluchten meines Großvaters. Die Vorfahren meiner Mutter sind im 18. Jahrhundert von Hamburg nach Russland ausgewandert. Ein Jahrhundert später wurde diese Familie zu Zeiten der Russischen Revolution von den Bolschewiki nach Sibirien verbannt – wie viele der sogenannten Deutschrussen. Sie galten als »konterrevolutionär«, weil sie deutsch und zu einem gewissen Wohlstand gekommen waren. Die Eltern meines Großvaters hatten ein Fuhrwerkunternehmen. Das hat sie für die Revolutionäre Lenins suspekt gemacht. In der Verbannung verhungerten die Eltern meines Großvaters – meine Urgroßeltern. Schließlich flüchtete mein Großvater mit seinen Schwestern nach Polen. Auf dieser Flucht ist eine seiner Schwestern »verloren gegangen«. Aber bald schon floh er auch aus Polen, denn er sollte zum Militärdienst eingezogen werden. Im Deutschen Reich siedelte er sich neu in der Nähe von Stettin an. 1945 war er schließlich mit seiner eigenen Familie auf der Flucht: von Stettin in Richtung Hamburg. Dort ließ er sich mit seiner Familie nieder. Für ihn hat sich hier der Kreis geschlossen, da seine eigenen Vorfahren von Hamburg aus dem Ruf Katharinas der Großen gefolgt waren.
Für mich hatte dieser Großvater etwas Fremdes an sich, so als gehörte er nicht hierher. Als einen gebrochenen Mann aber habe ich ihn nie empfunden. Seine Fluchtgeschichten haben mir bereits sehr früh imponiert. Schließlich hatte er schon einmal eine andere Welt gesehen. Manchmal spielte er auf seiner Geige.
Meine Mutter war 13 Jahre alt, als sie mit ihren Verwandten – die Eltern blieben noch ein paar Wochen länger – aus Stettin geflüchtet ist. Von ihr habe ich vor fast 30 Jahren bereits viel über ihre Kriegs- und Flüchtlingszeit erfahren. Das Einzige, was sie damals mitnahm, als es plötzlich hieß: »Wir flüchten«, war ein englisches Wörterbuch. Sie hat es gebraucht, um mit den Amerikanern zu sprechen. Auf der Flucht hat sie gedolmetscht und nahm damit eine bedeutende Rolle in ihrer Familie ein. Dieses Dictionary haben wir Kinder später noch benutzt, und wer Englisch sprechen konnte, galt auch in unserer Familie viel.
Mein Vater, aufgewachsen in der Nähe von Hamburg, war mutig genug, eine – wie es damals hieß – »Flüchtlingsziege« zu heiraten. Damit wurde er selbst ebenso zu einem Fremden in dem kleinen Dorf, in dem er bis dahin lebte. Im Laufe der Zeit ist unsere Familie sehr groß geworden. Es schien fast so, als ob sich meine Eltern mit uns Kindern eine neue Heimat schaffen wollten. In dem Dorf lebten wir gewissermaßen wie auf einer Insel. Wir waren immer die Zugezogenen, die anderen, die Fremden. Da meine Mutter als Geflüchtete sehr demütigende Erfahrungen mit Bauern gemacht hat, wurden sämtliche Bauern – also unser gesamtes nachbarschaftliches Umfeld – mehr oder weniger argwöhnisch betrachtet. »Die dummen Bauern«, hieß es immer. Oder: »Iss nicht wie ein Bauer!« Und andersherum: »Wir sind etwas Besseres!« Wir waren die Einzigen aus dem Dorf, die auf eine höhere Schule gingen. Das hat mich zwar stolz gemacht, mich aber die Fremde noch mehr spüren lassen. Zu Hause habe ich mich in dem Dorf nicht gefühlt. Es gab auch keine Onkel, Tanten, Cousins, Omas oder Opas, zu denen wir eine enge Bindung gehabt hätten. Das hatte auch Vorteile: Niemand hat uns reingeredet, kein Opa hat gesagt: »Macht das mal so, wie unsere Familie das schon seit Jahrhunderten gemacht hat.« Einen Schutz durch Verwandte gab es allerdings auch nicht. Ein Zuhause habe ich erst in der Stadt gefunden – bei den anderen Zugezogenen und Fremden und Einzigartigen.
Auch die Familie meines Stiefvaters, des Mannes, den meine Mutter nach dem Tod meines Vaters geheiratet hat, war vom Krieg betroffen. Viele seiner Angehörigen – sein Vater zum Beispiel, der sich als Bankdirektor geweigert hatte, die Hakenkreuzfahne aufzuhängen, und auch sein Onkel – hatten in der Nazizeit ein Berufsverbot auferlegt bekommen. Der Onkel, der im Besitz eines großen sozialdemokratischen Zeitungskonsortiums war, wurde darüber hinaus enteignet. Mein Stiefvater wurde noch als 17-Jähriger kurz vor Ende des Krieges eingezogen. Aber er kam zum Glück nicht mehr zum Einsatz. Er erzählte mir, wie er über Tage und Wochen zu Fuß nach Hause gelaufen sei, wo er das Elternhaus völlig zerstört und ausgebombt wiederfand.
Aber einen Nazi hatten auch wir in unserer großen Familie: Mein Onkel, der Halbbruder meiner Mutter, war in der SS gewesen. Er war 19 Jahre alt, als er von Stettin nach Berlin ging, und zählte zur typischen Klientel der Nazis: Er galt als haltlos, ohne Arbeit und entwurzelt. Seine Mutter – die auch die Mutter meiner Mutter war – ist früh gestorben, und in der neuen Familie war er nicht willkommen. Was er in der NS-Zeit angerichtet hat, haben wir nie erfahren. Ich habe ihn nur einmal gesehen.
Ich selbst wohne seit über 25 Jahren in Berlin und bin damit auf halbem Wege zurück in den Osten, dort, wohin es auch einmal meine Vorfahren gezogen hat. Freiwillig und ohne auf der Flucht zu sein, möchte ich betonen. Aber stimmt das? Vielleicht fühlte ich mich, bevor ich mich auf den Weg gemacht habe, auch getrieben und rastlos, so wie es viele Kriegsenkel erleben. Bis dahin lebte ich lange in einem gewissen Provisorium und konnte mich nicht recht entscheiden, mich endgültig irgendwo niederzulassen. Eine Freundin meinte einmal, als ich wieder auf gepackten Koffern saß: »Hier sieht’s aus wie auf der Flucht.« Vielleicht bin ich aber gar nicht vor etwas geflohen, sondern habe mich vielmehr von der Sehnsucht nach dem »richtigen« Ort leiten lassen, dorthin zu gehen, wo ich heute lebe.
Die Geschichte der Familie meines Mannes, eines Belgiers, beginnt in Frankreich. Auch seine Familie ist von zahlreichen Wanderungen geprägt. Seine Vorfahren kamen als Schneider mit der napoleonischen Armee Anfang des 19. Jahrhunderts über Dinant im wallonischen Teil Belgiens nach Flandern und sind dort bis heute geblieben. Sie haben – die Galauniformen – für die Angehörigen der napoleonischen Armee geschneidert.
Ein Großonkel meines Mannes ist von den Nationalsozialisten in ein KZ deportiert worden. Er hat es überlebt, aber er war danach ein gebrochener Mann und hatte einen Sonderstatus in der Familie inne. Man erlaubte ihm, alles zu tun, was immer er wollte, so merkwürdig es auch gewesen sein mochte. Ein anderer Onkel meines Mannes war Zwangsarbeiter in Deutschland und verliebte sich in die Tochter des Bauernhofs, auf dem er arbeiten musste. Für ihn war die Zwangsarbeit mit seiner ersten großen Jugendliebe verbunden. Er hat mich in dieser Familie – als Deutsche! – besonders willkommen geheißen.
Während der deutschen Besatzung des Dorfs, in dem die Familie meines Mannes lebte und das über ein Kraftwerk verfügte, wollte mein Schwiegervater – damals kaum 20 Jahre alt – die Deutschen mit einer Handgranate attackieren. Er konnte zum Glück noch daran gehindert werden, sonst hätte wohl das ganze Dorf büßen müssen.
Mein Mann hat sich zunächst auf die Spuren seiner Vorfahren begeben und lebte, nachdem er sein Kunststudium in Antwerpen beendet hatte, mehrere Jahre in Paris, ehe er nach Berlin kam.
»Flucht«, »Migration« oder besser »ein immer wieder neues Aufbrechen« waren auch zwischen uns lange Zeit ein Gesprächsthema. Immer wieder überlegten wir, wo wir leben wollten und ob wir nicht lieber nach Belgien ziehen sollten. Erst etwas Drittes hat uns dazu veranlasst, uns tatsächlich niederzulassen, nämlich die sich ankündigende nächste Generation – unser gemeinsames Kind, das in Berlin geboren wurde. Das ließ schließlich eine ganz neue Geschichte entstehen.
Die Kinder der Kriegsenkel können heute auf einen ganz besonderen kulturellen Reichtum in ihrem Leben zurückgreifen, einen Reichtum, der auf den Erfahrungen der Generationen vor ihnen und in der ernsthaften Reflexion und Auseinandersetzung mit ihnen und ihrer Geschichte begründet ist. Auf diesem Weg kann die Geschichte nicht länger nur als Last, sondern auch als reiche Quelle aufgefasst werden. Unsere Kinder haben inzwischen gelernt, »sich statt einer Zwangsheimat aus Glaube, Treue, Tradition und Milieu neue Wahlheimaten zu suchen oder auch zu gestalten: in einer Weltanschauung ihrer Wahl, in wechselnden Partnerschaften ihrer Wahl und in dauerhaften Freundschaften über alle Grenzen hinweg«.6
Die Schlüsselfiguren unserer Geschichte und wir selbst haben nicht nur Leid und eine verbrecherische Geschichte im biografischen Gepäck, sondern Erfahrungen und daraus erworbene Kompetenzen im Umgang mit großen gesellschaftlichen Umwälzungen, die sie und wir am eigenen Leib erlebt und bewältigt haben. Daraus können wir lernen, aufgeschlossen für und wachsam in Bezug auf (politische) Veränderungen zu sein.
Es macht einen Unterschied, ob man sich vorstellt, Teil einer großen Wander- und Flüchtlingsbewegung zu sein, oder »immer noch auf der Flucht« ist. »Wir sind die neuen Nomaden«, haben die Flüchtlingseltern einer Kriegsenkelin über sich gesagt. Diese Haltung ermöglicht es, auf die Suche zu gehen und zu ergründen, wie die Generation es vor uns gemeistert hat und woher sie die Zuversicht nahm, dass es ihnen gelingen würde, sich einen Platz in der jeweiligen Gesellschaft zu verschaffen. Mit ebendieser Haltung können sich die Kriegsenkel auch fragen, ob sie nicht gerade dafür prädestiniert sind, die eigenen Wünsche zu erkennen und umzusetzen, weil ihr mentales Rüstzeug sie dazu befähigt, Veränderungen anders zu erleben und Herausforderungen besser zu meistern.