Читать книгу Clarissas empfindsame Reise - Irene Dische - Страница 5
ОглавлениеProlog
»Für mich ist eine Liebesgeschichte gut ausgegangen, wenn ich es bin, die Schluss macht, und er trauert. Wenn beide gleichzeitig Schluss machen, wird es ein Martyrium. Aber in meinem Fall war es noch viel schlimmer. Ich warne Sie – sollten Sie vorhaben, jemanden zu verlassen, in den Sie verliebt sind, lassen Sie sich von ihm bloß nicht in Begleitung seiner Ehefrau zum Flughafen bringen.«
Das war noch nicht alles, was ich bei meinem Nachbarn im Flugzeug loswerden wollte.
»Schlimm genug, dass mich mein Vater damals zum Flughafen brachte, vor zwanzig Jahren, als ich aus Amerika verschwinden musste – immer stehen überall Väter in meinem Leben herum. Auch damals gab es einen Skandal. Ich war fünfzehn. Jetzt können Sie sich ausrechnen, wie alt ich bin. Da staunen Sie, was? Auch wenn ich viel jünger aussehe – ich bin schon fünfunddreißig. Als ich mich zum ersten Mal verliebte, war ich vierzehn und eingesperrt in einem Internat. Ich war Jugendmeisterin in der Liebe. Ein Wachmann von Pinkerton passte auf uns auf. Ich nannte ihn Pinkie. Meine große Liebe. Als die Schulleitung davon erfuhr, erstattete sie Anzeige. Pinkie wurde wegen Vergewaltigung verurteilt. Er kam ins Gefängnis.«
Die gütigen Augen meines Nachbarn – ich leugne nicht (O Ivan!), dass Güte mich anzieht, vor allem jetzt, wo mein Herz so voller Schmerz ist –, diese großen, braunen Augen blickten mich voller Mitgefühl an, als er fragte: »Und was ist dann aus ihm geworden?«
»Aus wem?«, fragte ich.
»Aus Ihrer großen Liebe, Pinkie …, der ins Gefängnis musste.«
»Woher soll ich das wissen?«, erwiderte ich achselzuckend. »Ich kam nachher selbst ins Gefängnis, in ein viel schlimmeres, nämlich nach Stuttgart. Meine Eltern glaubten, in Europa wäre ein Mädchen vor Männern sicher. Ich quartierte mich bei einem steinalten Ehepaar ein. Diese Leute sprachen dauernd über Achtundsechzig, als wäre es das irdische Paradies gewesen, dessen Tore ihnen seither wieder verschlossen sind. Sie waren strenggläubige Progressive. An einem Wochenende ließen sie mich allein nach Berlin fahren, und ich blieb einfach dort. Verliebte mich bei der ersten Gelegenheit. Sich verlieben können ist eine Begabung, und ich habe sie. Bald hatte ich überall in der Stadt meine Liebesbande geknüpft und mehrere Wohnungen zur Auswahl. Ich hatte kein Verlangen, nach Hause zurückzukehren. Doch dann …«
»Jetzt kehren Sie zurück«, sagte mein Nachbar, und voller Güte berührte er meine Hand und lehnte sich zu mir herüber. Ich sollte leiser sprechen. »Warum kehren Sie zurück?«
Anfangs war mir sein Akzent gar nicht aufgefallen. Ich hatte ihn für einen Amerikaner gehalten – einen lockigen, drahtigen, munteren jungen Amerikaner mit Augen wie Kupfermünzen, meinem Pinkerton-Mann gar nicht so unähnlich und ungefähr so alt wie er damals. Nun aber vernahm ich zu meiner Bestürzung einen unverkennbar skandinavischen Tonfall. Kein Zweifel, ein Däne. Dänen waren immer freundlich, und Lächeln war das Kleingeld ihrer Höflichkeit. Ich antwortete trotzdem.
»Wieder wegen eines Skandals«, sagte ich. »Aber diesmal ist es ein innerer, und das ist viel schlimmer. Ich habe mir erlaubt, mich in den falschen Mann zu verlieben. Er ist verheiratet.« (Eine dürftige Beschreibung von meinem Ivan, aber sie musste reichen.)
Ich verkündete: »Neben Ihnen sitzt eine tiefunglückliche Frau. Ich habe mir New York als Medizin verschrieben. Ich bin dort aufgewachsen, und ich weiß, New York, wenn es stark ist, kann einen hungrigen Löwen derart ablenken, dass er die Beute zwischen seinen Zähnen vergisst. Ich bin genauso, wenn ich stark bin. Aber New York ist im Moment schwach. Die New Yorker haben sich – wie ich mich auch – blamiert. Sie haben einen Krieg verloren, gegen den sie sich nicht gewehrt, den sie sogar gewollt haben, weil sie glaubten, sie würden ihn gewinnen. Jetzt stehen sie unter Schock, und ihnen schlackern die Geldbeutel. Einen Krieg oder all seine Ersparnisse verlieren ist natürlich nicht zu vergleichen mit dem Verlust einer Liebe, aber ein gemeinsames Klagelied können wir trotzdem anstimmen. Eine Woche dort müsste ausreichen. Ich habe Ivan ewige Liebe versprochen, aber nun will ich ihn für immer vergessen. Er ist Dichter, experimentelle Lyrik, und er stammt aus Minsk, entsetzlich. Wo andere Leute Bankkonten haben, hat er Publikationen und Frauen, lauter nette Frauen, auch Kinder, und dann hatte er noch die Idee, ein Auge auf mich zu werfen, dabei bin ich halb so alt wie er. Und ausgerechnet an diesen Mann habe ich mein Herz verloren. Peinlich. Ich will mich nie wieder in einen Europäer verlieben. Ich will sogar nie wieder mit einem reden. Mein Handy habe ich am Flughafen entsorgt. Zusammen mit meinem iPod. Friede auf Erden. Bloß kann ich jetzt auch kein Radiohead mehr hören.«
Damit hatte ich meinen Vorrat an Gehässigkeit erschöpft und fühlte mich entsprechend müde. Der Jetlag kündigte sich an. Ich sank in meinen Sitz zurück und ein wenig zur Seite, und langsam rutschte mein Kopfpolster nach unten, auf die breite Dänenschulter zu. Bald glitt mir ein Arm um den Rücken, und ich fühlte mich ermutigt, den Kopf weiter sinken zu lassen, bis er sich bequem an den Hals meines Nachbarn schmiegte. Tief atmete ich den Duft seiner Haut ein; er gefiel mir und erinnerte mich wieder an meinen Kummer, an das Versprechen, das ich mir gegeben hatte: Ivan niemals zu vergessen. Im wohligen Dämmer ging dieser Gedanke in einen anderen über. Dieser Däne war zu hübsch und zu nett, um sich für Frauen zu interessieren. Also ergab sich aus meiner aktuellen Lage auch kein Risiko für meine Vorsätze.
Und dann flüsterte er mir ins Ohr: »Aber wenn Sie sich in New York kurieren wollen, warum fliegen Sie dann nach Miami?«