Читать книгу Clarissas empfindsame Reise - Irene Dische - Страница 9
ОглавлениеZukunftsvisionen
Während ich den Strand entlangschlenderte, eine Autobahn aus Sand, auf der gelegentlich ein Jogger vorüberflitzte, hatte ich zwei Zukunftsvisionen, die mich in eine interessantere Umgebung versetzten.
Zukunft 1. Ein Theater. Donnernder Applaus. Zwölf Jahre sind vergangen. Obama ist Präsident, kurz vor dem Ende seiner dritten Amtszeit. Ein Wintertag in New York. Die Leute tragen feste Schuhe und Abendkleider. Ihre klatschenden Hände sind rissig von der Kälte. Die schmale Gestalt auf der Bühne beugt sich mehrmals in den Applaus. Der Mann sieht unglücklich aus. Ich dränge mich nach vorn zur Bühne, sie ist bloß dreißig Zentimeter höher als der Boden, aber das reicht, um der Hauptperson mehr Größe zu verschaffen. Ich blicke hinauf in dieses vertraute Antlitz. Das Alter hat seine Züge zersprengt. Und doch erkenne ich es wieder, dieses Gesicht. O Ivan.
Er bemerkt mich. Er kann es nicht glauben. Er starrt mich an. Er vergisst, wo er ist. Er streckt mir seine Hand entgegen. Schon heute hat er die alte Hand eines Siebenundvierzigjährigen. In zwölf Jahren wird es eine Knochenhand sein. Er zieht mich zu sich herauf. Ich steige auf die Bühne. Ich trage ein einfaches schwarzes Kleid. Diesmal bevorzuge ich dezente Kleidung, ich will nicht eitel wirken. Seine rostfarbenen Augen haben sich in meinen verhakt. Er murmelt: »Könnte man sagen, ich war zwölf Jahre im Gulag, und du hast auf mich gewartet?« Bevor ich antworte, fällt mir ein, dass ich in zwölf Jahren selbst siebenundvierzig sein werde. Aber zum Glück werde ich nicht einen Tag älter aussehen als heute. Ich antworte: »Ja, ja.«
Zukunft 2. Ein Theater. Donnernder Applaus. Die Ehefrau sitzt in der Menge, in der letzten Reihe, mit eisigem Blick. Diesmal nur ein paar Monate weiter auf der Rennbahn der Zeitlichkeit. Die Frau ist hochschwanger, eine ärgerliche Überraschung für mich, aber dann wird mir klar, dass sie bei der Geburt sterben wird. Kein guter Augenblick, Ivan wissen zu lassen, dass ich in der Stadt bin, aber auch kein schlechter. Er soll wissen, dass ich da bin und dass er auf mich bauen kann. Ich zahle auch den Höchstpreis, wenn es sein muss. Ich werde mich um das Neugeborene kümmern wie um mein eigenes. Ich gehe auf ihn zu.
Während ich noch in diesen Phantasien versunken war, klopfte mir etwas auf die Schulter. Es dauerte einige Zeit, bis ich es registrierte. Dann wandte ich mich um.
Ein Gentleman in Jeans sah mich mit einem blendenden Lächeln an – Zähne wie aus einer Zahnpastareklame. Å min gud! Es war der Däne. Wie hatte er mich gefunden? Ob auch er die ganze Zeit nur an mich gedacht hatte?