Читать книгу Clarissas empfindsame Reise - Irene Dische - Страница 7
ОглавлениеVorbestimmung
Wenn man reist, tritt sie zutage. Manchen Leuten ist es vorbestimmt, im Leben groß zu gewinnen oder zu verlieren. Wenn sie verreisen, kommen der Airline unweigerlich ihre Koffer abhanden, aber im Flugzeug sitzen sie neben jemandem, der sich als nützlich erweist und mit einem guten Vorschlag ihr Leben zum Besseren wendet. Mein Schicksal ist es, von Juden umgeben zu sein. Ich bin schon unter ihnen zur Welt gekommen, und wenn ich jetzt auf Reisen bin, laufe ich ihnen ständig über den Weg. Ich könnte zum Nordpol reisen – bestimmt würde ich dort auf einen Juden treffen. In Deutschland hat es mir schon deshalb so gut gefallen, weil ich ihnen dort nicht ständig begegnet bin. Und dann gelang es mir auch noch, einen deutschen Handchirurgen mit Turmschädel zu heiraten. Aber mit der Zeit fand ich auch Freunde, und ohne dass ich irgendetwas dazu beigetragen hätte, ergab es sich, dass alle meine Freunde jüdisch waren. Es ist natürlich betrüblich, wenn die Juden in Deutschland derartig zusammenglucken, dass sie sich nicht nur ihre Freunde, sondern auch ihre ärgsten Feinde in den eigenen Reihen suchen. Mein Ivan zum Beispiel wurde von einem jüdischen Kritiker verfolgt. Das ärgerte ihn dermaßen, dass er sich einen Atlas vornahm, und nachdem er festgestellt hatte, dass Schottland in Europa das Land mit den wenigsten Juden war, plante er eine Reise dorthin, um seine Nerven ein bisschen zu beruhigen. Aber auf dem Schiff lief ihm dann schon wieder einer über den Weg – nämlich ich. Er hatte den Fehler begangen, mir seine Reisepläne zu verraten. Wir hatten eine herrliche Zeit.
Hätte ich gewusst, dass Ivan jüdisch war, hätte ich meine erste Begegnung mit ihm bestimmt nicht so leicht genommen. Er hatte eine Lesung, und eine meiner zahllosen Freundinnen bat mich mitzukommen, weil sie gelegentlich mit ihm schlief und seine Frau auch dort sein würde. Natürlich tat ich Alice den Gefallen. Ihr war es vorbestimmt, sich in berühmte Männer zu verlieben. Sie war fünfundzwanzig, als sie mir sagte, falls sie jung sterben müsse, dann, bitte, bitte, lieber Gott, in den Armen eines berühmten Mannes. Mir gefiel ihre Aufrichtigkeit in dieser Frage, und ich kam gern mit, um seine Frau zu begutachten und das eheliche Verhältnis unter die Lupe zu nehmen. Da er mir gleichgültig war, würde ich objektiv urteilen können.
Wie sich herausstellte, war dieser Ivan ein Star. Der Buchladen war brechend voll – lauter Leser, die ihn sich einfach mal anschauen wollten. Dabei gab es gar nicht viel zu sehen. Ein kleiner, älterer Herr, anscheinend überrascht von der großen Aufmerksamkeit, die ihm entgegenschlug, trat zögernd ein, als würde er am liebsten gleich wieder kehrtmachen.
Die Dichtergattin ging knapp hinter ihm. Sie wirkte noch befangener als er – als wären alle ihretwegen gekommen. Neben ihm verströmte sie den Charme eines Bürohauses, das Haar hatte sie zu einem grauen Turm aufgestülpt. Er sah sich ständig nach ihr um, mit einer besorgten Miene, die sie nicht zur Kenntnis nahm. Während sie sich einen Platz im hinteren Teil des Ladens suchte, trippelte er allein nach vorn, wo ein Podium errichtet war. Noch einmal blickte er zu seiner Frau hinüber, die auf die Uhr schaute. Ich sah Alice an und machte das Siegeszeichen. Alices Geschmack war mir zwar rätselhaft, aber die Gattin war kein Problem.
An jenem Abend las der Dichter, der wenig später meiner werden sollte, ungefähr fünfundvierzig Minuten lang aus seinem Werk. Er saß auf einem Stuhl, der Oberkörper von einem unsichtbaren Strick gefesselt, die Schultern krumm, die Hände an sein Buch geklammert. Er las Deutsch, eine Übersetzung. Trotzdem verstand ich kein Wort. Die Schwerkraft presste meine Knochen gegen die Oberfläche eines Stuhls, der mit jeder Minute härter wurde. Ich war Alice zu einem Platz in der Mitte einer Reihe gefolgt. Eingemauert von anderen Zuhörern, die sich in der gleichen hoffnungslosen Lage befanden, musste ich meinen Fluchtreflex unterdrücken.
Plötzlich erhob sich die Gattin, quetschte sich zwischen den Stuhlreihen hindurch und ging hinaus. Ivan unterbrach seinen Vortrag und sah ihr nach. Dann las er weiter. Sein Körper schien sich zu lockern, als hätte seine Frau den Strick mitgenommen. Er lehnte sich zurück und lächelte. Wenig später bat er um Entschuldigung und zündete sich eine Zigarette an. Er fühlte sich jetzt richtig wohl.
Nach der Lesung stellte sich Alice bei den Autogrammjägern an. Sobald sie an der Reihe war, blickte er sich in dem Pulk von Verehrern um, und als er feststellte, dass seine Frau sich nicht unter ihnen befand, nahm er Alices Hand und drückte sie. Dann wanderte sein Blick zu mir, und er ließ ihre Hand wieder los. O Ivan, du Miststück!
Später erfuhr ich, dass seine Frau nach Hause gefahren war, um mit Hilfe ihrer beiden ältesten Töchter seinen Schreibtisch und seine Aktentasche zu filzen und herauszufinden, wo sich sein Herz in letzter Zeit aufhielt. Ein Dichter aus Minsk verliebt sich nicht einfach, um Sex zu haben oder sich in irgendwelche Dramen zu verwickeln, wie man meinen könnte. Nein, er verliebt sich, um Liebesgedichte zu schreiben.
Ivan war so umsichtig gewesen, seinen Schreibtisch abzuschließen. Mutter und Tochter waren so raffiniert, ihn mit einem Schraubenzieher aufzubrechen. Doch dann stellte sich heraus, dass der Schreibtisch leer war, weil Ivan in seiner Zerstreutheit vergessen hatte, sein Notizbuch hineinzuschieben. Er hatte es in die unverschlossene Aktentasche gesteckt, wo es die Damen dann auch bald fanden – vollgestopft mit fein gedrechselten metrischen Angaben über Alice. Der Laptop hingegen erwies sich als undurchsuchbar. Nachdem sie ihn eingeschaltet hatten, wussten sie nicht, wie sie die Programme öffnen sollten und, noch schlimmer, wie sie ihn wieder ausschalten konnten, sodass auch noch der Student von nebenan zu Hilfe gerufen werden musste. Als Ivan nach Hause kam, machte ihm seine Frau eine Szene à la Russe, warf ihm erst Beschimpfungen und dann sein zerfetztes Notizbuch an den Kopf. Er beteuerte, mit Alice sei es aus. Das stimmte. Es hatte mit mir angefangen. Beim Frühstück war das Familienleben wieder im Lot. Frauen aus Minsk sind nur pro forma eifersüchtig.
Seither widerfuhr mir alles, was meine Vorbestimmung vorgesehen hatte, und ich litt, weil ich mich einmal zu oft verliebt hatte. Alice dagegen litt nicht lange. Sie war jung und hübsch und fand leicht einen anderen alten Promi, den sie sich mit seiner Ehefrau teilen konnte. Mir allerdings verzieh sie nie. Aber das machte mir am allerwenigsten aus.
Während der ersten Nacht, die ich wieder in Amerika verbrachte, hatte ich durchgeschlafen, ungestört vom hustenden, würgenden Ozean. Als mir die ersten Sonnenstrahlen über das Gesicht harkten, wachte ich auf und hatte wie immer Ivans Namen auf den Lippen. Ich wusste nicht, wo ich war. Ja, ich wusste kaum, wer ich war. Bloß immer Ivan, Ivan, Ivan.
Clarissa, sagte ich zu mir – Clarissa, steh auf!
Wenn man verrückt vor Liebe ist, finde ich es wichtig, dass man seinen eigenen Namen so oft wie möglich ausspricht, damit die Prioritäten klarbleiben. Clarissa, du hast schon wieder verschlafen! Und wo diesmal? Ich sah mich im Zimmer um. Die Vorhänge waren aufgezogen. Hotelmobiliar. Ein großes Bett, halb leer. Miami, Ivana, gestern Abend Fernsehen. Und Ivan war für immer aus meinem Leben verschwunden. Ich richtete mich auf. Meine Bettgenossin war genauso abwesend. Aber sie hatte einen Zettel auf dem geschlossenen Klodeckel hinterlassen.
»Guten Morgen. Bye-bye. Ivana.«
Ich machte mich sorgfältig zurecht, zog das schlichte weiße Hemdkleid an, das meine Wespentaille und die wohlgeformten Beine zur Geltung bringt, bürstete meinen kupferroten Schopf zu einem Schlafzimmerlook und ging frühstücken. Ich war fest entschlossen, mir ein bisschen Bräune auf die Wangen zu holen und meine Reise nach New York dann möglichst rasch fortzusetzen.