Читать книгу Die Verlorene Form - wie zwölf dänische Königspferde zu einem Guss wurden - Inka Benn - Страница 10

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Saly hatte sein Double gefunden. Sofort hatte ihm Adoree begeistert zugestimmt und dann begonnen, viele Fragen zu stellen. Als er mit der jungen Dame die Kleiderfrage erörtern wollte, hatte sie bereits eigene Vorschläge zur Hand. Man einigte sich auf ein lockeres Gewand, das Schulter und Nacken frei ließ. Aus Angst, ihre Euphorie zu bremsen, erklärte der Bildhauer dem Mädchen nur zögerlich das Vorgehen und legte ihr schonend dar, dass er sie zunächst nur als Darstellerin brauche. Von den Skizzen dürfe sie sich natürlich nachher die schönsten aussuchen. Adoree freute sich aufrichtig. Man dürfe doch während der Arbeit über Italien reden? Saly wagte kaum zu verneinen, daher stellte er ihr die Unterhaltung darüber wenigstens für die Pausen in Aussicht.

„Während der Arbeit müssen Künstler und Modell sich sehr konzentrieren. Sie wird merken, wie anstrengend der Vorgang ist. Da bieten die anschließenden Gespräche über Italien vielleicht wirklich Zerstreuung.“

Von der Vorfreude begeistert, offerierte sie ihm ihre Unterstützung bei der Einführung in die Spielregeln bei Hofe. So werde er Madame gefestigter gegenübertreten können. Außerdem werde sie die Sitzungen mit der echten Madame observieren und ihm beiseite stehen.

Bevor sie sich trennten, mahnte Saly:

„Es wäre von Vorteil, wenn ihr euch von einer vertrauten weiblichen Person zum Atelier geleiten ließet. Nur dann können wir offiziell und ohne Aufsehen in Ruhe arbeiten.“

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* * *

Sie hatten sich für den nächsten Morgen verabredet. Da Saly nicht genau wusste, wann man mit dem offiziellen Beginn seiner Arbeit rechnete, hoffte er, dass die Pompadour auf ein Zeichen von ihm wartete. Wenigstens das musste sich bestimmen lassen! Um Peinlichkeiten zu entgehen, sollte Adoree, der Marquise mitteilen, dass der Monsieur Bildhauer Saly ihr den Zeitpunkt der ersten Sitzung bald mitteilen werde. Und dass es noch einiger wichtiger Vorbereitungen bedarf, unter anderem der Arbeit mit einem Modell, wozu Adoree selbst auserkoren worden sei.

Adoree erschien pünktlich. Ihre Begleiterin, die Jungfer Lisette, erhaschte nur einen kurzen Einblick in die Räumlichkeiten, weil Jean sie sofort zum Hinterausgang im dritten Salon brachte. Wenn man ein wenig acht gab, konnte man hier jederzeit ungesehen ein- und ausgehen. Trotzdem würde es aussehen, als sei sie die ganze Zeit mit der ihr Anvertrauten im Atelier gewesen.

Adoree brannte darauf, Saly das Gewand zu zeigen, das sie bis jetzt verborgen unter ihrer Robe getragen hatte. Es ähnelte einer antiken Tunika. Der luftige Stoff war an den Schultern gerafft, ließ das Dekolté frei, umspielte die Brust und wurde an den Hüften von einem verzierten Gürtel gehalten. In tausend Falten floss der Stoff bis auf den Boden. Die Frisur der jungen Frau bildete dazu einen strikten Gegensatz: ihre dunklen, offenbar sehr langen Haare waren zu einem strengen Kranz um das Haupt geflochten, nur an den Seiten ringelten sich luftige Strähnchen um die zarten Wangenknochen. Saly war begeistert:

„Wunderbar passend. Eine wahre römische Göttin!“

„Ich konnte das Gewand vom Theater leihen. Es gibt Beziehungen zu einer der Sängerinnen. Sie schuldet mir noch einen Gefallen.“

Jean stand im Hintergrund und starrte Adoree an. Das Mädchen konnte seine Blicke spüren, als sie zum Spiegel ging, um ihre Frisur zu überprüfen. Beiläufig sprach sie ihn an:

„Geleitest du mich zum Podest? Du sollst mir die richtige Körperhaltung zeigen.“

Der junge Mann hastete errötend auf den Holzklotz zu. Auf keinen Fall durfte er sie berühren, das hätte in ihm nachhaltige Reaktionen ausgelöst. Deshalb setzte er sich selber auf den Stuhl und nahm die Position ein, für die der Meister sich gestern entschieden hatte. Die Beine leicht verwinkelt, so dass man nichts von der Bescherung sah. Saly bemerkte nichts von der schwülstigen Stimmung. Er war ganz in seinem Element und verglich konzentriert die Skizzen mit der aktuellen Körperhaltung des Jungen. Mehrmals korrigierte die Drehung seines Oberkörpers und die Haltung des Kopfes. Dazu lief er unermüdlich zwischen Paravant und Modell hin und her. Nach einiger Zeit ging er zufrieden auf Adoree zu und erklärte ihr: „So, Mademoiselle, jetzt ist es soweit. Jetzt seid ihr an der Reihe! Prägen sie sich die Haltung meines Gehilfen ein. Und jetzt nehmen sie bitte in gleicher Stellung Platz. Jean, steh auf und hilf der Dame hoch. Vorsicht, das Kleid!“

Jean errötete nochmals. Unsicher bot er der Dame seine Hand und half ihr die Stufe hinauf. Adoree raffte den Stoff und Jean konnte seinen Blick wieder nicht abwenden. Man sah ihre zierlichen Knöchel. Als der der Meister das Regiment übernahm, zog er sich erleichtert zurück.

Saly bat Adoree, seiner Hand nachgiebig zu folgen: „Ich möchte die Kontur eures Körpers formen. Sie fühle sich bitte nicht von meiner Hand belästigt. Nur als Künstler stehe ich ihr gegenüber, als nichts sonst!“ Daraufhin zeigte er ihr eine der Skizzen, nach der sie die Drehung und Neigung des Kopfes richten sollte. Er überprüfte die Position von seinem Arbeitsplatz aus und legte anschließend den Winkel der Schultern zum Körper fest. Dergestalt setzte er sie zurecht. Dieses Vorgehen dauerte eine ganze Weile, ohne dass Adoree sich von selber bewegte. Sie ließ sich formen wie Wachs. Saly war entflammt. Berauscht begann er das Zeichnen. Grazil ragender Nacken, zart sich erhebendes Schlüsselbein, sanfte Wölbung der Brust. Ihr Gesicht, eine edle Kontur. Der Künstler vergaß sich auf Dauer. Und schied aus der Welt.

Unendlich viel Zeit war vergangen, als es dezent im Abseits hüstelte. Mehrmals. Dann etwas lauter. Jean versuchte, den Meister zu erreichen. Das war normalerweise verboten. Jetzt befand man sich jedoch in einer Notlage. Aus Adoree war alle Farbe gewichen und ihr Busen hob und senkte sich unregelmäßig. Jean befürchtete, sie falle in Ohnmacht. Er kannte diesen Zustand beim Sitzen, das Blut wich zunächst aus den Gliedern und verließ dann das Gehirn. Das war der Augenblick nach dem Kribbeln. Seine Lautäußerungen hatten keinen Erfolg gehabt, der Meister nahm nichts wahr. Hilfe suchend richteten sich Adorees Augen auf Jean. In seiner Verzweiflung griff er irgendeinen schweren Gegenstand und ließ diesen polternd zu Boden donnern. Adoree sackte zusammen und der Meister schrak aus seiner Trance und sah gerade noch, wie das Mädchen in sich zusammen sackte.

„Schnell, ein Glas Wasser, frische Luft, einen Fächer! Mein Liebes Kind“, er eilte zu ihr, „verzeihen sie mir! Bitte! Wie kann ich das nur wieder gut machen?“

Jean brachte Wasser. Saly hielt dem Mädchen den Kopf und führte das Glas an ihre Lippen. „Mademoiselle, müssen trinken...“

Jean fächerte dem Körper Luft zu, der leichte Stoff bewegte sich im Hauch. Er riet Saly, die Mademoiselle solle versuchen, Arme und Beine zu bewegen. Und das auch, wenn diese sich taub anfühlen würden. Sie solle ihre Glieder einfach bewegen, mit den Fingern beginnen. Saly leitete den Ratschlag weiter:

„Adoree, hören, sie, bewegen sie ihre Finger, ihre Hände, Arme und Beine. Warten, sie ich helfe ihnen sich aufzurichten! Jean – geh und suche die Dame, die unsere Mademoisselle hierher begleitet hat. Wir brauchen ihre Hilfe. Sie soll sich beeilen!“

Adoree zuckte ein wenig in den Armen Salys und schlug die Augen auf:

„Ist es fertig geworden?“

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* * *

Mademoiselle Lisette hatte dabei geholfen, Adoree zum Canapé zu tragen. Dann schickte sie die beiden Männer hinaus und begann, die abgestorbenen Glieder ihrer Freundin zu massieren. Auf Adorees schöner Stirn lag ein feuchtes Tuch, ihre Waden waren gewickelt. Langsam kehrte Leben in den Körper zurück. „Wie rücksichtslos von diesem Mann. Hat der denn gar keine Augen im Kopf? Glotzt ohne deinen Zustand zu sehen. Dieses Martyrium machst du nicht noch einmal mit!“

Adoree fühlte sich erschöpft. Ihr tat jeder Muskel weh. Dessen ungeachtet konnte sie dem Künstler nicht böse sein. Sie fragte sich nach dem Grund ihrer inneren Heiterkeit. Die in Aussicht gestellten Italienberichte waren es sicherlich nicht. Auch nicht der Besitz einer Skizze. Beide Dinge waren zu profan, als dass sie ihrem Herzen entspringen konnten. War es vielleicht Verliebtsein?

Nein, der Künstler schien ihr als Mann unattraktiv, alterslos und auf eine gewisse Art einfältig. Sie kam zu einem anderen Ergebnis. Es handelte sich zweifelsohne um ihr Bedürfnis nach einem väterlichen Freund. Ihre Sehnsucht nach jemandem, der sie durchleuchtete, ohne sie zu begehren. Von Saly fühlte sie sich in ihrem Wesen verstanden, als Frau geschützt und gleichzeitig als Gottes Werk bewundert. Das hatte sie durch seinen Schöpfergeist gespürt, in der unbändigen Schaffenskraft, mit deren Sicherheit er das Universum auszufüllen vermochte. Von einer Aufgehobenheit wie dieser hatte sie geträumt. Ja, so musste es sein, einen richtigen Vater zu haben.

Adoree setzte sich auf und streckte die Beine. Als sie nach dem Wasserglas griff, fielen die getrockneten Wadenwickel ab. Lisette räumte unterdessen fahrig auf: „Du siehst so derangiert aus, als hätte man wer weiß was mit dir angestellt! Ich werde dich ersteinmal neu zurecht machen müssen. Und dir andere Kleider holen, denn in diesem lasterhaften Kostüm wirst du dich keinesfalls draußen zeigen!“ Adoree hörte nicht zu und nickte nur. Hoffentlich hatte sie das Ausharren richtig gemacht und der Bildhauer hatte bekommen, was er brauchte.

Draußen wartete Saly aufgewühlt auf der Terrasse. Dort zu stehen, um eine Priese zu schnupfen, schien unverfänglicher, als in ruhelos in den Fluren auf und ab zu gehen. Er schüttelte innerlich über sich selber den Kopf. Das Vergehen an der jungen Frau fühlte sich peinlich und dumm an. Wie hatte er sich nur so vergessen können? Man musste dabei ja Angst vor der eigenen Person bekommen. Unsicher fragte er Jean, ob diesem in letzter Zeit etwas an ihm aufgefallen sei, ob sein Charakter sich verändert habe oder ob er sich anders verhalte. Der Junge Mann verstand nicht ganz. Wohl oder übel musste Saly zu ihm von seiner Angst sprechen: „Siehst du etwas in meinem Gesicht, was dich beunruhigt? Oder falle ich durch absurde Gesten auf? Du musst wissen, mein lieber Junge, dass ich nicht ganz unvorbelastet bin. Man sagt, Geisteskrankheit sei ein familiäres Übel. Meinen Großvater hatte es getroffen...Lange siechte er dahin und erkannte nicht einmal seine liebe Frau. Und wenn ich dir jetzt sage, dass ich mich an nichts aus den letzten Stunden erinnern kann, ist es dann nicht schon so weit? Wie konnte es sein, dass ich ihr Übelwerden nicht kommen sah, obwohl ich sie stetig und tief erblickte? Das ist krank! Ich bin eine Gefahr für Andere! Wie soll man mich einer Madame Pompadour zumuten?“ Saly sackte in sich zusammen. Jean wusste nicht, was er tun sollte. Vielleicht war der Herr ja auch liebeskrank, hatte sich in die Mademoiselle verguckt. Das merkwürdige Gefühl, es war, als sei man nicht mehr von dieser Welt. Diese Erfahrungen hatte er bereits in Rom machen müssen. Es war das italienische Hausmädchen gewesen, dass ihn in ihren Bann gezogen hatte. Er hatte nur noch an sie denken können, immer ihr Bild vor Augen gehabt und war sich vorgekommen wie ein Idiot. Ebenso alt wie er, hatte den Charme einer heißblütigen Frau versprüht und ihn vergiftet. In ihrer Gegenwart war er zum stammelnden Jungen geworden und hatte dennoch innerlich seine Mannwerdung gespürt. Ein Mal hatten sie sich getroffen und er hatte kläglich versagt. Bald darauf waren sie glücklicherweise abgereist und er hatte sich unendlich befreit gefühlt. Heute mit Adoree hatte ihn die Panik ergriffen, dasselbe noch einmal durchmachen zu müssen. Hier konnte er sich aber selber bezwingen, weil ihm der Standesunterschied jeglichen Gedanken an diese Frau verbot. Bei Monsieur Saly wäre das ja nicht der Fall, er könnte Adoree Avancen machen, ohne auf die gesellschaftliche Stellung achtgeben zu müssen. Aber wie sollte er zu seinem Herrn davon sprechen? Der Anstand untersagte derart persönliche Gespräche. Jean entschloss sich, das Problem auf andere Weise zu lösen und beschrieb dem Künstler einfach, wie er bei der Arbeit auf ihn wirkte. Er wisse, da er schon mit anderen Künstlern zu tun gehabt habe, dass auch diese während ihres Schaffensprozesses eine Art Verrücktheit ausstrahlten. Da sei wohl für einen begnadeten Künstler wie Monsieur Saly nichts Ungewöhnliches. Auch habe er gehört, dass manche Leute sich so in ein Buch vertiefen würden, dass sie die Welt um sich herum vergäßen. Vielleicht sei das ja eine besondere Gabe, wenn man sich so tief mit Dingen beschäftigen könne. Saly sah ihn hilflos an: „Du meinst, ich habe sie vergessen, weil ich sie gezeichnet habe? So, wie ich schon so oft bei der Arbeit den ganzen Tag über das Essen und Trinken vergessen habe?“ Saly grübelte. Ja, das musste der Grund sein. Es war sein Arbeitseifer. Das Schaffen ging durch ihn hindurch und blendete ihn, so dass er nichts mehr sah. Geist und Hand wurden eins und vernebelten die Impressionen. Die Sinne schienen in jenem Zustand eher überwach. Dann müsste doch das Auge sehen, die Nase riechen und das Ohr hören. Wieso kam es nicht dazu? Die Antwort war ganz einfach: Man denkt nicht darüber nach. Der Geist löst sich im Schaffen auf.

Adoree hatte sich mit Lisettes Hilfe neue Kleider angezogen und trat nun auf die Terrasse. Beide Männer blickten verlegen auf das Mosaik der Steinplatten. Saly näherte sich der jungen Frau und ergriff ihre Hand: „Mademoiselle sehen schon viel besser aus. Die frische Luft wird ihnen gut tun. Vielleicht sollten wir ein wenig im Garten spazieren gehen. Es ist gerade annähernd unbelebt hier draußen und das Licht ist so schön.“ Adoree hakte sich bei ihm ein und ließ sich die Stufen hinunter führen. Dann begann sie zu sprechen: „Monsieur Saly, ich habe mir einige Gedanken darüber gemacht, warum ich ihnen nicht böse sein kann. Ich glaube, ich kann sie verstehen. Ich habe gespürt, was mit ihnen und mir passiert ist.“ Sie blieb stehen und sah ihn an. Das Herz Salys begann jäh und laut zu schlagen. Er fürchtete, sie könnte es wahrnehmen und weiter ihre falschen Schlüsse ziehen. Er setzte gerade zu seiner Bekundung an, als sie ihm zuvor kam: „Es ist nicht das, was sie meinen. Ich fühle mich ihnen zugetan, ja, aber so wie eine Tochter ihrem Vater. Sie müssen wissen, ich habe meinen Erzeuger nicht lange gekannt und wuchs unter Entbehrungen bei meiner Mutter auf. Sie arbeitete zunächst als Sängerin an kleinen Häusern und wir zogen mit verschiedenen Ensembles umher. Mutter und Tochter ohne Beschützer im Theatermetier, da machen sich so manche Herren ihre Vorstellungen. Bei ihnen – da fühle ich mich geborgen und nicht der Begierde ausgeliefert. Anders kann ich es nicht erklären...“. Sie schwieg und sah ihn hoffnungsvoll an. Salys Körper entkrampfte sich. Er lächelte: „Nichts anderes hatte ich mir erhofft! Ich bin erleichtert und gerührt, dass wir unsere Seelenverwandtschaft auf diese Weise aussprechen konnten! Was immer ich für sie tun kann, ich werde handeln wie zum Wohle meiner eigenen Tochter!“

Adoree forderte heiter:„Dann erzählen sie mir jetzt von Italien!“

Die Verlorene Form - wie zwölf dänische Königspferde zu einem Guss wurden

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