Читать книгу Die Verlorene Form - wie zwölf dänische Königspferde zu einem Guss wurden - Inka Benn - Страница 32
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ОглавлениеEs klopfte an der angelehnten Türe. Rousseau stieß das Messer in den Schmalztopf, wischte sich die Hände an seinem Rock und riss die Luke auf. Dort stand jemand im Gegenlicht. Ein breiter, großer Herr füllte die gesamte Türöffnung aus. Er zog seinen Hut und stellte sich vor. Er sei Arzt und geschickt worden, um ein gewissen Monsieur Saly zu untersuchen, der wohl einen Unfall gehabt habe und um welchen man sich in gewissen Kreisen Sorgen mache. Rousseau begann, den Bader abzuwimmeln:
„Nein, wir haben keinen Arzt bestellt. Und im Übrigen, es geht Monsieur Saly ausgezeichnet, nicht wahr?“
Er drehte sich zur Lagerstätte im Dunkeln um. Sicherlich konnte der Besucher nichts im Dämmer der Hütte erkennen. Saly verhielt sich still und überlegte. Er hatte Rousseau nie zu fragen gewagt, ob dieser Madame über seinen Verbleib unterrichtet hatte. Nun war es offensichtlich. Sie wusste Bescheid. Madame hatte ihren Leibarzt geschickt. Monsieur Sénac. Sollte die Verkettung zwischen ihm und ihr jetzt durch den Kontakt mit ihrem Arzt, der sie intim kannte, aufrecht gehalten werden? Was wäre, wenn er den Mediziner abweisen würde, was sicherlich genau dem Wunsch Rousseaus entspräche? Sein Mund hatte unaufgefordert zu sprechen begonnen:
„Bitte, Rousseau. Lasst Monsieur doch eintreten. Es wäre unhöflich, ihn ohne ein Wort wieder fort zu schicken.“
„Also gut, wenn du willst.“ Unwillig gab der Gastgeber den Eingang frei.
Die massige Gestalt trat ein und tappte im Dunkeln. Er bat Rouesseau ungeduldig:
„Nun, bitte, öffnet doch eine Fensterluke, ich kann rein gar nichts erkennen. Lasst gefälligst ein wenig frische Luft hinein, es stinkt hier wie in einer Räucherkammer!“
„Rauch desinfiziert und ist der Heilung zuträglich“, behauptete Rousseau wichtigtuerisch.
Der große Mann schüttelte den Kopf. Langsam gewöhnten sich seine Augen an das Dämmerlicht. Er trat an das Feldbett, auf dem Saly ruhte und fragte nach dem Befinden. Da sich der Verletzte nicht das Misstrauen Rousseaus zuziehen wollte, antwortete er zu dessen Gunsten:
„Schon viel besser, dank der Heilkünste der Natur. Monsieur Rousseau hat diese ausgezeichnet an mir anzuwenden vermocht.“
Das stimmte einigermaßen. Bis auf die ewigen Kopfschmerzen und das pochende Ziehen in den tieferen Kratzern. Da der Arzt scheinbar noch gar keine Kenntnisse über den Unfallhergang hatte, wollte er natürlich zunächst wissen, was denn überhaupt die Beschwerden seinen.
„Natürlich hauptsächlich Fleischwunden“, antwortete Rousseau.
„Durch eine Waffe oder etwa ein Tier?“, lautete die folgerichtige Frage des Medicus.
Rousseau überlegte, denn er wollte seine Heilkünste nicht wegen ein paar Dornen im Gebüsch geschmälert wissen: „Wie soll ich sagen, durch, äh, eine widerliche Mauer. Aus Dornen, Widerhaken und Schlingen.“
Saly war die kuriose Antwort seines Retters unangenehm:
„Monsieur Rousseau meinen ein Dorngebüsch. Darin hatte ich mich verfangen. Bei den Befreiungsversuchen zog sich die Haut an meinem Körper einige Risse und Schrammen zu. Sorgen mache ich mir allerdings hauptsächlich um meine Hände, sie verstehen?“
Der Arzt nickte und begann aufmerksam, Fingerknochen und Handflächen zu untersuchen.
„Es ist nichts gebrochen, die Schwellungen kommen von den Wunden, die zum Glück nicht eitern. Einige Kratzer sind tief, man müsste die Haut dort eigentlich vernähen, doch in Anbetracht ihres Berufes möchte ich davon absehen. Tragen sie diese Wundsalbe hier auf, die Haut muss elastisch werden und darf nicht verhärten. Bewegen sie sich, auch, wenn dies Schmerzen verursacht. Und lassen sie frische Luft an den Körper! Gehen sie an die Sonne! Sind an anderer Stelle noch tiefere Risse zu verzeichen?“
Saly wies auf seinen rechten Oberschenkel. Der Arzt schlug die Decke zurück und schob das Nothemd hoch. Am rechten Oberschenkel klaffte eine Wunde, die mäßig eiterte.
„Mh, hier sollte man nähen. Allerdings sind die Wundränder schon leicht eingeschlagen und klaffen weit auseinender. Man hätte früher reagieren müssen. Ich kann ihnen das tote Fleisch ausbrennen, - ja, das wäre das beste.“
Rousseau sprang zwischen Arzt und Kranken und rief theatralisch:
„Nur über meine Leiche! Das Ausbrennen der Wunden verursacht unnütze Schmerzen und behindert wochenlang die Wundheilung. Saly, vertrau auf deine Eigenkräfte!“
Saly war unschlüssig. Der Mann hier war offensichtlich eine Kapazität in seinem Handwerk. Allerdings, wenn man an das Ausbrennen dachte, das erinnerte doch eher an Kriegsverletzungen, bei denen alles schnell gehen musste und nachher sowieso das Bein amputiert wurde...
Saly erschauerte und entschied sich für eine entgegenkommende, wenn auch abwehrende Haltung:„Was, Monsieur Leibarzt, halten sie davon, wenn wir es zunächst ohne die radikale Methode versuchen?“
Rousseau sprang ihm bei:
„Genau! Wenn das Bein sich entzündet, können wir euch ja immer noch rufen! Außerdem bin ich, ganz wie ihr, Monsieur Leibarzt, genauso dafür, an die Sonne zu gehen und Luft tanken! Aber das Kopfweh des Monsieurs! Dieser arglistige Kopfschmerz erforderte Dunkelheit!“
Schlitzohrig setzte er noch hinzu:
„Und - ich möchte gerne eure Salbe benutzen. An einigen Stellen zumindest. Andere Wunden werde ich weiter mit meiner Tinktur behandeln. Dann werden wir sehen, ob die Naturheilkunst der Medizin des Medicus standhält.“
Der Arzt lächelte, das liege ganz im Ermessen des Kranken. Abgesehen davon, sterben werde der Verwundete an keinem dieser Kratzer.
„Vergiftet habt ihr euch ja nicht, eigentlich ist jegliche Gefahr gebannt. Nur,“ erwies auf den Oberschenkel, „hier wird eine Narbe bleiben. Eine interessante Stelle für die Damen, will ich meinen.“
Saly errötete einmal mehr und Rousseau atmete auf.
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* * *
Saly blieben noch einige Tage bis zu seiner körperlichen Wiederherstellung am Rande des Parks, in der Hütte des Denkers. Er nutzte die Zeit zum Lesen der Bücher, die Rousseau in dem kleinen Nebenzimmer wie einen Schatz hütete. In den langen Gesprächen am Krankenlager waren sich beide Männer nicht wirklich näher gekommen. Über die prekären Verhältnisse zwischen Wissenschaft und Kunst hatten sie sich nicht einigen können.
Saly sah das Gefühl für und in den Dingen als maßgeblich an und Rousseau bemühte grundsätzliche Antworten aus den Gesetzen der Natur. Der eine sah das Schöne in der Erscheinung der Dinge, der andere fand Gefallen am Nutzen. Rousseau legte dar, dass es nichts Ursprünglicheres als die Natur an sich geben könne, da diese dem Menschen zu dienen habe. Deshalb übertrage sich die Natur per se auf den Menschen und erhebe ihn zum Menschsein. Saly hingegen behauptete, die Erhabenheit des Ichs würde allein durch Schönheit der Natur wahr werden. Zum Beweis seiner Theorie war Rousseau mit Saly durch Wald und Feld gewandert. Beide hatten sich gegenseitig auf formvollendete Naturdinge aufmerksam gemacht. Wenn Saly eine goldene Ringelblume sah und diese Schönheit an sich mit Worten zu beschreiben versuchte, so verlangte Rousseau nach der Schönheit des Zweckes der Calendula, aus der man ein Heilmittel herstellen könne. Zweck und Bedürfnis standen für den Philosophen im Vordergrund. Er, der Künstler, erfreute sich statt dessen allein an der Gestalt der Dinge.
Spitzfindig redeten beide immer öfter aneinander vorbei.
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* * *
Einmal besuchten sie das Dorf, welches unter Rousseaus Obhut stand. Anhand des Organismus dieser Gemeinschaft hatte er dem Künstler zu erklären versucht, wie die menschlichen Bedürfnisse am natürlichsten und somit auch zufriedensten erfüllt werden könnten. Er sprach als Beispiel vom sozialen Zusammenleben der Urvölker als Ziel der gesellschaftlichen Bestimmung und von der genügsamen Sicherung des Lebensstandarts, die sich auf Nahrungsbeschaffung, Fortpflanzung und Friedenserhaltung bezog. Saly wandte ein, dass bei den Urvölkern, wie er in Rousseaus Bibliothek gelesen habe, oft kriegerische Auseinandersetzungen zwischen den Stämmen stattfanden, brutale Sitten und sexuelle Ausschweifungen vorherrschten und sogar Religionen zu finden seien, die Menschenopfer forderten oder die Mehrehe zuließen. So wolle er jedenfalls nicht leben. Rousseau hatte geantwortet, dass er sich selbstverständlich gegen den Libertinismus wende, welcher das Ausleben der zügellosen Freiheit in ähnlicher Form bejahe.
„Hiergegen hat meine Philosophie ein wirkungsvolles Rezept, nämlich Bildung und Erziehung. Erziehung wirkt den groben Sitten entgegen und führt zum Erreichen der Tugend.“
Erziehung wende er im Namen der Aufklärung als seine vordringlichste Forschung hier im Dorfe an. Er sei eben für den Fortschritt. Der sei hier von Nöten. Selbstverständlich innerhalb der Grenzen der Natur.
Ob denn auch die Erziehung zur Kunst darin vorkäme, hatte Saly gefragt. Dem Philosophen war dieser Einfall noch gar nicht gekommen. Er versprach aber, darüber nachzudenken.
Saly, ganz damit beschäftigt, dem Herrn Belege zu diesem wichtigen Thema zu suchen, hatte plötzlich inne gehalten und fasziniert auf eine Szene vor seinen Augen gestarrt.
„Da, seht!“, hatte er gerufen und auf einen Knaben mit einem Zicklein im Arm gewiesen.
Sofort waren das Skizzenbuch gezückt und einige Eindrücke und Details gezeichnet worden. Glücklicherweise war der Hirte längere Zeit mit dem Beschneiden der Ziegenhufe beschäftigt, so dass Saly alle Eindrücke genauestens sammeln konnte.
„Wie friedfertig die Szene ist! Und wie natürlich Mensch und Tier einander vertrauen! Ein intimer Augenblick der Einfalt und Größe. Ja, so soll es sein...“, entzückt sogen sich die Konturen am Papier fest. Besonders das aufmüpfige Gesicht des Zickleins faszinierte den Künstler. Daran hielt er sich etwas länger auf. Langsam verfestigte sich ein Bild in ihm, Ideen flogen deine Vorstellungskraft an. Eine Partie nach der anderen wurde festgehalten. Dazu schlich der Künstler wie ein Hexenmeister um den Jungen mit dem Tierchen herum. Im seinem Bannkreis versteinerte das Paar. Festgestzt mit dem Griffel.
Rousseau indess langweilte sich. Er begann zu erklären, dass man die Hufe der Tiere pflegen müsse, da ein Tier, das ständig fressen und deshalb von Futterplatz zu Futterplatz ziehe, ja gut zu Fuß sein sollte. Ein hinkendes Tier, das sich vielleicht einen Dorn eingetreten und sich deshalb eine Entzündung zugezogen habe, würde beim Hinken zu viel Energie verbrauchen, zu wenig fressen und dadurch weniger Milch und Fleisch geben. Bei solchen alltäglichen Problemen habe der Mensch der Natur dienlich zuzuarbeiten. Und außerdem, ermahnte er den Hirten, warum habe er ihn so wenig bei seinem Unterricht zu Gesicht bekommen? Herrisch befahl er dem Jungen, bei der nächsten Unterweisung, wenn es um das das Leben der Bienenvölker ging, dabei zu sein.
Der Angesprochene ließ unwirsch das meckernde Zicklein vom Arm springen und erklärte grimmig, er habe keine Zeit, sich um das Leben der Bienen kümmern. Gott habe es so eingerichtet, dass man deren Honig zum Verspeisen einsammeln kann, damit sei die Sache für ihn erledigt. Er habe Ziegen zu hüten und bekäme selten Honig aufs Brot. Und überhaupt, seit Monsieur hier aufgetaucht sei, wäre eine Menge Arbeit, die sonst die Kinder zu verrichten hätten, liegen geblieben. In der Käserei zum Beispiel, dort müssten die Frauen nun länger rühren, als zuvor. Dadurch würden die Ziegen später gemolken, was dazu führe, dass er selber länger mit den Tieren auf der Weide bleiben müsse. Dort würde nun bei diesem heißen Sommer das Futter knapp. Da das Heu noch nicht eingebracht sei, denn die Kinder wären mit dem Binden der Garben nicht nachgekommen, würden die Ziegen in absehbarer Zeit zu wenig zu fressen haben. Also gäbe es weniger Milch. Die dann aber trotzdem genauso gerührt werden müsse. Und so weiter. So sähe die Sache aus. Er pfeife auf das, was so ein aufgeblasener Besserwisser ihm zu befehlen versuche!
Fasziniert sah Saly dem Kampf zu. Welch eine Kraft von dem Knaben ausging, welch eine Stärke! Welch ein Rückgrat! Das ist Natur!, dachte der Bildhauer.
Rousseau hingegen war nur blutrot angelaufen, spuckte eine Verwünschung nach der anderen gegen den Knaben aus und wandte sich,noch bevor ihm die Hand ausrutschte, fuchsteufelswild zum Gehen.
Gegen Ende seiner Zeit am Rande des Gartens von Bellevue, hatte sich Saly um seiner vermissten Kunstwerke willen, unter Qualen überwunden, das Schloss noch einmal zu betreten. Heimlich, als Dieb in der Dunkelheit. Ihn drängte es zu seinen Werken, an denen er noch Kleinigkeiten zu erledigen hatte. Er stahl sich lautlos aus der Hütte und schlich wie ein Schatten durch den Park zum Atelier. Mit Mühe war es ihm irgendwie gelungen, sich heimlich mit Jean, seinem treuen Gehilfen, dort zu verabreden. Saly hatte einige wichtige Aufträge für den Vertrauten. Jean sollte sobald und unauffällig wie möglich alle Utensilien packen. Dann eine Fahrgelegenheit besorgen, ihn bei Rousseau abholen und ihn zunächst mit allen Habseligkeiten nach Paris bringen. Insgeheim war zu hoffen, dass man nicht mehr zurück nach Versailles müsse, um die Arbeit dort zu beenden. Welch zwiespältige Gefühle erzeugten diese Gedanken! Einerseits dürstete es Saly nach der Handarbeit, andererseits hätte er gerne die Ansicht der Madame vergessen und sich, abseits des Hofes, einem neuen Vorhaben zugewendet. Der Sockel in Valenciennes war noch fertig zu stellen...das Ausland rief nach französischen Künstlern...
Im fahlen Licht stand die verhüllte Büste noch auf ihrem Platz. Sanft entfernte der Bildhauer das Tuch von der Schulter und strich noch einmal über den mondbeschienen, weichen Gips. Er schwor den Jungen ein: Die Büste müsse mit äußerster Vorsicht transportiert werden. Er, Jean, sei dafür verantwortlich. Nachdem Saly das Werk wieder sorgfäligst verhängt hatte, bückte er sich nach der kleinen Schatulle, in der die Statuette der Reiterin lag. Vorsichtig öffnete er den Deckel und betrachtete das zarte Bild. Gerührt überlegte er, was damit zu tun sei. Auf jeden Fall war es jetzt zu spät, die Figur in Porzellan zu erwecken. Sollte er sie ihr trotzdem vermachen? Saly überlegte nicht weiter und nahm das Kästchen mit. Nocheinmal zurück in die Natur. Mal sehen, wie Frau und Pferd sich dort machen würden.
Wo er denn gewesen sei, wollte Rousseau wissen, als Saly versuchte hatte, heimlich in die Hütte zu schleichen. Vorsorglich hatte er das Kästchen hinter seinem Rücken versteckt. Er habe seine Abreise vorbereitet, gab Saly ehrlich zur Antwort.
„Ich habe mich um die Büste gesorgt und meinem Gesellen die notwendigen Anweisungen erteilt.“ Die frische Erinnerung wühlte ihn immer noch auf. Was fuhr nur in ihn und verleitete ihn zum Schwärmen? Halt doch den Mund, behalte sie für dich! Aber schon war alles entschlüpft:
„So wunderschön hat sie dagestanden! Im fahlen Mondlicht schien sie von innen her zu leuchten. Ich konnte nicht anders, als ihre Schulter zu berühren.“ Ergriffen nahm er Rousseaus Hand. Wollte sich bei ihm bedanken. Dafür, dass er weiter seine Hände benutzen konnte. Dass es ihm , dem Bildhauer Saly, weiterhin vergönnt sei, Kunst zu schaffen, was er, zugegebenermaßen, so unsäglich vermisst habe.
Doch dazu kam es nicht.
Ungerührt entzog sein Gegenüber ihm die Hand:
„Träumt nur weiter von ihr, nie werdet ihr Madame bekommen. Nie!“
Elektrisiert trat Saly zurück. Fest umklammerte er die Schatulle, um dem Widersacher die Figur für immer vorzuenthalten. Niemals würde dieser Crétin die zierliche Reiterin zu Gesicht bekommen. Er war ihrer nicht würdig. Welch innerliche Genugtuung.
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* * *
Kühl hatten sich beide Herren voneinander verabschiedet. Jean hatte ihre ungeschickten Versuche, sich die Erlösung gegenseitig nicht anmerken zu lassen, vom Wagen aus beobachtet. Seltsam sah sein Herr in den zu groß wirkenden, feinen Kleidern aus. Sein Gesicht unter dem Dreispitz wirkte kantig und streng. Um Salys Mundwinkel spielten Trotzfalten. Als sein Herr einstieg, verschwand der seltsame Wicht im wollenen Kleid abschiedslos in seiner Hütte.
Auch Saly blick provozierend nach vorn. Was hatte ihm das Aufeinandertreffen mit dem seltsamen Denker nun gebracht? Nichts weiter als die Selbsterkenntnis, die er schon zuvor gehabt hatte, nämlich dass sein Denken und Fühlen Welten getrennt ist von dem anderer Menschen.
In diesem Augenblick schwor er, sich einzig und allein nur noch über seine Werke zu äußern. Sollen die Leute darin sehen, was sie wollten. Und wenn sie nichts sahen, auch gut. Selbst wenn Rousseau in Anbetracht des fertigen Satyrs mit Zicklein wieder etwas von Hufpflege daherredete. Ihm, dem Künstler, musste das einerlei sein und seiner Erkenntnis auch.
Saly seufzte. Das steife Justaucorps machte ihn unbeweglich und das Plastron schnürte ihm die Kehle zu. Wie frei hatte er sich doch in den sackähnlichen Gewändern gefühlt! Bei Rousseau hatte er sich aus der Zeit und aus dem Raume gefühlt. Im Wartezimmer der Natur, frei und zurück.
Schon gestern hatte ihm Jean die Kleider gebracht, aber erst heute morgen hatte er diese angezogen. Sie passten nicht mehr richtig, die Weste war zu weit geworden und die Hosen schlotterten an seinen Beinen. Hatte er so viel an Gewicht verloren? Daran waren wohl die ausgiebige Bewegung an der frischen Luft und das mäßige Essen schuld. Auch seine Seele war gereift, ohne Frage.
Jetzt, auf dem Weg zurück in die Zivilisation, fühlte er sich erstmalig lebendig, gesund und stark.
Ein Körper, der sich kräftig und verjüngt anfühlte, ein gebräuntes, gefurchtes Gesicht, das man vor lauter Männlichkeit und Selbstvertrauen nicht wieder erkannte. Die Natur, nicht Rousseau, hatte beste Dienste an ihm geleistet!
Langsam fuhren sie den breiten holprigen Weg nach Paris. Jean erzählte und erzählte. Er hatte von Lisette gehört, dass Adoree und Poission gut in der Stadt angekommen und stürmisch von Frau Philidor empfangen worden waren. Adoree und die Sängerin zeigten sich nun wieder zusammen in der Gesellschaft. Das Mädchen und seine Mutter sähen zusammen aber auch allzu hinreißend aus. Beide konnten wahre Triumphe in den Kreisen Poissions feiern. Und - ganz unter vier Augen – flüsterte Jean, bald schon wolle Poisson den Kardinal de Bernis wegen der Verlobung und Proklamation aufsuchen.
Ob denn das Paar auch nach Italien reisen werde, fragte Saly.
Davon wusste Jean nichts.
Der Wagen durchquerte ein kleines Wäldchen und erinnerte Saly an das Gefühl bei der Anreise.
Als sei eine halbe Ewigkeit vergangen. Viel war geschehen, das sein Leben durcheinander gebracht hatte. Ihre gemeinsame Fürsorge für Adoree, die Gespräche über Kunst und Philosophie, die Entfesselung der Liebe zu ihr, sein Aufenthalt bei Rousseau... Im Nachhinein er schien es ihm klar und deutlich: Die gemeinsame Liebesnacht war eine Prüfung gewesen. Gegen die Seelenverwandschaft, nicht dafür. Und er war durchgefallen. Nichts mehr war danach von platonischer Liebe zu sehen gewesen. Sondern nur noch das Ergebnis fleischlicher Lust. Er hatte sich gehen lassen. Und feigest war er dann geflohen. Und niemehr durfte er sie wiedersehen.
Er würde wohl besser auf der Flucht vor Madame bleiben und sie aus seinen Gedanken verdrängen. Ja, auch seine Seele war gereift... plötzlich trat er dem Herrscher von Gottes Gnaden mit der Büste im Arm unter die Augen. Er, der Verräter am König... Ihn beschlich das ungute Gefühl, er befände sich neuerlicher in Versailles … gerüttelt erwachte Saly aus der Dämmerung und wandte sich aufgeschreckt an Jean:
„Ist dieser Wald denn nun sicher? Wir haben doch keine Begleitschaft! Erinnern wir uns an die schreckliche Hinfahrt, der Überfall und dann später die widerlichen Geschichten von Fanfan – vielleicht sollte man sich Schutz holen. Hat der Kutscher daran gedacht, Jean?“
Der Junge beruhigte seinen Meister. Der Kutscher habe ihm mitgeteilt, dass das meiste Gesindel in Paris zu finden sei und nicht in den Büschen vor der Stadt. Saly atmete auf. Warum war er eigentlich so um sein Leben besorgt? Die Frau, die er liebte, gehörte in eine andere Welt. Sich selber und dem König. Und im Angesicht der Ewigkeit war seine Kunst wertlos. Und er, als Person, war und blieb unwichtig. Wem würde es auffallen, wenn ein Monsieur Saly für immer verschollen bliebe? Verfangen in Dornen heimlich verdorrend...nickte er ein.
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Man erreichte Paris ohne Zwischenfälle. Bis Jean herausgefunden hatte, wann das Atelier in Versailles wieder zur Verfügung stand, quartierte sich Saly in der Stadt ein. Unterwegs war in ihm ein Plan gereift: Was würde ihn ablenken und helfen, die Fertigstellung der Marmorbüste und deren Präsentation durchzustehen? Er würde mit dem Satyr beginnen. Der Faun mit dem Zicklein stand ihm ganz lebendig vor Augen. Der Faun sollte all sein Erkenntnisse ausdrücken. Ein Neuanfang, ein perfektes Werk ohne sie. Ein Ort musste gefunden werden, an dem er unbeschwert arbeiten konnte. Weitab von jeglichen Erinnerungen. Fiebrig wartete er auf Antwort aus dem Louvre: Er hatte Boucher gebeten, ihm ein kleines Atelier zu arrangieren. Und tatsächlich, am selben Abend hielt er eine Einladung zum Souper in Händen. Dies wiederum konnte nur Gutes bedeuten.