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Miami
Ronny

Ich halte nichts davon, etwas nicht auszusprechen, weil es peinlich sein könnte. Invalide sprechen gern über ihre Behinderung. Ich lenke immer voll drauf zu – »Was ist denn mit Ihren Beinen passiert?« – und werde dafür unweigerlich mit ihrer Dankbarkeit und einer guten Geschichte belohnt. »Wo ist denn Ihr Daumen geblieben?«, habe ich mal einen Mann gefragt, dem einer fehlte. In einem Liebesdrama hatte ihm sein Rivale in den Daumen gebissen, tief bis auf den Knochen, sodass der Daumen amputiert werden musste. Der Mann hat seine Stelle als Maschinenschlosser aufgeben müssen, und sein Leben war zerstört. Also fragte ich: »Haben Sie von dem Kerl denn wenigstens Schmerzensgeld und Schadenersatz bekommen?« – und staunte noch mehr, als er antwortete: »Nein, keinen Pfennig.« Der Biss war als Notwehr eingestuft worden, weil sich herausstellte, dass mein neuer Bekannter dabei gewesen war, seinen Kontrahenten zu erwürgen. Ich habe mich immer danach gesehnt, einem Mann nahe zu kommen, dem ein Körperteil fehlt – oder sogar seine ganze Familie. Ich finde Tragik attraktiv. Deshalb sah ich auch keinen Grund, meinen Freund nicht zu fragen, woher er diesen sonderbaren Namen hatte und warum er mir weismachen wollte, er sei Däne, wo er doch offenbar Araber war.

Rommel erklärte es mir, ohne zu zögern. Er sei der Spross einer Familie palästinensischer Kioskbesitzer, die zu Reichtum gelangt waren, indem sie ihre Ware bei anderen Kioskbesitzern klauten. Als man ihnen endlich auf die Schliche kam, seien sie schon so reich gewesen, dass sie sich einen hervorragenden Anwalt leisten konnten, der dafür sorgte, dass sie ungeschoren davonkamen. Sie seien Christen, keine Muslime, beteuerte Rommel und fügte hinzu, niemand aus seiner Familie habe je das geringste Interesse an Politik gehabt, obwohl sein Vater ein Geschichtsfan sei und jedes seiner zwölf Kinder nach einer großen historischen Gestalt benannt habe. Seinen Erstgeborenen, Rommel, habe er durch die Schule gehetzt und dann im Kegelklub damit geprahlt, dass der Junge Medizin studiere, und schließlich habe er ihn überall heruntergemacht, weil er sich in der alten Heimat für sein Volk engagieren wollte, statt in der neuen gutes Geld zu verdienen.

Im ersten Moment verstand ich die Finessen dieses Familiendramas nicht, doch das würde sich sicherlich ändern, denn keine Reise ist so bildend wie ein Liebesverhältnis mit einem Ausländer. Es fiel mir überhaupt nicht ein, die Landschaftskulisse dieses speziellen Auslands in Zweifel zu ziehen.

»Hier nenne ich mich Ronny«, sagte er. »Und außerdem – ich will dich ja nicht verwirren, aber wie die meisten Libanesen bin ich auch Amerikaner. Ich bin in South Patterson, New Jersey, aufgewachsen.«

»Aber du hast einen Akzent!«

»Ich habe bloß deinen nachgemacht«, antwortete er, jetzt in einem knalligen New-Jersey-Tonfall.

»Ich habe keinen Akzent«, protestierte ich.

»Da wäre ich mir nicht so sicher«, sagte er bloß. Seine braunen Augen sahen mich mit der Ruhe eines schlammigen Tümpels voll giftiger Reptilien an. »Mich kränkt es ja auch nicht, dass du dich gar nicht gefragt hast, wie es kommt, dass ich erster Klasse fliege, obwohl ich jünger bin als du.«

»Jünger als ich?«, stotterte ich.

»Da bin ich mir ziemlich sicher«, sagte er gleichmütig. »So was sehe ich – schon aus beruflichen Gründen.« Er beugte sich vor und berührte meine Stirn. »Hier oben könntest du es mal mit Botox versuchen.« Er inspizierte meine Kinnlinie, meinen Hals und den Mund. »Ein bisschen Füllstoff, um die Lippen aufzupolstern, wäre wahrscheinlich auch ganz sinnvoll.«

Ich rieb mir den Mund. Dieser Scharlatan! Mir fiel der polnische Aristokrat ein, der mir vor kurzem gesagt hatte: »Tu as des belles lèvres«, bevor er dieses Kompliment mit seinen eigenen lèvres besiegelte. Auch auf der Stirn habe ich keine einzige Falte. Seit Jahren habe ich mich angestrengt, nicht die Stirn zu runzeln, hatte auch nie einen Grund dazu, bevor ich Ivan kennenlernte. Und die Arbeit, die seine Kollegen mit viel Geschick an meinem Gesicht verrichtet hatten, erkannte dieser Kollege nicht mal – das Unterspritzen mit Eigenfett und vor kurzem der Nofretete-Lift, ein raffiniertes Verfahren zur Hebung der Kinnlinie, erfunden von dem genialen Dr. Lévy in Genf (wenn Sie es mal mit ihm probieren wollen – seine Nummer steht im Telefonbuch, und sagen Sie ihm, die Empfehlung käme von mir), der zu bescheiden gewesen war, das Verfahren nach sich selbst zu benennen. Aber wer wollte schon einen Lévy-Lift?

Es war an der Zeit, einiges klarzustellen, was mich betraf. Denn als ich diesem … palästinensischen Arzt, Rommel oder Ronny … gesagt hatte, ich sei nach Amerika gekommen, um mich zu kurieren, hatte ich zwar die Wahrheit gesagt. Aber in Miami war ich nicht bloß zum Braunwerden. Schon in Deutschland, als mir klar wurde, dass meine Liebe zu Ivan ein schweres Leiden war, hatte ich mich nach einem Mittel dagegen umgesehen, und ich hatte erkannt, dass mich nur ein Großschriftsteller von der Fixierung auf meinen Dichter kurieren konnte. Darin war ich ein bisschen wie Alice: Nur ein berühmterer Dichter würde mich aus dem Elend erlösen.

Eine alte Frau, die sich in einen jungen Bolzen verliebt, hat es nicht schwer. Wenn es mit ihm nicht klappt, braucht sie sich nur umzudrehen, und schon fällt ihr Blick auf den nächsten. Sie sind so häufig wie Tannenzapfen. Eine Frau, die auf Muskeln fixiert ist, braucht nur bei einer beliebigen Baustelle vorbeizuschauen. Ich dagegen hatte ein Problem: Hirn bei einem Mann findet man nicht so leicht. Über intelligente Männer stolpert man nicht ohne weiteres. Man muss nach ihnen graben wie nach Trüffeln.

Zum Glück sind Männer der Feder vergleichsweise leicht zu finden und noch leichter zu haben. Sie müssen versorgt werden und geraten deshalb früh in feste Hände, sind aber fast nie treu. Ich hatte in Google geforscht. Ein Städtchen in Florida in der Nähe von Orlando hatte den Großschriftsteller eingeladen, eine Rede zur Unterstützung einer gewissen Hillary Clinton zu halten. Er machte keinen Hehl aus seiner Begeisterung für die Kandidatin, und er besaß offenbar sehr viel mehr Geld als Ivan, denn er hatte schon den zulässigen Höchstbetrag, mehrere tausend Dollar, verschleudert, um ihr im Wahlkampf zu helfen. So viel hätte Ivan allein schon für die Finanzierung seiner Rauchgewohnheiten gebraucht. Aber dieser Schriftsteller war Nichtraucher, und er war international hundertmal berühmter als Ivan. Sein Name ist so bekannt, dass ich ihn nicht laut auszusprechen wage. Ich werde ihn Paul nennen. Mein Paul.

Es folgt Zukunftsvision Nummer 3. Ivan schlägt eine ausländische Zeitung auf. Da stehe ich, in einem Fummel aus blauem Samt, auf den Arm des Rivalen gestützt, sagen wir, beim Filmfestival in Cannes. Ivan krümmt sich vor Schmerz, während er versucht, sich dieses Bild, das ihm wie ein Messer ins Hirn gedrungen ist, aus dem Kopf zu schlagen. Wie sehr bedauert er jetzt die Entscheidung, bei seiner Frau geblieben zu sein. Wie klein kommt er sich vor – noch kleiner, als er sowieso schon ist. Denn Paul hat nicht nur einen gewaltigen Ruf, er bekommt jetzt auch in Cannes einen Preis. Außerdem hat er eine ziemlich gute Figur, und modische Schuhe sind eine Marotte von ihm, deshalb wird auch in jedem Artikel seine überdurchschnittliche Schuhgröße erwähnt.

Das alles gestand ich nun dem erstaunlichen Ronny, obwohl ich Gefahr lief, alle Glut zu ersticken, die bei ihm womöglich schwelte – aber so stark sind sie nun mal, meine Gefühle für Ivan.

Clarissas empfindsame Reise

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