Читать книгу Clarissas empfindsame Reise - Irene Dische - Страница 12
ОглавлениеAufbruch
Eine Vertraulichkeit wird mit einer
anderen vergolten
Ich kannte Ronny ja kaum. Deshalb war ich mir nicht sicher, wie er auf meine Geschichte reagieren würde. Er lehnte sich auf seinem Stuhl weit zurück und schaute aus unüberbrückbarer Entfernung zu mir herüber. Aber in seinen Augen loderte Wachheit. Reglos lauschte er den Einzelheiten meiner Liebespläne und unterbrach mich nicht, was ich als maßlose Enttäuschung deutete – darüber, dass ich mich mit einem Großschriftsteller trösten wollte, einem Rivalen, gegen den selbst ein geheimnisvoller Orientale nichts ausrichten konnte.
Als ich fertig war, rührte Ronny die nachfolgende Stille nicht an. Der Kaffee kam, aber diesmal beachtete er die Kellnerin nicht, sondern betrachtete mit unübersehbarem Stolz seine Finger. Sie gefielen ihm. Schließlich blickte er auf und öffnete den Mund – ich hatte die Bartstoppeln auf seiner Oberlippe und die Vollkommenheit seiner in Reih und Glied stehenden Zähne bis jetzt nicht bemerkt. Ich sah das alles erst in dem Augenblick, als er sagte: »Das klingt vernünftig.«
Er machte keinen zerknirschten Eindruck. Ich versuchte, meine Bestürzung mit einem Lächeln zu überspielen. Aber es kam noch schlimmer. Er sammelte nämlich bloß die nötige Kraft, um selbst ein Geständnis zu machen. Und dabei ergab sich, dass er seine Stelle in der Dritten Welt – in Beirut – aufgegeben hatte und nach Florida gekommen war, um eine Frau zu erobern, deren Namen er aussprach, als handelte es sich um ein Stück Lokum, das in seinem Mund zerschmolz: Lila. Wenn einem Schönheitschirurg eine Frau gefällt, muss sie vollkommen sein.
Nun kann ich das Wort »Frau« nicht leiden – vor allem, wenn Männer es verwenden, um über andere zu sprechen. Es schaudert mich jedes Mal. Und selbst wenn es sich auf mich bezieht, finde ich es nicht schmeichelhaft. Das Wort »Frau« ist einfach kein Superlativ, wie das Wort »Mann« einer ist. Und wenn Männer es auf andere anwenden und noch lauter »sie« und »ihr« und »ihre« dazukommen, klingt es erst recht niederschmetternd, weil es betont, dass es von uns viele gibt. Wenn ich schon eine »Frau« sein muss, dann bitte die einzige auf der Welt. Solange das nicht der Fall ist, sagt lieber »Puppe« oder »Süße« zu mir und gesteht damit ein, dass ihr von meiner Gunst abhängig seid.
Ronny hatte Lila in Beirut kennengelernt, wo sie als Journalistin arbeitete; er schleuderte mir einfach ins Gesicht, sie sei die klügste, schönste, witzigste Frau der Welt. Er schwärmte von ihren Sommersprossen, als wäre jede einzelne von ihnen ein lohnendes Ausflugsziel, und über ihr braunes Haar sprach er, als wäre braunes Haar nicht so gewöhnlich wie Pelz an einem Bär, und er versäumte natürlich auch nicht, ihre schmalen Hände zu erwähnen. Die überwiegende Mehrheit der Frauen auf dieser Welt hat kleine Hände, vor allem, wenn man die Chinesinnen mitrechnet. Meine Hände sind mittelgroß. Sie sind kräftiger als kleine Hände. Sie können besser drücken und besser reiben, und sie vertragen es ohne weiteres, wenn man sie mit einer größeren Zahl von Ringen versieht, wie ich es gern tue. Ich trage an jeder Hand mehrere Ringe, darunter einen sehr großen Aquamarin, der angeblich die gleiche Farbe hat wie meine Augen. Diese Ringe wurden mir im Laufe der Jahre von verschiedenen Männern geschenkt, die alle einen ziemlichen Wirbel machten, als sie sie mir auf den Finger schoben, und ich hatte nie einen Anlass, sie wieder abzunehmen. Den letzten zwängte mir Ivan selbst auf. Ich musste ihm helfen, weil er sich so ungeschickt anstellte. Er ist bei weitem der schönste, wenn auch der billigste von allen, ein unechter goldener Ring. Er kaufte ihn für ein paar Euro, als wir beschlossen hatten, eine Nacht in einem kleinen Hotel zu verbringen, und er fürchtete, die Concierge könnte etwas dagegen haben. Wie viele unkonventionelle Menschen ist er in Anstandsfragen ein Feigling, und dieser Feigheit habe ich seinen Ring zu verdanken, den ich nun am rechten Ringfinger trage. Er ist die Krone meiner Hand, das Symbol der Macht, die ich immer noch über ihn habe, egal, ob wir miteinander kommunizieren oder nicht. Ich drehte immerfort an diesem Ring, damit Ronny ihn bemerkte, aber er plapperte einfach weiter von seiner Lila.
Er behauptete, Lila sei beeindruckt gewesen, wie selbstlos er sich um Kriegsopfer gekümmert habe. Sie hatten sich während des Kriegs kennengelernt. Ich habe keine Erfahrung mit Kriegsromanzen, aber ich schätze, es ist ähnlich wie mit Bordromanzen auf Schiffsreisen. Es kommt, wie es kommen muss. Man ist eingesperrt, es wird langweilig, und nachher ist man ein paar Tage zusammen durch dick und dünn gegangen.
Nach einer kurzen Zeit des Entzückens hatte sich gezeigt, dass Ronnys Lila noch eine größere Leidenschaft hatte als Ronny: die Politik. Sie hatte sich fröhlich von ihm verabschiedet und war in die Vereinigten Staaten zurückgekehrt, wo eine landesweite Wahl bevorstand, auf deren Ausgang sie Einfluss zu nehmen gedachte. Zuerst verwirrte mich das, aber dann tat mir diese Lila leid. Und ich war bereit, Ronny einen Ratschlag zu geben.
Anscheinend hatte sie ihr Herz an denselben Luo-Politiker verloren, der auch mir schon im Fernsehen begegnet war, Obama. Sie war gekommen, um in seinem Wahlkampfteam mitzuarbeiten, und das tat sie nun auch, in einer Weltgegend, die Ronny kaum kannte – nicht, weil er Libanese war, sondern weil er aus New Jersey stammte. Sie hatte ihm gesagt, sie gehe in den Süden, und wie alle im Norden hatte er geglaubt, sie meine Florida. In Wirklichkeit aber arbeitete sie ein paar Staaten weiter für Obama, in Kentucky. Seltsamerweise war sie entzückt gewesen, als sie erfahren hatte, ihr alter Bewunderer folge ihr wie ein Schäfer einem verirrten Lamm. Nun wollte Ronny einen Wagen mieten und zu ihr fahren. Ob ich Lust hätte, mitzukommen.
Zuerst könnten wir versuchen, meinen Großschriftsteller in Orlando zu erwischen, und wenn das nicht zu dem gewünschten Ergebnis führte, könnte ich weiter nach Norden mitfahren und sehen, ob er, Ronny, mit seinem Projekt mehr Glück hatte. Ich hatte mir noch gar nicht überlegt, wie ich nach Orlando kommen sollte. Es traf sich gut, jemanden zu haben, der die Fahrt organisierte. Romantische Verwicklungen würde dieser Mann mir zwar nicht bieten, aber man kann ja nicht immer alles haben. Ich war einverstanden.