Читать книгу Clarissas empfindsame Reise - Irene Dische - Страница 8
ОглавлениеMiami
Frühstück
Nichts erfüllt mich so sehr mit Panik wie die Ungewissheit, was das nächste Frühstück bringen wird. In einem amerikanischen Hotel braucht man sich deshalb aber keine Sorgen zu machen. In diesem hier hatte man in der Lobby eine Festtafel aufgebaut, mit reinem, weißem Toast, silbernen Schälchen voller Rahmkäse und rubinroten voller Marmelade, dazu einer riesigen Platte seidig glänzender Donuts, jeder von ihnen ein Ruhekissen für die müde Zunge. Auf einem Beistelltisch reihten sich, hübsch wie Brautjungfern, Gläser mit Cornflakes. Überall standen Karaffen mit orangeroten und rosa Säften und weißer Milch, überragt von einem schweren, silberfarbenen Kaffeespender. Feierlicher Muzak rieselte aus Lautsprechern von der Decke. Ich schritt den Mittelgang entlang. Welche Freude: Selbstbedienung! In diesem Punkt bin ich mit meiner Freundin, der Gräfin M***, ganz einer Meinung. Wenn es ums Essen geht, verlasse ich mich nicht gern auf fremde Hände. Sie können gefährlich langsam sein und sind imstande, mit Tellern zu erscheinen, auf denen winzige Portionen dekorativ, wie für die Ewigkeit, zu einem Stillleben angeordnet sind. Im alten Europa, wo selbstquälerische Essgewohnheiten vorherrschen, gilt es als tugendhaft, sich bei Tisch zu unterhalten, statt zu essen, wenn man hungrig ist. Ich glaube nicht ans Fasten. Leute, die sich absichtlich etwas, nach dem es sie verlangt, vorenthalten, bloß um einem natürlichen Verlangen Widerstand zu leisten, haben in meinen Augen keinerlei Recht, sich moralisch überlegen zu fühlen. Ich weise Speisen nur zurück, wenn ich nicht bei Bewusstsein bin. Essen macht mich nicht dicker, nur freundlicher. O Ivan, ein Jahr lang warst du so stolz auf meine Figur.
Als ich das Bankett verließ, begegnete ich in der Hotellobby meinem Spiegelbild, und plötzlich war mir, als sei Ivan da und könne es sehen. Ich posierte für ihn: ein Bein vor. Ich strich mir über die Lippen, über das Gesicht, die glatte, faltenlose Haut. Er hatte ja keine Ahnung, welche Maßnahmen erforderlich waren, um sie in diesem Zustand zu erhalten. Ich lauschte auf sein Kompliment. Welche Pein, ihn in unserem imaginären Dauergespräch an mein Aussehen zu erinnern, und er antwortet nicht. Ich brauchte Ablenkung.
Ein Fernsehapparat hing an der Wand, wie eine kleine Kirchenkanzel. Ein paar alte Leute hatten sich darunter Plastikstühle zurechtgerückt und starrten gebannt auf den Bildschirm.
»Da wird Obama einiges erklären müssen«, sagte jemand.
»Obama hat den falschen Pastor«, sagte ein anderer.
Der Name kam mir vertraut vor. Obama. Das klang fast wie Odiambo. Ein Luo-Name. Ich war mal in einen Odiambo verliebt gewesen, und zwar lange genug, um zu erfahren, dass so ziemlich jeder afrikanische Name, der mit O anfängt, ein Luo-Name ist und dass die Luo als Fischer in Kenia leben und niemandem zur Last fallen. Mein Odiambo war als Baby-Souvenir eines Ehepaars nach Europa gekommen – zwei Paläontologen, die ihn ihrer Haushälterin abgeluchst hatten. In Frankfurt wurde ihm eine liberale Erziehung zuteil, und als er fünfzehn war und in den Sommerferien als Page in einem Hotel jobbte, rundete ich als ältere – nein, als erfahrenere Frau seinen Bildungsgang ab, nachdem ich an der Art, wie sich seine dunkle Hand um den Griff meines Koffers legte, seine natürliche Begabung erkannt hatte.
Die Lebensgeschichten anderer Leute interessieren mich eigentlich nicht besonders, aber es gehört offensichtlich zu meiner Vorbestimmung, dass sie mir immer wieder erzählt werden. Also füge ich mich in das Unvermeidliche und kann mir meistens sogar Einzelheiten merken. Odiambo war bei einem öden Ausflug nach Frankfurt meine Rettung gewesen, und die Stunden mit ihm waren wie eine sehr viel längere Reise nach Afrika. Seit damals ist sein Name das Wehmutsregister an der großen Orgel meiner Gefühle, auf der ich täglich spiele. Der Name »Obama« brachte es zum Klingen.
Obamas Stimme war sanft und sonor, und als ich noch gar nicht zu ihm aufblickte, wusste ich schon, dass er attraktiv war. Er sprach über den Rassismus in Amerika, über eine Großmutter, die zugegeben hatte, dass sie sich vor schwarzen Männern fürchtete, und darüber, dass er sie trotzdem liebte. Ich bin für alles offen, und ich wunderte mich nicht, dass ein Luo in fließendem amerikanischen Englisch im Fernsehen über seine rassistische weiße Großmutter sprach.
Plötzlich fuhr ein alter Mann hoch und stand schwankend über seinem Krückstock, während er die anderen ankläffte: »Pervers ist das! Der ist Moslem. Sein Vater stammt aus Kenia, auch ein Moslem – aber keiner stört sich dran. Ihr seid alle pervers, euch so was anzusehn – diesen Al-Qaida-Agenten. Sobald er im Amt ist, wird er seine wahre Farbe sehen lassen. Islamgrün!« Zwischen den klirrenden Treffern seines Stocks auf dem Fußboden schlurfte er wütend davon.
Die alten Leute sahen einander kurz an, schüttelten die Köpfe und wandten sich wieder dem Fernseher zu. Eine Frau sagte: »Versetzt euch doch nur mal in seine Lage – jeden Morgen aufzuwachen und zu wissen, dass man achtundachtzig ist. Da hättet ihr auch schlechte Laune.« Sie war gut gelaunt und sah aus, als wäre sie mindestens achtzig.
»Die einen freuen sich, wenn sie aufwachen, die anderen nicht«, sagte ich, obwohl mich keiner gefragt hatte. »Mit dem Alter hat das wenig zu tun, dafür umso mehr mit dem Frühstück, der Vorfreude darauf. Sterben kann man jederzeit. Alte Leute haben darauf kein Monopol. Ich habe nicht vor zu sterben, nur weil mir gerade das Herz gebrochen ist.« Ich wischte mir ein paar Donutkrümel vom Mund. »Keine Sorge, Obamas Daddy kann kein Moslem sein. Die Luo haben ein ganzes Dutzend Götter, die sie anbeten. Sogar einen für Sex.« Die alten Leute sahen mich verwundert an – ausnahmsweise sprach mal ein Enkelkind zu ihnen.
Es war Zeit aufzubrechen. Ich googelte noch nach Obama und stellte fest, dass er eine riesige Fangemeinde hatte. Die Einladung, seiner Mailing-Liste beizutreten, nahm ich an. Als ich an der Rezeption meine Rechnung bezahlen wollte, stellte sich heraus, dass die liebenswürdige Ivana sie schon für uns beide beglichen hatte.