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Miami

Der amerikanische Zoll trennte mich von dem schönen Dänen. Ich machte mir Vorwürfe, weil ich seine Anwesenheit in der ersten Klasse nicht hinreichend gewürdigt hatte. Er hatte auf der anderen Seite des Gangs gesessen, allein. Stunden früher hätte ich mich zu ihm setzen sollen, statt über den öden Lyrikbänden zu brüten, die mir Ivan zum Abschied geschenkt hatte. Ich mag Geschenke, aber ein Buch, das man auch noch selbst geschrieben hat, ist ein vergiftetes Geschenk – vergiftet mit Ansprüchen. Ivan hatte mich oft dafür gelobt, dass ich so höflich sei, selbst keine Gedichte zu schreiben. Es sei schiere Aufdringlichkeit, unbedingt etwas veröffentlichen zu wollen und dann zu erwarten, dass andere es lesen. Für ihn selbst galt das natürlich nicht. Er müsse schreiben, sagte er. Er sei der Sklave seiner verrückten Leser, die es von ihm verlangten. Für sich selbst eine Ausnahme zu machen ist natürlich die Regel. Es gefiel ihm, dass ich mich offen weigerte, seine Sachen zu lesen, denn daraus schloss er, dass ich ihn wegen seines Körpers liebte. Trotzdem glaubte er offenbar, dass nur seine Gedichte, nicht seine Schönheit, dauerhaft Bestand haben würden. Aber vielleicht waren die Lyrikbände auch eine Idee seiner rachsüchtigen Frau gewesen. So blätterte ich darin und sah mir gleichzeitig einen Hollywood-Thriller nach dem anderen an. Dem Dänen hatte ich mich erst gewidmet, nachdem ich mir im Gang die Füße vertreten und eine unerwartete Turbulenz mich in den Sitz neben ihm geworfen hatte. Deshalb begann unsere gemeinsame Zeit leider erst kurz vor dem Landeanflug auf Miami. Als ich dann beim Aussteigen zu meinem Platz zurückkehrte, verlor ich wertvolle Sekunden damit, Ivans Bücher in den Gratiskulturbeutel zu stopfen, den man auf dem Sitz liegen lassen darf, und der Däne glitt an mir vorüber. Ich hatte nur Handgepäck, und es wäre einfach zu peinlich gewesen, seinetwegen noch am Gepäckband herumzulungern. Außerdem machte mich das Englisch um mich herum irgendwie benommen. Die Wörter kamen mir vertraut und gleichzeitig unheimlich vor, wie ein Gesicht, das man jahrelang nicht gesehen hat. Die Kassiererin hinter dem Bankschalter fragte mich: »Was kann ich für dich tun, Honey?«

Honey. Seit Ewigkeiten hatte mich niemand mehr so freundlich angesprochen. Vielleicht fand sie mich ja attraktiv. Obwohl ich mich überhaupt nicht für Frauen interessiere, sprach mein Herz sofort darauf an, und ich händigte ihr alle meine hübschen Euros aus. Mir fiel ein, dass ich in Miami kein einziges Hotel kannte und nicht mal wusste, welches Stadtviertel überhaupt in Frage kam, und mein Mann, auf dessen praktische Ratschläge in solchen Fragen ich mich immer verlassen konnte, war Tausende Meilen weit weg, in Berlin, und schlief wahrscheinlich längst. Einen Moment lang fehlte er mir. Es wäre schön gewesen, wenn er mich am Flughafen abgeholt hätte. So viele Monate hatte er auf mich gewartet – darauf, dass Ivan genug von mir hatte oder ich von ihm. Geduld war seine taktische Waffe.

Mein Hans! Ihm gehört der größte Teil meines Herzens. Hans ist ein Engel, ein schlankes, hochgewachsenes Geschöpf mit sonnengelben Locken auf dem Kopf, aber erdbraunen Augen. Sie sind das einzige Überraschende an ihm. Dazu ein Gesicht, das aussieht, als hätte ein Illustrator es für eine Kinderbibel gezeichnet – Nase und Mund geometrisch vollkommen, schneeweiße Zähne, obwohl er sie kaum zur Schau stellt, wenn er lacht. Statt Engelsflügeln trägt er teure Anzüge. Er ist stets glatt rasiert, und seine sauberen Hände überzieht ein Geflecht von dicken, himmelblauen Adern. Beruf: Gutverdiener. Professor. Handchirurg, auf minimal-invasive Behandlungsverfahren spezialisiert. Ständig blickt er schönen Frauen auf die Hände, das Übrige sieht er nur, wenn sie etwas von japanischen Holzschnitten aus der Meiji-Zeit verstehen. Er ist Sammler. Die Wände in seiner Praxis hängen voll mit dem Zeug, größtenteils blutrünstige Szenen aus dem Chinesisch-Japanischen Krieg. Ich selbst habe mir nie etwas daraus gemacht, aber abgesehen von dem spürbaren Wunsch, ich möge meine Ahnungslosigkeit für mich behalten, nimmt er es mir nicht übel, dass ich seine zweite Leidenschaft nicht teile. Ich bin und bleibe seine erste. Wir sind nun schon sechs Jahre verheiratet, und seiner Begeisterung für mich konnten diese Jahre nichts anhaben. Hätte er mich jetzt sehen können, er hätte mich in die Arme genommen und vor Zärtlichkeit fast erdrückt. Er hatte mir das Erste-Klasse-Ticket nach Amerika gekauft und zugelassen, dass Ivan mich zum Flughafen brachte. Er würde später versuchen, mich anzurufen, um zu hören, ob ich gut angekommen sei. Er war sehr geduldig mit mir, in vielerlei Hinsicht. Seine Strategie mir gegenüber war ebenfalls minimal-invasiv. Manchmal träumte ich davon, er würde mich vor die Tür setzen.

»Warum nach Miami?«, hatte mich der Däne gefragt. Die Antwort war einfach: Ich wollte das Ankommen in New York abfedern, ich wollte die Stadt mit meiner Heimkehr beglücken, nicht erschrecken. Seit Jahrzehnten war ich nicht zu Hause gewesen. Außerdem war ich vor enttäuschter Liebe ganz blass, in jeder Hinsicht, und brauchte ein bisschen Bräune im Gesicht. Ich hatte Ivan geschworen, ich würde seinetwegen ewig unglücklich sein, aber deswegen musste ich ja nicht gleich todkrank aussehen. Ich beschloss, meinem Mann bei der ersten Gelegenheit ein liebes E-Mail zu schreiben. Bestimmt hatte er mir auch geschrieben. Neun quälende Stunden lang hatte ich nicht nach meiner Post gesehen.

Die Tasche voll grün-grau uniformierter Dollarscheine, marschierte ich in die Hitze hinaus und bestieg das erstbeste öffentliche Verkehrsmittel, das in Sicht kam. Ein Ofen auf Rädern. Ein Bus mit kaputter Klimaanlage. Dies war nicht das Amerika, an das ich mich erinnerte – ein Land, in dem eine defekte Klimaanlage mit dem gleichen Ernst behandelt wurde wie ein Fall von akuter Atemnot. Aber an vieles erinnerte ich mich nicht mehr und war auch nicht auf den Spuren der Erinnerung unterwegs. Im Unterschied zu den meisten Menschen, die ich kenne, pflege ich keine empfindsamen Beziehungen zu meiner Kindheit. Wie man sich dahin zurückwünschen kann oder auch nur zurückblicken will, ist mir unbegreiflich.

Ich suchte mir einen Platz im vorderen Teil des Busses, setzte ein ansprechendes Gesicht auf und wartete auf den männlichen Fahrgast, der demnächst einsteigen und sich den Platz neben mir aussuchen würde. Ich wollte meine Muttersprache ausprobieren. Die junge Frau, die sich schließlich auf den Sitz neben mir sacken ließ, kannte ich. Sie war in der Maschine aus Frankfurt gewesen, aber hinter mir eingequetscht, in der business class, und hatte ebenfalls nur Handgepäck dabei. Ihr Gesicht besaß die amerikanische Vollkommenheit – kleine, zierliche Nase, perfekte Zahnreihe und schwarzes Haar, das glänzte wie heißer Teer. Seufzend griff sie sich mit einer völlig unamerikanischen, melodramatischen Geste an die Brust. Aha, dachte ich, der gleiche Kummer wie bei mir.

»Was führt Sie nach Miami?«, fragte ich.

»Brustvergrößerung«, sagte sie und tätschelte ihren Busen. »Morgen früh werden die Fäden gezogen.« Sie sprach mit einem breiten russischen Akzent. Er erinnerte mich an meinen Ivan.

»In Deutschland gibt es keine zuverlässigen Ärzte«, verkündete sie. »Wir gehen alle nach Miami. Zu Doktor Haimowitz. Ich bleibe eine Nacht, dann fliege ich zurück.«

»Sind Sie jüdisch?«, rief ich überrascht.

Sie lachte genüsslich über meine Frage, tippte sich an die Nase und sagte: »Die stammt auch von Doktor Haimowitz.«

Sie nannte ihren Namen, Ivana, und empfahl mir ein Hotel am Strand, das von einem russischen Ehepaar betrieben wurde. Trotzki habe in den Vierzigern ein paar Tage dort verbracht. Dort werde sie wohnen.

Nachdem Ivana festgestellt hatte, dass wir beide fünfunddreißig waren, zwei Schönheiten, deren Horoskope zueinander passten, die den gleichen Blackberry benutzten und beide langes Lockenhaar hatten (meines »kupferrot«, frisch aufgelegt), machte sie den Vorschlag, wir könnten uns doch ein Zimmer teilen. So würden wir Geld sparen und nicht allein sein. Sie war gerührt, als sie hörte, es sei meine erste Heimkehr seit zwanzig Jahren.

»Du musst tief eintauchen und so lange unten bleiben, wie du kannst«, erklärte sie. »Wenn wir im Hotel sind, kümmerst du dich erst mal um deine Mails. Aber dann sehen wir uns Game Shows an. Einen besseren Einstieg nach Amerika gibt es nicht. Wir lassen den Fernseher die ganze Nacht laufen, dann stört uns der Ozean nicht. Der macht einen ziemlichen Lärm in diesem Hotel. Und morgen frühstücken wir zusammen – sie nennen es breakfast bar, aber Alkohol servieren sie keinen, den müssen wir selbst mitbringen.«

Sie fügte hinzu: »Neben mir im Flugzeug saß ein Banker. Er sagte, ich solle mein ganzes Geld lieber heute als morgen von der Bank und der Börse nehmen und in die Matratze stopfen. Demnächst würde die Weltwirtschaft zusammenbrechen. Ich sagte ihm, ich hätte eine bessere Idee, was ich mit meinem Geld machen könnte.« Sie legte ihre Hände an die Wangen und schob sie nach oben.

Sonderbarer Zufall, dachte ich später. Da laufe ich einem Ivan davon und verbringe meine erste Nacht in Amerika in einem Kingsize-Bett mit einer Ivana – die in ihrer Betthälfte schon bald so schnarchte wie Ivans alter sowjetischer Rasierer. Bestimmten Fügungen entkommt man nicht. Sie sind stärker als jede Wahrscheinlichkeit. Über dem Fernsehen vergaß ich das Internet. Und um meinen Schönheitsschlaf nicht zu verpassen, schluckte ich ein paar Rohypnol.

Ich sehnte mich danach, die Luft der Freiheit zu atmen. Ich hätte es mit dem Dänen probieren sollen. Ich hätte ihm ein bisschen Glück schenken können.

Clarissas empfindsame Reise

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