Читать книгу Die Verlorene Form - wie zwölf dänische Königspferde zu einem Guss wurden - Inka Benn - Страница 16
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ОглавлениеMan kam aufs freie Land. Der Morgendunst löste sich gerade in zarten Schleiern auf, die Sonne machte sich für einen schönen Sommertag breit. Frisch roch es und erdig. Selbst im Wageninneren konnte man die aufdringlichen Stimmen der aufgeweckten, flach über den Kornfeldern fliegenden Kiebitze hören. Beim Passieren der Büsche am Wegesrand wechselten allerlei lustige Melodien. Es duftete nach Flieder. Als Saly ein Sonnenstrahl direkt in die Augen fuhr, schreckte er hoch. Blinzelnd versuchte er sich zu orientieren. Adoree lächelte ihn an:
„Sie waren wohl sehr müde, Monsieur Saly. Das kommt von der vielen Arbeit! Aufwachen! Wir befinden uns auf dem Land und fahren in die Sommerfrische!“
Er war irritiert ob ihres Spaßes. Wie konnten Frauen nur schnell die Laune wechseln? Madame durchzuckte ihn. Sie, das Paradebeispiel. Sein noch frischer Gedankengang wurde vom Reiter, der sich näherte, unterbrochen. Hier auf der Landstraße konnte man ohne Probleme neben der Kutsche her oder an ihr vorbei reiten. Das tat der junge Poisson dann auch ausgiebigst. Jedesmal, wenn er am Coupé entlang kam, versuchte er einen Blick auf Adoree zu erhaschen. Dabei macht er lustige Verrenkungen im Sattel. Adoree sah dann demonstrativ in die entgegengesetzte Richtung. Saly kümmerten die Eskapaden nicht weiter. Langsam gewöhnten sich seine schlaftrunkenen Augen an das Sonnenlicht. Erfrischt blickte er aus dem Fenster und begann, die jungfräuliche Landschaft in sich aufzunehmen. Atmete tief ein, genoss die Reinheit der Luft, spürte die Wärme auf seiner Gesichtshaut und schaute die Farben, die an ihm vorbei zogen. Wie sehr hatte er die Natur vermisst! Das wurde ihm erst jetzt bewusst. In Italien war er täglich einige Stunden in der Landschaft gewandert, um Ausgrabungen zu besuchen oder um sich Ruinen anzusehen. Das warme Klima dort reizte zu Spaziergängen, Ruhepausen im Gras und eindrücklichen Naturbetrachtungen. Wie im Paradies. Er hatte es geliebt, in einer Osteria zu sitzen und bei einer Flasche Wein die hübschen Menschen bei ihren Alltäglichkeiten zu beobachten. Obgleich man ihn keineswegs als Philantrop bezeichnen konnte, waren ihm die südländischen Menschen ans Herz gewachsen. So natürlich fügte sich deren Naturell in die Landschaft ein, dass sich ihre Gesten und Gesichter mit den Farben der Umgebung mischten. Wäre er ein Maler, hätte er diese Eindrücke zu seinem Sujet gemacht. Weit hinten auf einer Wiese waren Bauern dabei, Gras zu mähen. Vier Gestalten im Rhythmus der Sensen in Reih und Glied mechanisch marschierend. Dem scharfkantigen Mähgeräusch nachhören, das knackige, noch saftige Gras riechen. An diesem Tage werden die Halme langsam in der Sonne verdorren und am Ende des Tages den Duft frischen Heus verbreiten.
Er seufzte befreit:
„So ist es in Italien, Adoree. Warm, Vogelgesänge und Aromen von Heu oder Pinienholz...“ Unerwartet unterbrach eine Stimme seine Schwärmerei:
„Ihr habt Italienisches Blut, Mademoiselle Adoree! Ihr müsst des Südens Natursinne besitzen! Auch mein Ross ist dort geboren. Seht einen der edelsten Hengste aus Neapel, der sich, verliebt in die Sonne, erhebt wie Ikarus gen Himmel! Wir beide werden nicht verbrennen! Wir reiten dem Feuer davon!“
Er sprachs und preschte weiter vor. Adoree konnte wegen des hin - und her kaum einen klaren Gedanken fassen. Aber eines war gewiss: Madame musste Poisson von ihr erzählt haben. Kaum einer sonst wusste von ihrem italienischen Vater.
Jetzt erschien das schnaubende Pferd neben dem Abteil auf der anderen Seite:
„Heiß ist es! Beharrlich zirpsende Grillen in der Mittagssonne Glut. Verstummte Gesänge ruhender Vögel.“
Wieder raste der Reiter los, um die Seite zu wechseln.
„Und wonach duftet es in Arkardien? Der Tau fällt ab vom leicht verdorrten Grase, dies Aroma gärt in des Hochsommers Hitze. Wein und Schinken! Roter, schwerer Wein mit zart geräuchertem Schinken. Mittag geschwängerte Luft. Eingenommen von schläfrigem Appetit und sogleich überglücklich. Lethargie und leiblich Wohl – Siesta!“
Saly rief dem Reiter vergnügt hinterher:
„Es regt sich der Hunger ob eurer Worte! Wann machen wir Rast?“
Das Gesicht beugte sich herab:
„In kurzer Zeit erreichen wir eine Schänke, dort werden wir Halt machen. Die Pferde müssen sich ausruhen, denn das Waldgebiet werden wir im scharfen Trab passieren.“
Poisson zückte seine Pistole und zielte in die Ferne:
„Im Foret de Meudon treibt sich allerlei Gesindel aus Paris herum, Wegelagerer und Landstreicher sind hier zu Hause. Man raubt brave Reisende aus und schickt sie zu Fuß nach Paris. Schon so mancher hohe Herr kam in Unterhosen und nichts sonst dort an. Ganz zu schweigen von den Damen – schmucklos und in Unterkleidern!“
Lachend galoppierte er fort. Saly beruhigte sich selber:
„Der junge Mann wird schon wissen, was er tut. Seine Waffe sieht sehr Vertrauen erweckend aus. Im Umgang damit scheint er geschult...“
Adoree ließ sich zu einem geringschätzigen „Pah!“ herab.
„Von wegen in Unterkleidern! Das hätte der Möchtgern - Cavalieri wohl gern! Wahrscheinlich hat dieser Schauspieler selber Gesindel angeheuert um einen Überfall vorzutäuschen, damit er als unser Held dasteht, wenn er die Angreifer besiegt!“
Saly schüttelte den Kopf:
„Nicht so ungerecht, mein Kind, Monsieur Poisson meint das sicherlich nicht so, wie du es darstellst. Lass uns auf die Rast freuen!“
Als das Coupé und der Gepäckwagen stoppten, winkte Poisson Jean zu. Dieser sprang vom Bock, lief zum Abteil und öffnete für Adoree die Tür. Adoree raffte ihre Röcke, erhob sich gebückt um sich dann halb zur Seite zu drehen. Blind versuchte sie mit dem rechten Fuß das Trittbrett zu ertasten. Bevor der Junge ihr hinaus helfen konnte, schob Poission diesen zur Seite, übergab dem verduzten Jungen Pferd und reichte stattseiner Mademoiselle Adoree die Hand. Diese verließ sich beim Balancieren ganz auf die starke Stütze, welche sie gekonnt hinab geleitete. Ersteinmal auf dem Boden der Tatsachen angekommen, stand sie der wahren galanten Person gegenüber.
„Mademoiselle, wenn ihr mir bitte folgen wollt. Man hat ein schattiges Plätzchen für uns gefunden und das déjeuner für uns angerichtet.“
Poisson bot ihr seinen Arm, den sie wütend abschüttelte. Stur blieb das Mädchen stehen und wartete auf Saly. Poisson machte sich scheinbar nichts aus der Situation. Er wies schweigend auf eine Laube, gleich neben dem kleinen Gasthaus. Dann übernahm er sein Pferd und führte es zur Tränke. Dabei beobachtete sie ihn aus dem Augenwinkel. In Haltung und Statur glich er ihr. Sein Gesicht war scharf geschnitten, sein Kinn aber weich. Immer umspielte ein Lächeln seine Mundwinkel. Nicht so verdschlossen wie Madame wirkte er, sondern leicht und glücklich. Heiße, entspannte Gesichter. Flüsterte dem Tier zu, sein Mund an dessen Ohrmuschel. Geäderte Blutlinien, gespielte Muskeln. Sine Hand liebkoste den glänzenden Hals des Rappen und strich dann kraftvoll den Schweiß herunter. Selbst aus der Entfernung spürte Adoree beider Männlichkeit. Schnell wandte sie den Blick ab und strebte auf den gedeckten Tisch zu. Saly rieb sich die Hände:
„Unser Begleiter hat nicht zu viel versprochen! Italienischer Merlot, dazu Schinken aus Parma! Genieße Adoree! Wahrlich wirst du Italien schmecken.“
Begeistert verzierte er ein Stück Brot mit einer großen Scheibe Schinken und biss beherzt hinein. Das Besteck ließ er außer acht. Er aß aus der Hand. Dem Happen folgte eine Spülung Wein. Adoree roch das schwere Aroma des Alkohols, als sie am Glas nippte. Der salzige Duft des Geräucherten passte wirklich dazu. Sie beschloss, zunächst einen Becher Wasser zu trinken, damit wäre der Durst gestillt und der rote Wein würde ihr verschwindend in den Kopf steigen. Sie sah sich um. Alles machte einen hübschen Eindruck, die Wirtin trug eine saubere Schürze und stand unauffällig parat. Poisson hatte dies Arrangement gut geplant. Unbewusst hatte sich Adoree sich so hingesetzt, dass sie von ihrem Platz aus den Bruder der Madame beobachten konnte.
Dieser hatte dem verschwitzten Pferd an der Tränke den Zaum abgenommen. Mit der hohlen Hand verteilte Wasser auf des Tieres Gesicht und benetzte den gebogenen Hals. An manchen Stellen hob er das lange, dichte Mähnenhaar an und scheitelte die Pracht sorgfältig zur anderen Halsseite. Wie einfühlsam seine Hände wirkten! Er musste dieses Pferd lieben wie einen kostbaren Schatz... wie eine Frau - Adoree verschluckte sich am kalten Wasser. Dennoch konnte sie ihre Augen nicht abwenden. Welche Farbe sein Haar wohl hatte? Die braune Perücke unter dem Dreispitz zählte nicht. Kaum dieser Gedanke, als Poisson sich die falschen Locken vom Kopfe riss und die schweißige Stirn mit kühlem Wasser benetzte. Sein Haupthaar glänzte dunkel. Obwohl er es zum Zopf geflochten trug, ließ sich eine außergewöhnliche Länge vermuten. Eine Mode aus Italien? Die Cravate ward behende gelockert, ein Schwall traf sein Haupt, den Rest verstrich er im heißen Nacken. Wahrlich ein schöner Mann, gestand sie sich im Zwiespalt ein. Adoree begann, versunken in ihre Betrachtungen und Gedanken, vom Schinken und Brot zu kosten. Sie tat es Saly gleich und aß mit den Fingern. Ab und zu nippte sie am Wein. Hoffte sie, dass Poission sich zu ihnen gesellte? Eigentlich hatte sie sich schon dazu entschlossen, ihn als prahlerischen Gascon zu verachten. Innerlich meldete sich allerdings etwas in ihr, das sie reichlich aufwühlte: Seine Anziehungskraft. Gefährlich und verführerisch. Noch nie hatte sie einen Mann getroffen, der diese Eigenschaften so natürlich zur Schau stellte.
Er erschien nicht bei Tisch. Zusammen mit den Kutschern und Pferden mache er es sich im Schatten unter alten Eichen bequem. Das Gemälde einer friedlichen Szenerie. Ab und zu hörte man Schnauben und das Klimpern des losen Kutschgeschirrs, wenn ein Pferd sich von den lästigen Fliegen befreite. Gierig rupften Mäuler Gras.
Erst jetzt hörte sie die Grillen. Es war heiß. Sie fächerte sich mit der Serviette Luft zu.
Lachen klang herüber. Die Wirtin und Lisette hatten Verpflegung gebracht. Man prostete sich zu und verstummte dann beim Essen. Was tat er? Sie sah ihn zu seinem Hengst robben wie ein Tier. Dieser schreckte vom Grasen hoch, hatte kurz am Strick gezerrt, war aber dann aber doch nicht zurückgewichen. Poisson hatte nämlich den Kopf gehoben, das Pferd angesprochen und ihm einen Kanten Brot vorgestreckt. Vorsichtig fanden die Lippen Kontakt, das Maul öffnete sich und die Zähne schnappten den Happen. Das Tier kaute angestrengt den großen Brocken. Poisson lachte und gab seinem Hengst einen freundschaftlichen Klaps auf die Nase. Unvermittelt sah er zu ihr hinüber.
Er hatte sich beobachtet gefühlt. Er konnte ihr Gesicht auf ihn gerichtet sehen. Sie zeigte Interesse, ob seiner plötzlichen Passivität. Jeanne hatte recht gehabt, das Mädchen war ein harter Brocken. Man könnte sich die Zähne daran ausbeißen.
Saly hatte sich genussvoll zurück gelehnt und die Augen geschlossen. Im inneren Bild flimmerten Licht und Schatten, mischten sich Hitze und Wärme, Laute und Stille. Die Grillen unterhielten die Mittagsstunde. Endlich freien Geistes, sinnierte er, mein gelobtes Land, Ort der reinen Kunst … Versailles manieristische Gartenanlagen hatten ihn gewürgt, die überladen Räume ihn überreizt... eine abrupte Erinnerung ... ihre Kontur im Gegenlicht. Saly schreckte hoch. Sein Herz pochte. Nur, weil sie ihn durchfuhr.
Er musste sich ablenken, ein wenig bewegen, trotz der Mittagshitze:
„Begleitest du mich, Adoree? Wir sollten uns ein wenig die Beine vertreten, bevor wir weiter fahren.“
Adoree stand auf und reichte dem Künstler wortlos ihren Arm. Dieser führe das Mädchen unter die Obstbäume im Garten. Ihr Kleidersaum strich raschelnd durch das hohe Gras, das angenehm von unten kühlte. Beide sprachen nicht, schlenderten herum und erreichten wie zufällig die Gruppe unter den Eichen. Das hatte sie nicht gewollt. Aber hatte sie sich nicht Saly überlassen und damit auf dessen Zielstrebigkeit gehofft? Willenlos trug sie selber keine Schuld an der Annäherung. Der Hengst bemerkte die Herannahenden zuerst. Mit gerichteten Ohren hob er witternd den Kopf und blähte die weichen Nüstern zu Rot. Ein tiefes Seufzen entfuhr dem Leib. Dann fraß er weiter. Poisson erhob sich und ging ihnen entgegen:
„Darf ich?“
Er bat Saly um Adorees Arm und führte sie ganz nah an den Hengst heran:
„Mein Freund hier spendet Euch alle Aufmerksamkeit und bewahrt trotzdem die Contenance. Erkannt hat er euch am Geruch. Gefallen an eurer Person hat er gefunden durch mich. Denn meine Sinne waren ganz auf euch gerichtet in den letzten Stunden. Mein Drängen hat er gespürt, auch meine Wirrheit und meinen Trotz. Zu hart habe ich ihn manchmal fort geritten von euch, zu eng die Volten zu euch hin genommen.“
Er nahm ihre Hand und führe diese behutsam zum Halse des Tieres.
„Verzeih mir, mein lieber und verstehe, was mich umtreibt...“
Er verneigte sich vor dem Rappen, legte seine Hand auf die ihre und dann streichelten beide zusammen das seidige Fell. Ab und zu zuckte die Haut unter ihrer Berührung und ein Schauer durchlief den schwarzen Körper. Adoree bekam Angst, etwas falsch zu machen. Dabei berührte sie ihn doch bloß … Poisson flüsterte:
„Absolut sensibel ist die Haut eines Pferdes, ein Hauch, eine Reaktion. Jetzt sind es die Fliegen, die wegzuzucken er versucht. Nicht eure Hand, keine Angst! Berührt ihn, liebkost ihn! Schau das edle Antlitz!“
Adoree spiegelte sich in großen, schwarzen Augen, die sie glänzend so von der Seite musterten, dass man ein wenig menschliches Weiß sah. Sofort fühlte sie sich in diesem weichen Blick gefangen. Wie hypnotisiert. Ihre Finger tasteten sich vor, sprachlos, machtlos. Adern, Muskelstränge, ein Schulterblatt. Er sah sie an, derselbe Blick:
„Einen Körper habt ihr so noch nie gesehen. Faszinierend, nicht wahr? Könnt ihr euch vorstellen, damit eins zu werden, im wilden Galopp, in gesetzten Sprüngen? Ich werde es euch beibringen, wenn ihr wollt!“
Des Mädchens Finger ließen ab. Das Pferd schüttelte die Mähne. Der Mann griff ihre Hand und führte diese zu seinem Herzen:
„Ich werde euch das Reiten beibringen, Adoree!“
Sie schluckte und blickte ängstlich an ihm hoch.
„Habt keine Furcht! Auch Madame ist eine sehr gute Reiterin. Wir lernten beide noch bei Nestier und Guériniére! Jeanne liebt schöne Pferde! Dieser Hengst hier ist mein Geschenk an sie. Für ihr Gestüt in Pompadour, dass seit einiger Zeit im Aufbau begriffen ist. Das einzigartige Blut dieses Neapolitaners wird die Zucht dort prägen!“
Adoree wusste nichts zu sagen, wieder betrachtete sie das Pferd. Saly mischte sich ein:
„Ein wirklich schönes Exemplar! So harmonisch im Bau passt es ins Quadrat. Der wohl geformte Rücken, die Apfelbacken des runden Hinterteils. Schlanke, trockene Beine. Mir schienen die Füße etwas zu klein, können sie das Gewicht aushalten?“
„Sie beobachten, gut, Monsieur Saly! Gewiss, diese Hufe sind sehr zierlich geraten, das aber ist Absicht der Natur! Formte sie doch das Horn der Umgebung an, den Felsen und steinigen Feldern. Diese kleinen Schuhe sind besonders hart besohlt, kam laufen sie sich ab. Ein Vorzug dieser Rasse, den sie mit den Iberern gemein hat.“
Adoree hörte aufmerksam zu. Und plötzlich fühlte sie sich aus der Zweideutigkeit des Tages entlassen. Hier ging es um das Pferd – die ganze Zeit ging es um das Tier. Das Hin - und Herreiten vorhin, er hatte mit dem Hengst imponieren und ihr das wunderbare Tier vorführen wollen – und nicht sie... Seine Impertinenz war der puren Begeisterung entsprungen, der Freude an dem Ritt. Sie hörte gerade, wie Poission feststellte:
„Ihr bemerkt, mein Thema! Wie das Bauen und die Kunst. Nicht nur das künstlich Erschaffene hat die schöne Kontur. Nein – auch das Pferd! Der Reiter formt sein Ross mit viel Geschick und Können. Erschafft damit sein lebendiges Kunstwerk, was Jahre dauert und vergänglich bleibt. Die wenigen Augenblicke der Verschmelzung streben nach Wiederholung ein Leben lang.“
Saly wurde nachdenklich:
„So habe ich es noch nie betrachtet, das Ross und seinen Reiter. Mir begegneten diese bisher nur als Werk. Statuen mächtiger Persönlichkeiten. Sie kennen den Marc Aurel beim Kapitol? Ein wunderbares Beispiel für Erhabenheit und Größe! Übrigens, sein Pferd gleicht dem ihren!“
Poisson ließ Adorees Hand los und klopfte Saly freundschaftlich auf die Schulter:
„Damit könnten sie Recht haben. Ich finde besonders der konvexe Nasenrücken und der hoch getragene Schwanenhals – das Ideal der Neapolitaner!“
Kurz nach dieser Begebenheit ließ Poisson die Pferde einspannen. Man nahm wieder auf den Wagen Platz und er bestieg seinen Hengst. Vor der Abfahrt gab er noch einige Anweisungen:
„Unter keinen Umständen werden wir anhalten! Scharfer Trab und vorwärts! Der Wald ist schattig und kühl trotz der Mittagshitze. Hoffen wir, das die Räuber Siesta machen!“
Sowohl beide Kutscher als auch Jean trugen jetzt Waffen. Der Junge war mit einem Messer und einem Degen ausstaffiert worden, mit dem er nur leidlich umzugehen wusste. Die anderen Männer trugen zusätzlich Pistolen bei sich. Adoree war ein wenig mulmig zu Mute. Sie rief Poisson zu:
„Ich möchte Lisette bei mir haben. Hier im Abteil sind wir Frauen sicherer!“
Poisson begrüßte den Wunsch und veranlasste, dass die Zofe in das Coupé hinüber stieg. Lisette zeigte Adoree einen kleinen Dolch, den sie unter ihren Röcken versteckt hielt. Beide Frauen kicherten.
Saly sah irritiert fort. Musste ein Mann eine Waffe tragen? Es war nicht damit zu rechnen gewesen, dass die Wälder um Paris herum dermaßen gefährlich sein könnten. Er war schon viel in Europa herum gekommen und hatte auf den Postkutschenrouten nach Italien auch schon einige brenzlige Situationen erlebt, jedoch nie selber eine Waffe bei sich tragen müssen. Er wüsste auch gar nicht damit umzugehen. Aber jetzt war es ihm peinlich, dass die Mädchen den Mumm besaßen und er nicht. Man konnte nur hoffen, dass sie das Schloss ohne Komplikationen erreichen würden.
Der Wald war sehr dunkel, es duftete nach Tanne und das Hufgetrappel wurde vom nadelweich gepolsterten Boden verschluckt. Der Weg war nicht mehr als Schneise zwischen den Bäumen. Gerade einmal eine Kutsche mit einseitiger Eskorte hatte Platz. Für einen Hauptweg nach Paris sehr eng, befand Saly. Mischwald und Tannen wechselten sich ab, dort wo Buchen und Eichen standen, fiel helles Sonnenlicht durch die Laubkronen auf den Boden und sprenkelte alles Grün golden. Das Tannendickicht jedoch sog jegliches Hell ins Undurchdringliche auf. Saly mochte Wald nicht. Er liebte die Weite, sanfte Hügel, übersichtliche Ebenen und Gras. Ab und zu ein Baum als Kulisse, eingestreut in die Landschaft. Im Übrigen fand er Zypressen sehr schön. Und Eichen. Das Schaukeln lullte ein. Es war doch Mittagszeit und der Wein, gegessen hatte er auch mehr als mäßig... Adoree stieß Lisette an und wies lächelnd auf den schlummernden Künstler. Sein friedliches Kindergesicht amüsierte sie. Seit sie im Wald waren, ritt Poisson nicht mehr neben dem Wagen, sondern bildete die Vorhut. Das Tempo, das er vorgab war zügig und gleichmäßig.
Adoree langweilte sich ein wenig. Mittlerweile hatten sich ihre Erwartungen in unnötige innere Unruhe hoch geschraubt. Sie ahnte, was dahinter steckte. Ein diffuses Gefühl wie bei Italien, wenn sie an das Land ihrer Träume dachte und sich phantastische Wünsche ausmalte. Beinahe Visionen. Diese brachten ihr Ziele. Und Unruhe. Plötzlich unterbrachen laute Rufe ihre Gedanken. Die Fahrt verlangsamte sich und schließlich stoppte der Wagen. Die Erde bebete, als man mehrere Pferde heran preschen hörte. Geschrei, ein Schuss. Dann für einen Moment Stille. Wieder Stimmen. Sie konnte die Poissons heraus hören. Gott sei Dank, ihm war nichts passiert. Hatte man ihn etawa überwältigt? Würden die Räuber jetzt kommen und sie nötigen? Adoree zitterte, ihr Körper suchte Nähe bei Lisette. Beide Frauen kauerten sich aneinander als wollten sie sich vor dem Kommenden verstecken. Den schlafenden Saly hatten sie vergessen. Plötzlich stand ein Mann neben dem Abteil. Er spähte hinein und erkannte die beiden Mädchen im Halbdunkel. Saly hatte er noch nicht entdeckt. Als er den Schlag öffnete, schrie Lisette auf und machtesich hektisch an ihren Röcken zu schaffen. Sie suchte das Messer. Adoree hatte sich von ihr gelöst und begann, mit den Füßen nach dem Mann zu treten. Saly wurde mehrmals unsanft getroffen und schreckte hoch. Der Mann in der Tür hob die Arme und stolperte zurück:
„Haltet ein! Ich bin ein Freund! Es geschieht euch nichts! Der Monsieur mit dem schwarzen Hengst bat mich, euch zu sagen, dass wir den Überfall vereiteln konnten!“
Adoree stoppte ihren Angriff, aber Lisette hatte gerade das Messer gefunden und stach damit der Gestalt entgegen in die Luft. Ein flinker Griff von draußen und das Teil ward ihr entwunden: „Glaubt ihm nicht, Adoree! Das ist eine Falle!“
Um den Wagen hatten sich jetzt mehrere Männer versammelt, die sich das Schauspiel besahen. Einige lachten. Saly versuchte, durch das Fenster auf der anderen Seite einen Blick auf die Horde zu erhaschen. Wie viele konnten das sein? Im Zwielicht des Waldes war das nicht auszumachen. Auf einmal erschien ein bekanntes Gesicht direkt vor seiner Nase:
„Wir hatten Glück, Monsieur, Mademoiselles, diese Männer kamen uns zur Hilfe! Ein Baum blockierte die Straße, wird mussten halten und die Räuber sprangen aus dem Unterholz. Im selben Moment näherten sich Monsieur Fanfan und seine Männer von der anderen Seite. Ein kurzer Kampf, ein Schuss in die Luft und das Gesindel war vertrieben!“
Adoree atmete auf, Lisette ließ sich in die Polster zurück sinken und Saly wirkte verdutzt. Poisson sprach weiter:
„Leider hat mein Schwarzer sich beim Sprung über die gefällte Tanne am Bein verletzt. Nur eine Schramme. Nur ein wenig Blut. Nichts Schlimmes.“
Dass er dabei vom Pferd gestürzt war, verschwieg er wohlbedacht. Adoree brachte nach dieser Aufregung gerade mal ein „Oh“ hervor. Von der anderen Seite her sprach jetzt Fanfan:
„Meine Männer und ich werden den Stamm aus dem Wege räumen, so dass ihr passieren könnt. Die letzten Meilen wird keinem mehr etwas zustoßen, da wir euch begleiten.“
Er verneigte sich kurz und zog sich zurück. Saly konnte gerade noch stammeln:
„Danke, Monsieur, wir danken euch!“
Poisson öffnete den Schlag auf seiner Seite und bat Saly, ein wenig Platz zu machen. Er fuhr jetzt mit im Coupé um das Pferd zu schonen:
„Sonst ist er ein guter Springer im Terrain wie auch in der hohen Schule. Aber diese verflixten stakenden Äste! Die waren nicht einzuschätzen! Mein Fehler, ich hätte doch mehr seitlich hinüber setzen sollen...“
Adoree erboste sich:
„Nur an euer Pferd denkt ihr! Mit keiner Silbe erwähnt ihr uns! Dabei hatten wir qualvolle Angst hier drinnen. Ein wenig früher Entwarnung von euch hätte unser Leiden mächtig verkürzt! Stattdessen schickt ihr einen Wildfremden, der auch der Räuber hätte sein können!“
Saly beschwichtigte:
„Kind, es ist doch nichts passiert! Wir sollten dem fremden Herrn und seinen Leuten dankbar sein! Und Monsieur Poisson hier hat sich tadellos verhalten. Lass uns jetzt nicht lamentieren! Meine Nerven!“ Bei Lisette durchbrach nervöses Kichern die nachlassende Anspannung. Adoree schmollte:
„Und, was ist jetzt mit eurem wertvollen Freund?“
Poisson ließ sich nichts anmerken und erklärte nur kurz, dass er den Hengst an Jean übergeben habe, der ihn am Strick vom Wagen aus zu halten habe. Das wertvolle Tier direkt dort anzubinden wäre eine gefährliche Schande. Adoree nickte nur und Saly erstaunte sich darüber, das Jean, der sonst nicht viel mit Pferden am Hut hatte, diese besondere Aufgabe zuteil geworden war. Das Coupé setzte sich in Bewegung, voraus und hintendrein hatten sie jetzt eine Eskorte.
Am späten Nachmittag erreichte der Aufzug das Schloss. Schon lange vorher hatte sich der Wald gelichtet, war in eine Allee über gegangen, die in einem Park endete. Hier stoppten die Begleiter und nahmen den Weg zum Stall. Poisson hatte sie eingeladen.
Saly hingegen befand sich in einem kritischen Zustand. Er fürchtete eine Herzattacke. Nicht der verschlafene Überfall hatte ihn aufgeregt, sondern jeder Zoll, den er sich Madame näherte. Wie würde sie ihn empfangen? Unruhig nästelte er an seiner Kleidung herum und räusperte sich mehrmals. Es musste gelingen, an die Gespräche von Versailles anzuknüpfen. Ausführlichst hatte er sich in der letzten Zeit bei der Arbeit und des nachts deren Verlauf ausgemalt, Themen festgesetzt und nach Formulierungen gesucht. Er hatte sich gewappnet, um nicht wie ein verliebter Tor vor seiner Angebeteten zu stehen. Hier, in der der Höhle der Löwin, durfte er nicht die Nerven verlieren.