Читать книгу Die Verlorene Form - wie zwölf dänische Königspferde zu einem Guss wurden - Inka Benn - Страница 22

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Wasserschlebe befühlte die Geldtasche um seinen Leib. Man befand sich bei Roskilde, einem der größten Orte vor Kopenhagen. Man sagte, dass es hier nur so von Gesindel wimmelte und die Gefahr bis zur Hauptstadt hin noch zunähme. Aus diesem Grunde wurde auf dem Kongevej Patrouille geritten, um insbesondere vermögende, adelige Reisende zu schützen. Nun traf dies auf die Salys oder ihn selber zwar nicht zu, dennoch fühlte sich das Bauchsilber unter dieser Voraussetzung auf der letzten Reiseetappe sicherer an. Plötzlich ein Stich. Eine Art Herzattacke. Etwas war über ihn gekommen. Der arme Junge. Unverzeihlich. Und auch nicht vorteilhaft für die salysche Familienhabe, die auf dem gefährlichen, öffentlichen Weg gen Stadt schaukelte. Und möglicherweise an irgendwelchen Zollstationen hängenblieb. Oder sogar ausgeraubt würde. Sicherlich war der Gepäckwagen langsamer unterwegs als ihre Kutsche. Was bedeuten könnte, dass die Fuhre erst später in der Stadt Roskilde eintreffen würde. Also wäre es durchaus möglich, Jean und den Wagen abzufangen, bevor sie irgendwo Unterschlupf fanden. Denn es wimmelte im Umfeld des Ortes nur so von Herbergen, Gasthöfen und Spilunken. Der Deutsche beschloss, sich nach Ankunft in Roskilde ein Pferd zu leihen, um vor den Stadttoren dem Wagen aufzulauern. Was freilich für die Barschaft aus seinem Gürtel gefährlich werden könnte. Wo er aber das Silber während seines Ausflugs lassen sollte, wusste er nicht.

Wasserschlebe stand vor einem Mietstall und verhandelte gerade mit dem Pferdeverleiher, als er ein bekanntes Wiehern hörte. Das konnte nur der weiße Hengst sein. Er fragte nach den Besitzern und bekam zu wissen, dass sich beide deutschen Herren in der Schänke beim Bier aufhielten. Das Wiedersehen war groß. Endlich ein bekanntes Gesicht. Da war es den beiden Reitersmännern Reizenstein und Prizelius nicht anders ergangen als Jean. Des Reisens müde und in der Fremde jeglicher Gesellschaft enthoben, hatten sie sich recht einsam gefühlt. Obwohl sie mit ihren deutschen Wörtern weiter gekommen waren, als der sprachlose Junge.

Prizelius wollte gerade beginnen, von ihren Reiseabenteuern zu berichten, als Wasserschlebe ihm zuvorkam und mit ernstem Gesicht die Misere mit Jean erläuterte.

Die beiden Deutschen, die Jean auf den gemeinsamen Etappen lieb gewonnen hatten und sich immer noch wegen der Hengstattacke in dessen Schuld sahen, boten sofort Hilfe an. Sie würden vor der Stadt auf den Gepäckwagen warten, mit Jean zusammen Unterkunft nehmen und am nächsten Tage das Fuhrwerk bis nach Kopenhagen begleiten. Man käme sowieso nicht so gut voran, wie man es sich erhofft hatte. Denn der Weg sei dermaßen belebt, dass der wilde Schimmel im Gewimmel der Fußgänger, Reiter und Kutschen Ärger machte. Als Handpferd sei das Tier gar nicht zu gebrauchen weil kaum zu bändigen. Warum also das Pferd nicht, wie in Jütland, an den Wagen hängen und gemeinsam mit Jean die letzte Etappe bestreiten?

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Wasserschlebe stürmte zur Kanzlei des Außenministers.

Schon vor dem Amtssitz in Christiansborg war er aus dem Wagen gesprungen und hatte die verdutzen Franzosen nach Charlottenburg weiter fahren lassen. Fräulein Moller war vergessen worden. Obwohl sie auf ihren Geliebten brannte.

Bernstorff empfing den treuen Wasserschlebe äußerst herzlich, umarmte und drückte den Mann. Auch über die Franzosen wollte er alles wissen. Wasserschlebe erstattete kurz Bericht und kam dann sofort auf das Silber zu sprechen. Geschwind legte er den Geldschlauch, der schwer in den Händen wog, ab.

Die fünfhundert Silberstücke aus Altona hatten ihren Bestimmungsort erreicht.

„Nun, mein lieber, wem sollen wir das Silber aushändigen? Der Ost-Asiatischen Kompagnie oder den mit England verbündeten Gegnern?“, fragte der Außenminister.

Zwar hatte Wasserschlebe das Silber entgegen genommen, jedoch waren die Anweisungen Reventlows, was damit geschehen sollte,recht verschwommen geblieben.

Deshalb fragte er irritiert:

„Hast du kein Schreiben aus Altona erhalten? Mir ist, als hätte Reventlow dich über den Coup schriftlich informieren wollen.“

„Und wenn schon. Ich will deine Meinung hören! Die Kompagnie oder die Engländer?“

Wasserschlebe musste nicht lange nachdenken. Bereits während der Reise hatte er sich Gedanken um den Einsatz des Pfands gemacht und sich für die Handelskompagnie entschieden.

„Gut“, meinte Bernstorff, „dann bleibt das Silber im Lande. Ich werde umgehend nach Moltke schicken lassen. Hast du Hunger, willst du etwas essen?“

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Die Gegend nach Roskilde war noch recht ländlich gewesen. Wenig Wald, große Felder und einzelne Höfe. Parallel zur Kongevej Route hatte man in der Ferne immer wieder einen Blick auf die lange Kette mit Wagen, Menschen, Viehzeug und Reitern, die auf die Hauptstadt hin oder von ihr fort strebten, erhaschen können. Allerdings hatte die letzte Strecke des Kongevejs dann die Richtung geändert, hin zu einem prächtigen Park mit einem auf dem Hügel thronenden, ansehnlichen Schloss. Die Vorfreude auf Kopenhagen war gereizt worden. Und die Bebauung nahm stetig zu. Zuerst die Vorstadt, dann die Befestigung. Beidseitig des Weges angelegte Gräben mit Deichen und Mauern. Viel Wasser rund um Kopenhagen. An der Vesterbro, der Brücke zum westlichen Stadttor, wurden alle Wagen gründlich kontrolliert. Insbesondere die Postreisenden mussten sich einschreiben und den Grund ihres Aufenthalts mitteilen. Als man selber an die Reihe kam, war es recht flott gegangen. Wasserschlebe hatte wohl irgendein Schreiben gezückt, so dass die Kutsche mit den Franzosen das prächtige Stadttor sofort passieren konnte.

Dies alles hatte Saly an Versailles erinnert. Ein gutes Omen oder ein schlechtes, hatte er sich gefragt.

Die Damen waren aufgeregt und äußerst entzückt gewesen von den ersten Eindrücken, die sie in der inneren Stadt hatten erhaschen können. Jene großen Bürger - und Kaufmannshäuser, welche direkt auf das Rathaus und den Marktplatz zu eine imposante Passage bildeten. Wie breit Slotsgade war. Und erst der Schlossgraben. Immer wieder Wasser. Kähne. Und Übergänge. Wie auf einer Insel zur nächsten.

Die Zufahrt zum Schloss Christiansborg führte über eine prunkvolle Brücke. Auf die Hauptfront zu. Reichlich Marmor an der prächtigen Toreinfahrt. Der Innenhof. Eine große Reitbahn im Zentrum. Prächtige Pferde und Reiter. Mächtige SeitenflügeI. Reges Treiben unter den Arkadengängen. Hastende Händler und Bedienstete. Marschierende Wachsoldaten. Auf das Portal zu.

Im Schlosshof, bei der Wache der königlichen Leibgarde, war Wasserschlebe aus der Kabine gesprungen.

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Die Kusche fuhr zurück. Über die schöne Brücke. Durch die Stadt. Breit führte der Weg Richtung Neumarkt um Slotsholmen herum. Immer am Wasser entlang. Boote. Fischhändler und eine Kirche. Häuserviertel und Gassen. Endlich tat sich der Marktplatz auf, flankiert vom Schloss Charlottenborg. Die Toreinfahrt zum Innenhof, wo das Pferdegetrappel ohrenbetäubend hallte.

Man war angekommen.

Zuerst schälte sich Saly aus der Kabine. Dann folgte sein Vater mit Fräulein Moller. Martine und Odette stützten ihre Mutter. Das Palais war mehrstöckig, klassizistisch im Stil und wenig prunkvoll. Man schaute sich um. Alles wirkte im Schatten der Mauern düster und dunkel. Es näherten sich von der Freitreppe herab zwei Burschen. Niemand Offizielles. Die Angekommenen wurden von beiden angestarrt und unsicherer Ehrerbietung unterzogen. Verlegen stand man sich gegenüber. Fräulein Moller versuchte es mit Deutsch. Die Gesellen wurden lebendig. Als entspräche es ihrem Auftrag,hasteten sie die Treppe hinab und halfen den Franzosen beim Aufstieg. Fräulein Moller insistierte darauf, dass Madame Saly unverzüglich ruhen müsse. Man wolle die Wohnung sehen.

Fragende Blicke. Nein, eine Wohnung gäbe es nicht. Alles sei im Umbau begriffen. Seit längerem fertiggestellt seinen lediglich die Ateliers des Monsieur Bildhauer. Irritiert trat die Gruppe das große Entree. Danach folgte eine riesige Halle, ehemals der Festsaal. Nun ausstaffiert mit Regalen, Kisten und Säcken.

Saly frohlockte. Der Meister war wieder erwacht. Dieser Raum in Versailles, und er wäre nie in Bedrängnis gekommen. In der Ecke einige Holzstühle und ein großer Arbeitstisch. Madame wurde nach dort bugsiert und hingesetzt. Nun hockte sie, eingesunken in den riesigen Raum, grau und verblasst in der Ecke. Das war für Saly nicht zu ertragen. Nicht in seinem Atelier. Bei der Mutter ließ er die Schwestern wachen, mit dem Rest zog er hinan in die oberen Stockwerke. Die Moller übersetzte. Das Appartement des Künstlers sei in der Mansarde, mit Blick über die Stadt und den Hafen. Eilfertig wurde die schwere Tür zu den privaten Räumen geöffnet, die Laken von den Möbeln gezogen und das Licht hereingelassen. Ein Appartement mit drei beieinander liegenden Räume. Ein hübscher Salon in der Mitte. Unaufdringlicher Rokkoko. Im Arbeitszimmer gefüllte Bücherregale, gerahmte Meisterstiche an den Wänden. Und im Schlafgemach ein großes Bett, ein Separé, die Ankleide und einige Möbelstücke. Alles eingerichtet nach dem neuesten Geschmack. Mit Genug Freiraum für den eigenen Geist und die persönlichen Dinge, die das Fremde gemütlich machen. Jemand hatte den Künstler gut erkannt. Saly vermutete Bernstorf dahinter.

Zunächst aber hieß es improvisieren. Madame Saly musste hinauf gebracht werden. Und die Schwestern. Außerdem brannte das Fräulein Moller in Erwartung auf das Wiedersehen mit ihrem Geliebten fahrig und blass vor Aufregung an seiner Seite. Ob es noch ein Kanapee gäbe oder eine Couch für seine Schwestern, wollte Saly wissen. Man selber und der Vater dächten im Atelier zu nächtigen. Dann sei umgehend eine Kutsche zu besorgen für das Fräulein Klopstock, die im, dringend erwartet würde. Ob der Dichter im königlichen Schloss weilte, in das Wasserschlebe so plötzlich entschwunden war, wusste Saly nicht. Die glücklich lächelnde Moller konnte mitteilen, dass man sich bemühen würde, die Wünsche umgehend zu arrangieren.

Unten im Hof wartete der Kutscher geduldig. Niemand war bisher zum Abladen des Beigepäcks erschienen. Überhaupt schien das Schloss wie ausgestorben. Ihn fröstelte im feuchten Schatten des Gemäuers. Plötzlich grober Lärm von der Durchfahrt her. Lachen und Poltern. Junge Burschen, offenbar Studenten, zogen einen wackeligen Karren, auf dem allerhand Möbel und Utensilien wild verstaut waren, in den Innenhof. Bis zur Treppe kamen sie, lärmten in die Empfangshalle hinein und riefen immer wieder Hallos nach oben hinauf. Ohne auf Antwort zu warten, wurde der Karren abgeladen. Unordnung. Praktischerweise wurde das Gepäck vom Reisewagen dazugestapelt. Bald schien kein Durchkommen mehr. Als die Kutsche polternd vom Hof fuhr, standen die jungen Leute belustigt da und besahen sich ihr Werk. Ein wenig hier gerückt und dort geschoben, dann schien das Kunstwerk perfekt.

Die Verlorene Form - wie zwölf dänische Königspferde zu einem Guss wurden

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