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Der Erste Weltkrieg, die Hungerkrise und die Inflation

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Das sind die drei existenziellen Brüche, die Deutschland bis zur Weltwirtschaftskrise erlebt hat. Genauer: der Erste Weltkrieg und die Niederlage mit Millionen Toten und Verwundeten. Für Deutschland werden ca. 2,4 Millionen Kriegstote – ca. 19 Prozent der insgesamt 13 Millionen Soldaten – und ca. 4,3 Millionen Kriegsverletzte angenommen.9 Die Hungerkrise des Winters 1918/19 mit etwa 200000 Toten, worunter sich sehr viele Kinder befanden, und schließlich die Inflation von 1923 mit der Vernichtung der Sparvermögen, vor allem der Mittelschicht. So ist nachvollziehbar, dass der nächste darauf folgende Schock, die Weltwirtschaftskrise mit ihrem Massenelend, die Gesellschaft an die Grenzen ihrer psychischen Belastbarkeit führte. Hinzu kam das »Demütigungssyndrom«10, das sich in der Generation der Frontkämpfer durch die moralischen Bestimmungen des Versailler Vertrags ausbreitete. Auf dem Höhepunkt der Krise 1932 war ca. ein Drittel der Empfänger der Arbeitslosenversicherung unter 30 Jahre alt. Bei der »Krisenfürsorge«, heute der Sozialhilfe oder Hartz IV vergleichbar, war es genauso. Wer noch bei seiner Familie lebte, hatte gar keinen Anspruch auf die schon 1929 vollkommen überforderte Arbeitslosenhilfe der Weimarer Republik, die nur für 800 000 Bedürftige konzipiert war. Die Vergabe der unzureichenden Mittel war zudem an entwürdigende Bedarfsprüfungen gekoppelt. Wehler stellt fest: »Die tiefe Erbitterung über dieses degradierende Verfahren potenzierte millionenfach (…) Wut und Frust.« Das Deutsche Reich hatte 1932 eine Arbeitslosenquote von unvorstellbaren 43 Prozent. Die reale Zahl der Beschäftigungslosen reichte fast an die acht Millionen. Damit war das Potenzial des Hasses in den 1930er-Jahren unermesslich.11 Wie wenige andere Ursachen trug das sozialpolitische Versagen in der ausgeprägten Notsituation dazu bei, das Gesellschaftssystem der Republik zu delegitimieren. Es führte auch dazu, dass nicht zuletzt die frustrierte Jugend 1930 die Kohorten der Republikfeinde füllte, und zwar auf der rechten wie auf der linken Seite.12

Man sollte meinen, dass diese Ereignisse, die nahezu 100 Jahre zurückliegen, heute keine Auswirkungen auf die Kriegsenkel mehr haben. Das Gegenteil ist jedoch der Fall: Das Erleben der Weltwirtschaftskrise mit der Geldentwertung, der die Einzelnen sich ohnmächtig ausgesetzt sahen, hat sich häufig bis zur Generation der Kriegsenkel in entsprechenden Überzeugungen festgesetzt und weitervererbt. Sie schlagen sich mit Glaubens- und Leitsätzen herum, die an die Erfahrungen ihrer Vorfahren anknüpfen. Es gilt immer, vorsichtig zu sein und kleine Brötchen zu backen. Nach dem Motto: Wer den Pfennig nicht ehrt, ist des Talers nicht wert.

Die Kraft der Kriegsenkel

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