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Im Atelier lag ein Brief aus Paris. Eigentlich waren es zwei in einer Kuverttasche. Der kürzere war von Abel de Marigny, der lange von Adoree. Um sich die Spannung und Freude zu erhalten, befasste sich Saly zunächst mit dem Schreiben seines Freundes. Dieser teilte ihm mit, dass er noch einmal die Vereinbarungen über Salys Einkünfte studiert habe. Die monatliche Apanage von einhundertfünfzig Kurant würde erst dann ausgezahlt, wenn die bildhauerische Arbeit offiziell aufgenommen worden sei. Um sofortige Zahlungen zu ermöglichen, müsse man darlegen, dass der Begriff der bildhauerischen Tätigkeit die notwendigen Vorbereitungen mit einbeziehe. Besichtigungen, Skizzen oder Recherchen gehören demnach de facto zum künstlerischen Akt an sich.

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Saly kam sich veralbert vor. Es war doch wohl unzweifelhaft, dass genaue Vorbereitungen dazu gehörten und den Beginn der Arbeit markierten. Entweder es handelte sich bei diesem Paragraphen um eine Finte aus Geiz oder man kannte sich wirklich nicht mit dem Künstlerschaffen aus.

Nichtsdestotrotz, er musste jemanden finden, der ihm bei den Argumenten half. Am besten Wasserschlebe, der die Kontakte zum Büro der Ost - Asiatischen Kompagnie hatte. Außerdem, überlegte Saly, könnte eine Art Expertise helfen. Irgendetwas Offizielles, wie etwa eine allgemeine Beschreibung des Berufsbildes oder die Meinung eines geachteten Kollegen am dänischen Hofe. So etwas könnte Eindruck machen. Er würde Wasserschlebe heute noch informieren.

Saly war sich nicht sicher, ob er in dieser Stimmung Adorees Brief lesen sollte. Doch das Schriftstück lag bereits in seiner Hand, war aufgeklappt und die ersten Worte verschlungen.

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Lieber väterlicher Freund!

Wenn du mich sehen könntest! Wie eine aufgedunsene Medusa liege ich tagein tagaus auf meinem Canape und döse vor mich hin. Die Ärzte haben mir für die letzten Wochen viel Ruhe verordnet. Keine Angst – Gefahr besteht nicht. Dennoch nehmen alle die Anweisungen viel zu ernst und lassen mich weder aus den Augen, noch aus ihren Sinnen. Mein mitfühlender Gatte versucht so oft als möglich bei mir zu sitzen, hält dann meine Hand oder liest mir vor. Nur selten lässt er sich, nach langem Betteln und Ringen von mir dazu überreden, mich zu meiner Liege in der Loggia zu führen. Dort packt man mich dann in dicke Pelze und lässt mich am offenen Fenster neidvoll das Treiben auf der Straße schauen. Wie gern wäre ich jetzt außerhalb der Stadt, in Ruhe, in der Natur... Wie lieb ich Bellevue habe. In meinen Träumen bin ich im Glashaus, deinem ehemaligen Atelier. Die späte Herbstsonne wärmt mein Gesicht, ihr alle seid dort, in Sehnsucht auf die Liebe, die da kommen mag, bis der erste Schnee fällt, die Kristalle sich auf die Scheiben heften, als Weiß sich anhäufen und als Schwarz das Glasdach schließen. Dämmerig wird es und kalt. Madame und du, ihr führt mich zum Kamin im gemütlichen Salon. Poission kommt mit seinen üppigen Späßen herein. Seine kühne Keckheit drängt darauf, mich selbst zu fragen, ob ich verliebt sein soll und ob er es ist. Dieses prickelnde, lebendige Gefühl davor. Die schönste Erwartung. Dahin möchte ich fliehen.

Allein, der Wunsch wird mir versagt, von denen, die mich lieben. Aus Fürsorge und Angst. Weil man in der Stadt die guten Ärzte hat.

Oh – mein lieber Saly – ich sollte nicht klagen und dich mit Melancholie überhäufen. Mir geht es wirklich gut, man umsorgt mich auf das Beste, liest mir alles Wünschenswerte an den Augen ab, verwöhnt mich mit allem und jedem. Aber ich bin undankbar und vermisse die Freiheit.

Saly stoppte und sah in die Vergangenheit. Er hatte im Atelier die Büste gestreichelt, Eifersucht verspürt und auf Liebe gehofft. Sie hatten sich dann um Adorees und Abels Liebe gekümmert. Wie Vater und Mutter. Was sie aus der fröhlichen, widerspenstigen Adoree gemacht hatten, jetzt, wo er nicht mehr da war und auf aufpassen konnte. Und welche Rolle spielte Madame dabei?

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Die Einzigen, die mich besser verstehen, sind Madame, eine müde Frau, die selber unpässlich ist und du, ein väterlicher Freund, der in der Ferne weilt. Oh, wie allein gelassen ich mich fühle! Keine Liebe außer die eure, könnte mich erneut in die alte, schönen Stimmungen versetzten. Wer soll mich mit neuem Leben erwecken? Etwa das kleine Ding, das ich gebären werde? Noch mehr binden wird es mich, fesseln und aufbrauchen. Und niemand wird es bemerken.

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An dieser Stelle brach der Brief ab. Es folgte eine flüchtige Abschiedsfloskel, welche Saly so verzweifelt wie nie zuvor in seinem Leben zurück ließ. Nur die Pompadour würde dem der Schwermütigen helfen können. Und wenn es sein musste, sogar vom Krankenbett aus. Er musste unbedingt einen Brief an Madame schreiben.

Die ganze Nacht saß Saly über dem Papier und brachte keine Zeile zustande. Innerlich aufgefressen von Sorge, Angst und Selbstvorwürfen fehlten ihm die Worte. Nur Sinnbilder fielen ihm ein. Maria mit dem Kinde. Adoree zur Verwechslung ähnlich. Wie der feiste Putto an ihrer Seite hängt und selbstgerecht die Beachtung der Mutter fordert. Niemals wird mehr den schönen Dornauszieher im Hintergrund beachten dürfen. Und für immer verwehrt bleibt der Blick in die Natur. Saly kramte in seinen Unterlagen. Irgendwo musste er noch eine Skizze von Signorellis Maria haben.

Madame würde verstehen.

Zerschlagen und müde wachte Saly am frühen Morgen auf. Jean beseitigte gerade das Durcheinander. Saly erinnerte sich. Er hatte die italienischen Skizzen nach der Maria durchwühlt. Er ließ sich ein Glas Wasser und die Schreibutensilien bringen. Nicht, dass er nachträglich ein paar Zeilen an sie richten wollte. Nein, eine kurze Mitteilung an Wasserschlebe, dass er nach Frederiksborg reise und man diese Expedition, wie auch alles andere an Vorbereitung zugehörig zur künstlerischen Tätigkeit zu sehen habe, weswegen ihm der Lohn auszubezahlen sei.

Die kleine Reisetasche, war schnell gepackt. Obenauf das Medaillon mit Adorees Antlitz. Beim Anlegen der einfachen Reisekleidung war es ihm vorgekommen, als würde es nach Hause gehen. Eine seltsame Vorfreude, die an die italienische Reise erinnerte, ergriff den Bildhauer. Nur fort von hier, du Heimatloser.

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Auf Christiansborg bestieg Saly die leichte Chaise, die für ihn bereit stand. Gezogen wurde der Wagen von einem dänischen Wallach, der, so sagte Prizelius, recht einfach zu handhaben wäre. Saly sollte zunächst einige Runden auf der Reitbahn fahren, um sich an das Gefährt zu gewöhnen. Konnte man das Fahren verlernen? Ihm brach der Schweiß aus. Er dachte an seinen alten Lehrer Adam, sprach das Tier an und streichelte das weiche Fell. Das Pferd sah ihn mit offenem, treuem Blick ins Gesicht. Ganz von selber griffen da die Hände nach den Leinen. Saly stieg ein, sortierte die Riemen und nahm die Peitsche in die Rechte. Dann gab er die Arme leicht vor, dabei schnalzte er ganz leise. Von selbst ging alles! Wie angenehm doch das Kutschieren war! Wie hatte er nur daran zweifeln können. Saly fuhr in wechselnden Gangarten einige Schlangenlinien und hielt dann glücklich vor den beiden Pferdekennern.

„Wunderbar, Monsieur Saly! Ihr hattet uns gar nicht verraten, welch ein Künstler ihr im Fahren seid!“, rief Reitzenstein lachend, „da muss sich die Prinzessin um ihr Gefährt wohl keine Sorgen machen.“

Saly errötete leicht. Wieder diese Frau.

Man brach auf. Reitzenstein ritt einen großen Friesen, der wie ein Ritterpferd wirkte und sich auch so benahm. Gelassen drängte er den tänzelnden Weißen, den sein Reiter am kurzen Seil neben sich führte, immer wieder von sich weg und kam so gar nicht in die Nähe von dessen Beißattacken.

Prizelius hingegen saß auf einem der edlen Schulhengste. Das Tier war braun und spanischer Abstammung. Es hatte zierliche Beinchen und tippelte nervös, wobei es die Vorderbeine seitwärs warf. Dieses Gehabe sah eher zimperlich denn graziös aus. Dieser Typus gefiel dem Bildhauer nicht sonderlich. Als man über die Brücke auf den Boulevard gelangte, der am frühen Morgen fast menschenleer war, konnte sich Saly endlich entspannen. Müde gähnte er und lehnte sich bequem ins Polster. Die Decke auf seinen Knien wärmte und der Reisemantel schützte ihn bis zum Hals vor dem Frost. Das Pflaster war ein wenig glatt, so dass der zappelige Schimmel manchmal mit der Hinterhand ausglitt. Wie gelenkig das Tier sich abfing. Balance verlagerte, seine Beine beugte und die Gangarten wechselte. Es beherrschte seinen Körper wirklich tadellos.

Man wandte sich gegen Nörreport, jenes Stadttor welches sie bei der Einreise benutzt hatten. Die Straßen im schattenträchtigen Morgenlicht wirkten durch die hohen Häuserblöcke wie kalte, dunkle Schluchten. Der Atem der Pferde dampfte. Als laufe ihnen, erschreckt vom Widerhall der eigenen Ganggeräusche, ein Schauer über den Rücken. Auf diese beklemmende Art hatte er noch keine andere Stadt erfahren. Nur raus hier! Plötzlich riss dir Häuserfront auf und das weiße Herbstlicht traf die Kolonne quer. Lange Schatten. Orientierungslos kutschierte der Künstler dahin, hinein in eine Nebelwand.

Der Dunst kam vom Nørrefælled herüber. Genährt vom Wasser der Gräben und Feuchtwiesen. Grau und undurchsichtig wurde alles und legte sich auf des Bildhauers Gemüt. Es war das Licht, das hier Alles andersartig traf. Immer bleib es in der Waage, erhob sich kaum, sank nie herab. Eine gleichförmige Lampenkuppel am Himmel. Gedimmt, gedemütigt. So kündigte sich im Norden der Winter an.

An der Einfahrt zur Nørrebro mussten sie ihre Papiere zeigen. Reitzenstein ritt voraus, dann folgte der Wagen mit Saly und zum Schluss der widerspenstige Hengst mit seinem Aufpasser. Der Übergang an sich war frei und auf der anderen Seite warteten schemenhaft die von Schnauben und Dampfen umgebenen Zugtiere vor den Wagen einiger Bauern. Gerade, als Says Wagen die Mitte des Übergangs passierte, begann ein Tumult. Der weiße Hengst hatte sich gegen den schweren Leib des schwarzen Pferdes gedrängt, wurde daraufhin abgewehrt und gegen die Brückenmauern gedrückt. Prizelius Bein war zwischen den beiden Leibern eingequetscht, so dass er den Friesen kaummehr dirigieren konnte. Beide Pferde waren in Kapfestimmung, schnaubend warf sich der große Hengst immer wieder gegen den Widerpart. Als sein Reiter versuchte, den Kopf vom Feinde mit dem linken Zügel wegzuziehen, verlor der Friese sein Gelichgewicht, glitt seitlich aus und drohte umzukippen. Prizelius musste das Führseil loslassen und abspringen. Kaum dass der weiße Hengst gespürte hatte wie Druck und Zug nachließen, galoppierte er auch schon los, setzte über den Schlagbaum hinweg und galoppierte in den Nebel hinein. Salys Kutschpferd tänzelte gefährlich, und draußen vor dem Tor drohten die Zugtiere durchzugehen. Weil Prizelius nicht wusstte, ob Saly sein Pferd im Griff hatte, langte er ihm in die Leinen und hielt den Wagen auf. Hin – und her gerissen zwischen dem Kutschpferd und dem am Zügel zerrenden Schwarzen. Reitzenstein war inzwischen mit seinem Spanier bis zum Schlagbaum gekommen, hatte zum Sprung angesetzt, den das Pferd allerdings verweigerte. Sein Reiter schwankte bedenklich im Stattel und konnte sich gerade noch an die Mähne des Tieres krallen. Zeitgewinn für das fliehende Pferd. Endlich reagierten die Wachleute und ließen den Verfolger durch. Der kleine Braune preschte los und löste sich im Nebel auf.

Als Prizelius und Saly wohlbehalten auf der anderen Seite ankamen, entstand eine unter den dänischen Bauern eine lautstarke Diskussion darüber, in welche Richting der Weiße und sein Verfolger verschwunden waren. Das befreite Pferd hatte sich natürlich nicht an Straßen und Wege gehalten und war stattdessen im tiefen Dunst quer hinüber zum Østerfælled geprescht. Saly fröstelte. Am liebsten wäre er jetzt umgekehrt und wieder hinter den Schutz der Mauern gekrochen. Trotz der Antipathie.

Reitzenstein schien ein wenig ratlos. Weder schien es ihm ratsam im Nebel, die Verfolgung aufnehmen, noch die Straße verlassen. Man würde mit der Entscheidung warten müssen, bis bis der Dunst sich lichtete. Man beschloss die Alle zu nehmen. Hier nahm der Verkehr zu, je weiter man sich von der Stadt entfernte. Die meisten Wagen waren mit Heu bepackt, das als Pferdfutter in die Stadt gebracht wurde. Auch einige Händler waren unterwegs. Immer wieder fragte Prizelius Passanten, ob man einen schnellen Reiter oder einen einsamen Schimmel gesehen habe. Aber niemand konnte Auskunft geben. Als die beiden Reisenden irgendwann zu einer Zollstation kamen, die auf einer Anhöhe lag, konnten sie sehen, dass sich der Dunst von der Ostsee her lichtete.

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