Читать книгу Die Verlorene Form - wie zwölf dänische Königspferde zu einem Guss wurden - Inka Benn - Страница 31
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ОглавлениеMan habe ihn gefunden! Anné eilte zu Madame. Sein Bursche, Jean, sei davon unterricht worden, dass Monsieur Saly sich bei Monsieur Rousseau in der Hütte befände. Dieser habe den kopflosen Künstler leicht beschädigt im Wald aufgelesen und würde sich hingebungsvoll um ihn kümmern. Und nebenbei habe man Jean zu verstehen gegeben, dass Monsieur Saly niemanden sehen wolle. Madame seufzte erleichtert auf.
„Ist er schwer verletzt?“
Das konnte Anné nicht beantworten. Madame schrieb ein paar Zeilen, sofort ließ man einen Burschen holen, der Rousseau eine Nachricht überbringen sollte.
„Ich werde sicher gehen müssen, dass ihm nichts geschehen ist.“
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* * *
Der Junge lief mit dem Brief durch den Park, orientierte sich kurz am Hügel mit dem Pavilion bemerkte sofort die schwere Qualmsäule am Waldesrand. Noch nicht einmal Feuer machen konnte dieser Lehrer. Und warum der hier hauste, in dieser schäbigen Hütte, hinter dem Gebüsch, hatte er den Kindern auch nicht richtig erklären können. Ein Mann, der sich so gut lauf Madame verstand, lesen und kluge Dinge schreiben konnte, hatte doch bestimmt die Möglichkeiten für eine Unterkunft im Schloss! Hatte man nicht aus Mitleid dem Monsieur Rousseau im Dorfkrug nicht sogar das größte Gastzimmer angeboten? Mit umschweifigen Worten hatte der kleine Mann abgelehnt. ZU verstehen waren seine Begründungen nicht gewesen. Denn warum sollte es einem schlechter gehen, als man es haben musste?
Als sich der Junge der Hütte näherte, vernahm er leise Flötentöne. Die Melodie kam ihm bekannt vor. Sie stammte wohl aus dem kleinen Singspiel, das sie mit dem Lehrer eingeübt hatten. Da war es um ein Hirtenmädchen und einen Bauernsohn gegangen. Und um das Versprechen der Liebe. So war das alles nie in Wirklichkeit. Aber der Lehrer hatte erklärt, das sei Dichtkunst und ein Beispiel dafür, dass die Liebe bei ihresgleichen reiner sei als bei den Königen. Die Erwachsenen hatten gelacht und gespottet. Glücklich sein und lieben können doch nur der, der Geld besäße. Einzig der Kindersegen, der die Armen noch ärmer mache, sei reich. Und sei die Liebe nicht verflucht wegen der Sünde? Dieser Mann kam ihnen wirklich seltsam vor. Aber zur Schule schickten sie die Kinder doch, denn schließlich war das der Fürsorge Madames zu verdanken, dass die Kleinen lesen und schreiben lernen durften. Und die Gönnerin durfte man nicht enttäuschen.
Interessiert näherte sich der Junge der Hütte. Monsieur Rousseau saß auf einem Baumstumpf und flötete vor sich hin. Er müsste den Mann laut auf sich aufmerksam machen. Es war besser, eine Schelte zu vermeiden und darauf zu achten, den Empfindlichen nicht zu erschrecken. Wie oft war der Lehrer kurz vor Mittag an seinem Pult eingeschlafen und zornig aufgewacht, wenn die Schulglocke erklang. Gedacht, getan. Der Junge trampelte durchs hohe Gras und hüstelte einige Male. Erst, als der kleine Schatten den Flötenspieler traf, schreckte dieser auf und ließ die Flöte sinken. Barsch fuhr er das Kind an:
„Was willst du, Junge? Morgen erst haben wir wieder Unterricht!“
Der Kleine fuhr mit der Hand in die Hosentasche, holte den angeküllten Brief heraus und überreichte das Papier mit einem Bückling. Dann schmunzelte er frech und hüpfte davon.
Rousseau riss das Couvert auf. Oh, nein! Jetzt will sie ihren Leibarzt schicken. Sie vertraut meinen Heilkünsten nicht. Wie unverschämt das ist! Dieser Saly muss ihr viel wert sein. Oder besser seine Hände. Noch ist die Büste wohl nicht fertig...
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* * *
Von draußen schlichen sich zarte Flötentöne an sein Ohr. Immer wiederkehrende Weisen. Als ob jemand probte. Rein und sorglos war der Klang. Leicht und flatterhaft schwebte die Melodie dahin. Als wollte der Spieler Elfen anlocken. Saly hustete, sein Mund war trocken. Er bewegte ein wenig seine Glieder. Hatte das Flötenspiel aufgehört? Die schmerzenden Risse waren wie betäubt. Der Heiler verstand wohl doch sein Werk. Leise wurde die Tür geöffnet, im Gegenlicht stand der dürre Mann. Es sah so aus, als stünde dort ein Knabe. Ein schmächtiger, kleiner Herr. Mit wachem Antlitz, das immer einig wenig verstimmt schien. Beim Näherkommen spiegelte sich das Herdfeuer in den erzürnten Augen. Saly hob ein wenig seinen Kopf und flüsterte:
„Wasser, bitte.“
Schnell schaltete Rousseau um. Freundlich beugte er sich zu Saly hinunter.
„Oh, ihr seid wach! Wie schön!“
Er legte vorsichtig die zierliche Flöte auf den Holztisch und goss Saly ein:
„Dann darf ich mich euch jetzt vorstellen! Jean - Jacques, mein Name. Jean- Jacques Rousseau“, fügte er bestimmt hinzu.
Saly stutzte. Wieder einmal durchfuhr ihn eine Welle von Peinlichkeit und Hitze stieg in ihm auf. Der berühmte Rousseau! Der, den Madame so verehrte! Und dieser pflegte und beherbergte ihn. Wo befand man sich? Sich zu bedanken lag nahe und er musste sich vorstellen:
„ Allerhöchsten Dank, lieber Rousseau!“
Eine kurze Atempause. Würde der Philosoph ihn, den Künstler Saly, kennen?
„Saly, meine Name, François- Joseph Saly.“
„Ich weiß, wer ihr seid, Monsieur Saly. Ihr seid der Bildhauer, auf den Madame so große Stücke hält. Von dem sie überaus angetan und mit dem sie eine innige Freundschaft verbindet.“
Eine kleine Kunstpause sollte den kommenden Esprit hervortun:
„Ganz offen, mein lieber Saly, ich bin ein wenig eifersüchtig ob eurer Gunst bei Madame! Da wir uns aber auf unterschiedliche Gebieten bei ihr bewegen, denke ich, werden wir uns schon nicht in die Quere kommen!“
Rousseaus Gesicht entsprang ein gekünsteltes Lachen. Offensichtlich verbarg sich Ironie in seiner Rede. Ein Stich in Salys Herz und das Aufflammen des Blutes im Hirn. Wusste Rousseau etwa von der Liaison? Unmöglich! Verwirrt stotterte er:
„Die Bildhauerkunst, ja. Ich denke nicht so viel, müsst ihr wissen. Ich schaffe mit meinen Händen, sie verstehen.“
Saly versuchte, dem Gegenüber seine Hände entgegen zu strecken, blieb aber schmerzerfüllt in der Bewegung hängen.
„Um Gottes Willen, lieber Mann, halten sie ihre Hände ruhig! Die Handflächen sind am meisten betroffen! Wenn sie je wieder mit ihren Händen arbeiten wollen, bitte ich sie, halten sie ein paar Tage still! Vertrauen sie mir, François,! Ich darf sie doch bei ihrem Rufnamen nennen? Da wir ein paar gemeinsame Tage miteinander verbringen werden, denke ich, wir sollten alle Förmlichkeiten ablegen und die Konventionen beiseite schieben.“
Saly nickte.
„Wo befinden wir uns hier?“
Rousseau stutze.
„Wie soll ich es erklären? Es handelt sich um eine Art - sagen wir - Experiment. Ein Labor in freier Natur. Nein, das wäre zu wissenschaftlich ausgedrückt...“, er überlegte kurz, „Es handelt sich - äh - um ein Leben zurück zur Natur! Du verstehst? Ich bin der Naturmensch in der Natur. Frei und uneingeschränkt. Beschäftigt mit mir und dem Leben. Wasser holen, Holz hacken, melken, Mehl mahlen, Brot backen. Ihr seht, ich nehme auch Verrichtungen des anderen Geschlechts auf mich.“ Er lachte angestrengt und suchte nach anderen Worten:
„Das war scherzhaft gemeint. Der Mensch, in diesem Fall ich selbst, lebt hier so nah an der Natur, wie möglich. Allerdings,“ er zögerte, „will ich ehrlich sein. Wir befinden uns am Rande des Parks von Bellevue, dort wo das geordnete Grün in die Natur über geht. Sozusagen an der Grenze der Zivilisation. In meiner kleinen Hütte.“
Saly erinnerte sich an den Spaziergang im Park. Adoree hatte die versteckte Hütte entdeckt. Und Poisson hatte gesagt...
„Ihr seid also der Lehrer?“
Rousseau nickte.
„Wenn ihr so wollt. Ich wandere mehrmals Mal in der Woche zum Dorf und unterweise dort die Kinder. Auf unseren Spaziergängen erkläre ich ihnen die Pflanzen, wir bauen Gemüse an, haben einen Abort errichtet, eine Art Damm am Bach gebaut und lesen ein wenig in meinen Werken. Auch eine Vorführung hatten wir schon, ein wenig Theater für die armen Menschen, um ihnen ihre Lage klar zu machen, sie verstehen?“
Saly fühlte sich an irgendetwas erinnert.
„War es das kleine Musikstück mit dem Schäfermädchen und dem geläuterten Jüngling, welches ihr dort gezeigt habt?“
„Ihr kennt meine kleines Singspiel schon? Wie das?“
Madame habe ihm darüber erzählt und auch berichtet, dass es auf dem Fest gespielt würde.
„Darin ging es auch um das Zurück zur Natürlichkeit, wenn ich mich recht entsinne. Auf ihre Oper hin stritten wir uns, Madame und ich, um Kunst und Wissenschaft, um Geist und Seele.“
Die Diskussion stand wieder ganz vor seinem inneren Ohr. Er stellte dem Gelehrten eine Frage:
„Sagt mir, lieber Rousseau, teilt ihr eher die Ansicht Madames, dass ihr, der Denker, auch ein Künstler seid?“
Bis zu diesem Augenblick hatte Saly nicht gewusst, wie wichtig ihm jener Gedanke war.
„Wir wollten doch nicht förmlich sein, François. Nun, das ist ein wenig diffizil. Dürfte ich einen längeren Monolog anstimmen, entnommen aus meinem letzten Essay, über die Wirkung der Künste und der Wissenschaft auf die Gesellschaft?“
Saly nickte interessiert.
„Ich gewann damit sogar einen Preis. Übrigens hat Diderot mich darin unterstützt, am Wettbewerb über das Thema teilzunehmen. Bei meinen Besuchen bei ihm, im Gefängnis, da hatte der Arme ja genügend Zeit und Muße, meinen Text zu redigieren...Ich verliere mich wieder.“
Er lachte gekünstelt und begann seinen Exkurs:
„Lasst uns ein wenig in der Geschichte zurück blicken. Ich meine die Antike, die griechische, sowie die römische Klassik. Als Beispiele für unsere Kunstauffassung der Zeit. Gegründet auf den philosophischen Ansichten eines Sokrates, Platons oder Aristoteles – die römischen Gelehrten können wir einfach außer Acht lassen – vereinigte man die Kunst zu schreiben mit der Kunst zu denken. Also, die Wissenschaft folgte der Natur. Auch jeder andere künstlerische Ausdruck entspringt dem Bedürfnis der Äußerung. Nimmt es jedoch Überhand, so Sokrates, sind halten sich Künstler und Denker für die weisesten Leute auf der Welt! Und bald schon gerieten wir an Punkt den Punkt der Eitelkeit, wo sich die Gefallsucht über die Kunst erhebt, wo die Künstler versuchten, einander und der Welt durch ihre Kunstwerke zu imponieren. Irgendwann begann die Kunst, unser äußerliches Wesen zu formen und uns eine gekünstelte Sprache in den Mund zu legen. Vielleicht nach der römischen Zeit, in der Dekandenz und Machtbesessenheit der Welt zum Vorbild wurden. Nicht umsonst bediente sich ein Cäsar des edlen Stils der griechischen Kunstwerke, um sich tugendhaft darzustellen!“
Saly dachte an den grünen Cäsar und ihm wurde schwer ums Herz. Ihm ging es doch nur um die Darstellung an sich, den Umgang mit dem Material, in das er seine Idee einmeißelte, seine Botschaft an die Welt. War das so verwerflich? Warum durfte jemand eine Oper schreiben, der Musik nur oberflächlich bediente, um seine Botschaft zu vermitteln? Das war doch Gebrauch, Benutzen der Kunst zu Gunsten des Denkens. Unter diesen Gedanken hatte er dem Fabulierenden gar nicht mehr zugehört. Etwas unwirsch unterbrach Saly den enthusiastischen Menschen:
„Mir scheint, ihr verurteilt die Kunst zum Künstlichen. Seht in ihr das Übel für Scheinhaftigkeit, Macht und Reichtum. Aber das sind andere Qualitäten. Wahre Kunst stellt Botschaften, Ideen dar. Versucht, der Welt eine Idee zu geben. Einen Gedanken, eingebettet in das Gefühl, das den Künstler bewogen hat und den Betrachter einbeziehen soll. Das ist mein Ansinnen.“
Rousseau stutzte und wurde jovial:
„Ihr seid ja auch ein Genie! Eure Kunst entsteht durch Berufung und im Uneigennutz. Das ist selten genug, dass sich jemand allein der Sache widmet und nicht an den Zuschauer denkt!“
Er schnitt zwei Scheiben Brot und begann diese mit Schmalz zu bestreichen.
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Saly ging nicht auf die mokante Schmeichelei ein. Irgendetwas missfiel ihm an diesem Rousseau. Er ahnte, was es war. Dieser Herr Künstlerphilosoph war gespalten. Einerseits vom Verstand her gebildet und andererseits der Natur anheim gefallen. Das ging nicht zusammen. Auch wenn er die Botschaft in Opernkunst zu tarnen suchte. All seine Postulate für das Leben zurück zur Natur standen dem entgegen. Das Leben in der Hütte hier, ist die gleiche Farce wie auf der Bühne dort! Man kann nicht das einfache Leben in einer naturnahen Gesellschaft predigen, gekünstelt den Verführungen der Macht zuwenden und dann dazu auch noch die Kunst benutzen! Selbstherrlich und hochmütig meint Rousseau, das Orakel von Delphi zu sein. Heuchelt vernünftige Antworten, weil seine Seele allein vom irdischen Ross der Sucht nach Anerkennung gezogen wird. Ohne jegliches himmlische Gemüt. Nie wird dieser Besserwisser die wahren Ideen erblicken, zu denen ein Künstler aufzusteigen vermag!
Er begann, sich dem kleinen Männchen Rousseau gegenüber überlegen zu fühlen. Die aufgerissene Eigenerkenntnis forderte ihr Recht.
Saly resümierte laut:
„Also, dann seid ihr – bist du - kein Künstler. Und ein Wissenschaftler, ein Philosoph...“
„Du hast recht, ich wäre gerne ein Musiker oder ein Literat, bin aber ein Denker. Was ein wahrer Vernunftsmensch ist, wirst du dich fragen. Ein Denker ist jemand im Naturzustand, der weiß, dass er nichts weiß. Das versteht ihr nicht? Ich will erklären, was den wahren Vernünftigen, also den Nichtwissenden, vom schnöden Nachdenker, der meint zu wissen, unterscheidet. Der Ausgang des Übels ist, der Umgang der Gesellschaft mit dem Wissen. Man fragt zunächst, ob ein Buch unterhaltend geschrieben ist und nicht, ob es nützliche Gedanken enthält. Alle Aufmerksamkeiten und Belohnungen werden an witzige Narren verschwendet und das ehrliche, tugendhafte Nachdenken wird verkannt. Schnöde Abhandlungen gewinnen Preise und wahre Philosophie ist zu anstrengend. Man bewegt sich auf völlig unterschiedlichen Terrains. Und das auch noch abhängig vom gesellschaftlichen Stand. Um die wahre Vernunft und schöne Tugend in die Welt zu tragen bedarf es eines neuen Ausgangspunktes. Was liegt da näher, sich zurück an die Natur zu wenden?“
Rousseau ereiferte sich und musste seine Kehle spülen.
Wieder tat sich eine blasse Erinnerung bei Saly auf. Rousseau sprach offensichtlich in Worten, die er Platon entliehen hatte. Er beschloss, die Gelegenheit zu nutzen und ihm ein Schnippchen zu schlagen:
„Aber eure Abhandlung hat doch auch einen Preis bekommen, seid ihr etwa nicht tugendhaft?“
Er meinte schon vorher zu spüren, wie der Denker getroffen war. Und richtig, wütend sprang Rousseau auf:
„Man muss die Gesellschaft mit ihren eigenen Waffen schlagen, habt ihr das noch nicht verstanden?!“ Und fast schon überheblich:
„Eine musikalisch hinreißende Oper, in französischer Sprache, die jeder versteht, transportiert meine tugendhaften Gedanken...“
Und wir werden ihre Gesellschaft unterwandern, hätte er noch hinzufügen können.
Doch er traute Saly nicht.