Читать книгу Die Hausarztpraxis von morgen - Iris Veit - Страница 12
2.4 Die Bedeutung des Übergewichts – überschätzt?
ОглавлениеHerr Z. ist extrem übergewichtig. Unbestreitbar ist, dass eine Vielzahl chronischer Krankheiten mit einem deutlich erhöhten Body-Mass-Index (BMI) einhergehen. Adipositas wird definiert durch einen BMI >30 kg/m². Ein knappes Fünftel der Erwachsenen in Deutschland ist bei Zugrundelegung dieser Definition adipös (Selbstangaben Befragter 2017), ein knappes Viertel nach erhobenen Messdaten des Robert Koch-Instituts von 2011 (Schienkewitz et al. 2017 und Lampert 2019).
Abb. 2.3: Prävalenz der Adipositas bei Frauen in Abhängigkeit vom Alter und Einkommen in % Für alle untersuchten Frauen steigt Adipositas mit dem Alter – in der höchsten Altersgruppe beträgt der Unterschied zwischen arm und reich mehr als 30 % (Daten nach Bundesgesundheitsblatt 5/6 2013).
Während Adipositas bei älteren Frauen (bis 69 Jahren) leicht rückläufig ist, hat sie bei jungen Erwachsenen und Kindern und Jugendlichen deutlich zugenommen (Mensink et al. 2013). Ob der Body-Mass-Index überhaupt eine Größe ist, die krankheitsrelevant ist, wird zumindest in der Praxisempfehlung der DEGAM zur Adipositas infrage gestellt, weil er Fettanteil und -verteilung nicht berücksichtigt. Ist der Taillenumfang nicht relevanter? Vergessen werden sollte nicht: Moderates Übergewicht (bis BMI 30 kg/m²) ist ein Schutzfaktor bei einer Vielzahl schwerwiegender Erkrankungen. Leicht lässt sich Adipositas der mangelnden Selbstdisziplin eines Individuums zuschreiben, dem vielleicht noch durch Aufklärung beizukommen ist. Auf komplexere Zusammenhänge verweist bereits, dass die Prävalenz der Adipositas wesentlich geringer ist bei Personen mit hohem sozio-ökonomischen Status (Lampert et al. 2013; Abb. 2.3).
Adipöse Patienten erleben sich gesellschaftlich stigmatisiert und diskriminiert. Eine adipöse Patientin berichtete, dass sie sich in der Öffentlichkeit nicht mehr traue, ein Eis zu essen angesichts der sie verurteilenden Blicke der Passanten – die Stigmatisierung ist ein Grund für sie, sich für eine bariatrische Operation zu entscheiden. Adipöse Patienten fühlen sich oft auch von ihren Ärzten respektlos behandelt. Weil auch wir Hausärzte von gesellschaftlichen Normen beeinflusst sind, sollten wir unsere Haltung gegenüber Übergewichtigen hinterfragen. Bei keiner anderen Krankheit ist der Einfluss der Nahrungsmittelindustrie so offensichtlich: Fett in Lebensmitteln wurde durch Zucker ersetzt. Die schädliche Zuckerkonzentration im Lebensmittel wird unter dem Label des »Light-Produktes« verborgen. Herr Z. denkt erst gar nicht über Light-Produkte nach; er kauft bei knappem monatlichen Grundeinkommen Billigprodukte ein und, weil er allein lebt, überwiegend industrielle Fertigprodukte.
Die Politik unternimmt wenig und überlässt scheinbar demokratisch fast alles dem Individuum. Wenn das Kind bereits in den Brunnen gefallen ist, melden sich wieder Industrien, jetzt mit Formula-Diäten, deren langfristiger Erfolg nicht bewiesen ist.
Bariatrische Operationen zeigen bessere Langzeitergebnisse. Trotz erheblichen Risikos forcieren manche Patientinnen diese Eingriffe. Traumatische Erfahrungen in der Lebensgeschichte ist oft der Hintergrund für dieses Verhalten. Aufklärung über gesunde Ernährung ist oft nicht ausreichend. Eine psychotherapeutische Behandlung sollte neben ernährungsmedizinischer Aufklärung eine weitere Voraussetzung vor einem solchen Eingriff sein. Eine begleitende Betreuung im Rahmen einer hausärztlichen psychosomatischen Grundversorgung ist unerlässlich.