Читать книгу Die Verlorene Form - wie zwölf dänische Königspferde zu einem Guss wurden - Inka Benn - Страница 21
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ОглавлениеMan konnte das Schiff vom Kai aus kaum sehen, seine beiden Masten staken verschwommen in den Dunst, der Rumpf wurde eins mit dem Meer. Dichter Nebel lag über der Ostseepassage und kein Lüftchen regte sich, um die schweren Schwaden zu vertreiben.
Eine Fahrt über den großen Belt zwischen Fünen und Seeland hätte gerade einmal fünf Stunden gedauert, bei gutem Wetter und annehmbarem Wind. Nun war es fraglich, wie wie lange die Passage dauern würde. Da der Postmeister entschieden hatte, nur eine von zwei Postcoaches mit dem nächsten Schiff loszuschicken, war den Ordinari Reisenden freigestellt, auf vorteilhafteres Wetter zu warten. So kam es, dass nur die Eiligen entschieden waren, die langwierige und gefährliche Überfahrt im Nebel auf sich zu nehmen. Auch Wasserschlebe hatte keine Zeit. Weder per gesicherter Depesche konnte er das Silber jetzt noch schicken, noch die eigene Reise mit einem Mietboot beschleunigen. In diesem Falle hätte er es sogar in Kauf genommen, sich von den ihm anvertrauten Franzosen zu trennen. Denn die anschließende Kutschfahrt nach Kopenhagen war unbedeutend im Vergleich zu den unzähligen Meilen, die man bereits hinter sich hatte. So kurz vor dem Ziel hieß es nun Geduld bewahren und auf das Beste hoffen.
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Der Klang der Nebelglocke wurde vom Meer aufgesogen. Unter einer schweren Decke glitt das Schiff in der Strömung aus und fing sich dann wieder. Madame Saly lag im engen Kapitänsdeck auf der harten Bank und stöhnte laut. Ihr Klagen hallte dumpf nach draußen und war schauerlich anzuhören. Den Töchtern gruselte so sehr, dass sie sich lieber an die Seite der Mutter drückten, als den feuchten Dunst an Deck auszuhalten. Wenn der Eimer mit der Notdurft gelehrt werden musste, rief man Joseph herbei, welcher dann zur Reling lief und ihn über dem Wasser leerte. Der wässrige Kot traf senkrecht auf die glatte Oberfläche und bildete lange eine zusammenhängende Lache.
Ab und zu schnaubte eines der Pferde, an deren Barthaaren sich immer wieder nasse Tröpfchen bildeten, die die das Fell benetzten wie Tau. Auch Mähne und Fell trugen diese Schicht. Saly hatte sich in die Nähe der Tiere begeben und beobachtete ihr Verhalten. Die schweren Zugpferde waren ruhig, zuckten ab und zu oder schüttelten halbherzig die Mähnen. Anfangs stellten sie noch die Ohren auf, wenn die Glocke schlug, später nahmen sie das metallene Klingen einfach nur hin. Einige schöne Zeichnungen der großen, dösenden, behaarten Köpfen mit halb geschlossenen Augen entstanden.
Die leichteren Wagenpferde verhielten sich unterschiedlich. Eine kleine Stute hielt ihre geblähten Nüstern immer wieder witternd in die Ferne, scharrte nervös im Stroh und wiegte am Anbindestrick hin und her. Hier hatte Saly es vordringlich auf den Gesichtsausdruck abgesehen. Und das Auge. Darin spiegelte sich alles. Die Angst des Tieres, sein Mut und Hoffen. Das erste Mal stellte sich der Bildhauer die Frage, wie Menschen dazu gekommen waren, sich dieses Tieres für die Fortbewegung zu bedienen. Dass so ein starkes Tier sich vor einen Karren spannen ließ. Und warum dieses anmutige Wesen einen Menschen auf seinem Rücken duldete. Und wie es sein konnte, dass ein Pferd mit vier Beinen auf einem Schiff über das Wasser fuhr. Das Pferd musste ein dummes Geschöpf sein. Einst der König der Steppe, schnell und frei, ungebunden und stolz. Mit dem Menschen aber hieß es, in den Sklavendienst hineingeboren zu werden. Über jahrtausendlange Unterwerfung dulden. Für den menschlichen Nutzen. Das alles sah man in den Augenskizzen von Saly.
Die Einzige, die aus Vorfreude zitterte und die sich von der trüben Stimmung zunächst nicht erfassen ließ, war Meta. Sie träumte von ihrem Klopstock und schrieb ihm einen mehrere Ellen langen Brief. Dann entwarf sie einen Vers, der den Gegensatz ihrer gespannten Vorfreude zur trostlosen Atmosphäre auf dem Schiff behandelte. Die Darstellung ihres hellen Inneren fand sie gut gelungen, der Gegensatz jedoch setzte ihr schwer zu, da die Bilder immer wieder auf den Tod hinausliefen. Ihr wurde bang zumute. Tiefe Schwere umkrallte ihr Herz.
Plötzlich ein fremder Glockenklang. Verschluckte Rufe aus der Ferne. Man brüllte, läutete und zog unmerklich aneinander vorüber. Der große Belt war eine rege Seestraße. Bis zur Dämmerung, als die Tranlaternen angezündet wurden, gab es noch viele weitere Begegnungen. Bald würde sich zeigen, ob der Kapitän den Kurs gehalten hatte, denn die Mannschaft wartete auf die Leuchtfeuer von Sprogö. Es sei dann nicht mehr weit bis Seeland.
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Alles war gut gegangen. Das Schiff hatte den Hafen nicht verfehlt. Und als man in Korsör, ankam, war es lange noch nicht so dunkel, wie es sich auf dem Wasser angefühlt hatte. Es war erst später Nachmittag.
Bis zur nächsten Herberge in Slagelse waren es noch einige Meilen, die man schnell hinter sich bringen wollte, da Madame Saly weiterhin von Schmerzen geplagt war. Kurz nachdem der Kutscher war auf den befestigten Kongevej eingebogen war, wurde man auch schon kontrolliert. Die Namen der Passagiere in der braheschen Karosse mit dem offiziellen Staatswappen wurden aufgenommen und wegen ihres Reisegrundes befragt. Wasserschlebe gelang es recht kurzfristig dem Vogt klarzumachen, das die Franzosen berechtigt waren, den Weg für die privilegierten Mitglieder des Hofes zu benutzen. Hinsichtlich des Gepäckwagens wollte man sich jedoch nicht erweichen lassen. Wasserschlebe wog, da er es nun einmal sehr eilig hatte, mit Bedacht dazwischen ab, dass einerseits alles Hab und Gut verlustig gehen könnte und auf der anderen Seite alles Darlegen und Zetern gegen das Gesetz nichts nützen würde.
Der Umzugswagen wurde für die Benutzung der königlichen Wege nicht zugelassen. Wieder einmal musste man sich auf Jean verlassen und hoffen, dass der Junge es schaffte, die letzten Meilen der Reise auf sich gestellt zu bewältigen. Zwar war Wasserschlebe so weitsichtig gewesen, Jean eine Bescheinigung auszustellen, die den Besitzer der Habe als privilegierten Höfling auswies und ihn, den Begleiter, als dessen Diener. Als Fracht selber hatte er man Möbel, Hausrat und Künstlerwerkzeug notiert. Das musste reichen. Eines hatte man jedoch in der Eile vergessen, nämlich dem Jungen eine Barschaft mitzugeben, mit der er Speis und Trank, die Herberge und Versorgung der Pferde bezahlen konnte. Nur der Kutscher hatte ein Trinkgeld bekommen, da er im schwierigen Falle die Rede führen musste. Jean konnte weder Dänisch noch Deutsch sprechen und dass ihm das Französische auf dem Land weiter half, war mehr als unwahrscheinlich. So trennten sich die Wege.
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Jean war mulmig zu Mute. Nicht nur, dass er des einsamen Reisens langsam müde war. Ihm kam es vor, als hätte er seit Tagen mit niemandem mehr geredet. So war es ja auch. Da war ihm der entzündete Arm sogar recht gekommen. Wie sehr hatte er das Bemühen und die Aufmerksamkeit der Damen und Herren genossen. Man kümmerte sich gut um ihn und das väterliche Verhältnis zu Monsieur Saly war nicht abgeklungen. Ab und zu hatte sich der Meister sogar zu ihm auf den Wagen gesellt, um ihm seine neuesten Skizzen zu zeigen oder um ein wenig zu plaudern. Die meiste Zeit jedoch war Jean auf dem Bock neben irgendeinem fremdsprachigen Kutscher einsam, verlassen und zum Schweigen verdammt gewesen. Jetzt, ganz getrennt von den anderen, fühlte er sich völlig einsam und auf sich gestellt. Die Verantwortung bereitete ihm Kopfweh und die Wunde am Arm begann wieder wieder zu pochen. Jean fragte sich, warum er zunehmend von Heimweh befallen wurde, je näher das Ziel rückte. Warum er die Reise nicht mehr als Abenteuer sah. Und wie es mit seiner Ausbildung und der Kunst des Meisters weiter gehen würde.
Und er bereute, nie daran gedacht zu haben, in Frankreich zu bleiben, sich einen neuen Lehrmeister zu suchen und schließlich Lisette zu heiraten. Jetzt saß er hochoben auf einem Karren, auf dem nichts anderes als fremdes Eigentum gestapelt war und fuhr in einem unbekannten Land durch die nebelige Dämmerung. Unheilvoll schlichen sich Zweifel an und beraubten ihn seiner jugendlichen Zuversicht.
Am späten Abend erreichte der Karren Ringstedt. Die Pferde mussten versorgt werden und es war Quartier zu nehmen. Der königlich priviligierte Gasthof kam nicht in Frage. Jean würde sich sich mit einer preiswerten, offenen Herberge begnügen müssen. Für ein Mahl und Pferdefutter ausreichend. Jean steuerte ein solches Etablissement an und als er versuchte, den Wirt um Obdach zu fragen, wurde ihm als erstes unmissverständlich bedeutet, man habe hier im Voraus bezahlen. Darauf war der Junge nicht gefasst. Bisher hatte Wasserschlebe das Finanzielle für die Reisenden erledigt und Jean hatte sich um nichts anderes kümmern müssen, als um die Bewachung der Fuhre. Etwas albern, einsam und verlassen im Jetzt und Hier starrte er in den Geldbeutel. Ein paar Louisidor und sonst nichts. Peinlich war, wie er die französischen Münzen hervorkramte und sie dem Wirt unter die Nase hielt. Dieser sah nur kurz hin und schüttelte dann den Kopf.
Jean sah sich um. Wenn man unter den dänischen Bauern und Kleinhändlern einen Franzosen fände, der das Geld tauschen könnte. Hoffnungslos und niedergeschlagen ging der Junge zurück zum Wagen. Der Kutscher war noch da und Jean erinnerte sich, dass dieser von Wasserschlebe eine paar Münzen zugesteckt bekommen hatte. Jetzt musste er dem mürrischen Mann nur noch irgendwie beibringen, ihm das Geld zu leihen. Jean zeigte seinen Beutel, dann die französischen Münzen und wies auf des Fuhrmanns Geldtasche. Dieser schüttelte den Kopf, presste seine Habe an sich und verneinte erneut. Mit Handzeichen, die einen Tausch andeuten sollten, versuchte Jean es weiter. Wieder hartnäckige Ablehnung. Natürlich, der Mann würde auch ohne ihn klarkommen, sich ein schönes Quartier suchen und wahrscheinlich sogar die Pferde füttern. Nachher könnte der Angeheuerte die Summe seiner Ausgaben etwas anheben, das Geld von Wasserschlebe zurückverlangen und hätte es somit doppelt gut gehabt.
Nur Jean musste darben. Wie es in der Hektik dazu hatte kommen können, dass man ihn ohne Barschaft allein gelassen hatte, empfand er plötzlich als wahnsinnig ungerecht. Gut, heute Nacht könnte er unter dem Wagen schlafen und ein wenig Brot vom Reiseproviant kauen. Wie er aber an die Mittel für weitere Übernachtungen kommen sollte, war ihm schleierhaft. Und vielleicht käme irgendwo noch einmal eine Zollstation und wie er dann verhaftet würde, weil er die Schuld tilgen nicht tilgen konnte, daran wollte er erst gar nicht denken. Das erste Mal in seinem Leben hatte Jean Angst. Vor dem unbekannten Gegner Erwachsensein.
Die Nacht war nasskalt gewesen. Jean hatte sich zwar so gut es ging in seine Winterjacke verkrochen und das Segeltuch vom Wagen um sich geschlungen, dennoch fühlte er sich am Morgen wie zerschlagen. Die Wunde, die er jetzt eigentlich der morgendlichen Prozedur unterziehen müsste, tat weh, und der Verband war schmutzig. Er hatte weder heißes Wasser noch ein sauberes Tuch. Und den Verband einfach nur so zu wechseln, traute er sich nicht. Denn damit sich neue Haut bildete und der Riss sich verschließen konnte, sollte die Salbe nur auf vom Grind und Eiter gesäuberte Wunde aufgetragen werden. Jean beschloss den alten Verband zu lassen und durchzuhalten. Bald tauchte der Kutscher auf. Aufgeräumter als am vorigen Tag., hielt er hielt er seinem Passagier freundlich eine Stulle hin und schirrte die Pferde an.
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Kurz nach Ringstedt gabelte sich der Weg. An der Kreuzung standen Uniformierte. Eine Zollstation? Der Kutscher blieb völlig gelassen und zeigte auf die Straße, die nach Norden führte. Der Kongevej. Konnte es sein, dass die Kutsche mit den Herrschaften sich nur wenige Meilen vor oder hinter ihnen befand? Dass man im gleichen Ort übernachtet hatte, ohne sich zu begegnen? Würde sich die Wege noch einmal kreuzen? Jean war heiß. Er sah seine Rettung in greifbarer Nähe. Der Fuhrmann wurde gesprächig. Immer wieder nannte er den Städtenamen Roskilde und Jean vermutete, dass sich dort der öffentliche Weg und die königliche Strecke erneut kreuzen würden. Roskilde, die letzte Station vor Kopenhagen. Das wollte Jean dem Kauderwelsch entnehmen.