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Auf dem Highway

Wer in Amerika mit dem Auto unterwegs ist, braucht das Genie eines Rallyefahrers auf einer serpentinenreichen Passstraße. Bei hohem Tempo muss man sich in Bruchteilen von Sekunden für eine Richtung entscheiden, geleitet bloß von einem winzigen Schild, das wenige Meter vor der Abfahrt plötzlich am Straßenrand auftaucht und einen nötigt, auf einer Strecke von fünf Wagenlängen über fünf Fahrspuren zu wechseln. Wer je behauptet hat, Amerikaner seien dumm, hat dieses tägliche Training in körperlicher und geistiger Beweglichkeit offenbar nicht berücksichtigt.

Gut Auto fahren und ein gutes Gedicht schreiben sind gar nicht so verschieden: Man muss bestimmte Grenzen beachten oder ignorieren. Wendigkeit im Denken macht den Unterschied aus zwischen Größe und plumpem Mittelmaß. Obendrein ist in Amerika ständig Virtuosität im Umgang mit Zahlen gefordert. Meistens tauchen sie in Gestalt von Straßenschildern auf – 437, 19, 441 –, und man muss sofort wissen, welche Straße wohin führt. Der gewöhnliche Europäer würde unter solchen Umständen das Tempo drosseln, um nachzudenken, und damit ein Chaos verursachen.

Ich hatte oft gehört, der Libanon sei ein Paradies für Autofahrer – eine rote Ampel betrachtet man dort nur als Vorschlag. Und die Kunst des Wagenlenkens ist im gesamten Mittelmeerraum bekanntlich schon seit der Antike hoch entwickelt. Deshalb versprach ich mir von Ronny eine brillante Vorstellung. Stattdessen erwies er sich als uninspirierter Sicherheitsfahrer, hatte keine Ahnung, wie man beschleunigt, besaß keinen natürlichen Überholinstinkt, und Kurven aller Art verwirrten ihn. Gut war er nur im Navigieren, er konnte Straßen finden und wusste immer, welcher Weg der beste war. Dabei war die Auswahl groß – alle Straßen führten nach Orlando. Oder besser gesagt: Alle Straßen führten zu meinem Paul, der mich nun bald von meinem Herzenskummer kurieren würde.

Zuerst saß ich ruhig zurückgelehnt in meiner weißen Lederschale und legte mir die Locken so, dass sie über beide Schultern wallten, rückte auch mein Profil zurecht und winkelte die Arme vom Körper so ab, dass Ronny, wenn er zur Seite sah, wahrnehmen würde, wie schlank und glatt sie waren, während ihm meine verschrumpelten Ellenbogen verborgen blieben. Ich schloss die Augen und tat, als machte ich ein Nickerchen, um ungestörter an Paul zu denken und in der Vorahnung gegenseitiger magnetischer Anziehung zu schwelgen. Ich spielte alle erdenklichen ersten Küsse durch. Aber meine Gedankenfreiheit wurde eingeschränkt. Als Fahrer fühlte sich Ronny offenbar ermächtigt, mit dem Radio nach Belieben zu schalten und zu walten. Eine Zeit lang hörte er Nachrichten. Bei Obama lief es nicht rund, Hillary holte auf. Ich hätte lieber gewusst, wie die Friedensverhandlungen zwischen Jen und Angelina weitergingen, aber der Sender erwähnte sie nicht.

Alle Motorfahrzeuge in Amerika sind gleich geschaffen – und alle sind vor dem Gesetz gleich. Man folgt, gehorcht und reiht sich ein. Nicht die ideale Betätigung für jemanden, der sich von der breiten Masse abheben will. Die Ähnlichkeit zwischen den Wörtern Nobelkarre und Totenstarre ist bestimmt kein Zufall. Ein Jaguar mag ein Luxusobjekt sein, aber bei näherem Hinsehen erweist er sich als zu enger Raum. Wer dem unwürdigen Zustand, in diesem Etui auch noch angeschnallt zu sein und nichts tun zu können, als sich ans Tempolimit zu halten, nicht durch Tagträumen entfliehen kann, dem bleibt nur eines: reden. Deshalb schlug ich Ronny schließlich vor, das Radio abzuschalten, damit wir uns unterhalten könnten. Aber Reden kann riskant sein.

Lange Autofahrten lockern die Zunge wie sonst nur Alkohol; keine Situation regt so sehr zu Geständnissen und Vertraulichkeiten an. Aber selten bin ich jemandem begegnet, der so störrisch war wie Ronny. Er hatte nur zwei Dinge im Kopf – Politik und Lila, auf deren Vorzüge er immer wieder zurückkam, und zwar stets in den gleichen Einzelheiten. Als er ihre witzige Art, ihre Intelligenz und ihre Sommersprossen zum zwanzigsten Mal gepriesen hatte, flehte ich ihn an, das Thema zu wechseln.

Clarissas empfindsame Reise

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