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3 Komplexitätsvariable: Familienmedizin 3.1 Ärzte sind Teil eines komplexen Beziehungsgefüges

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Meistens sitzt vor uns ein einzelner Patient, der ein Anliegen hat, das er ausdrücklich oder nur undeutlich formulieren kann. Hinter ihm stehen virtuell seine Eltern, sein Ehepartner, seine Kinder, Großeltern, vielleicht auch Nachbarn, Arbeitskollegen und Vorgesetzte. Der Patient ist immer Teil sozialer Systeme; die Familie ist das den Ausschlag gebende. Der Patient lässt sich nur im Kontext seiner Herkunftsfamilie und seiner gegenwärtigen Familienstrukturen und weiterer sozialer Systeme angemessen verstehen. Philosophische Denkrichtungen prägten dafür den Begriff der Lebenswelt (Dilthey, Husserl). Dies ist im letzten Jahrhundert auch zu einer theoretischen Gewissheit in der Medizin geworden. Dazu haben die Psychoanalyse und ihr Konfliktmodell beigetragen. Es betrachtet die inneren Konflikte des Individuums als Folgen von Konflikten zwischen den Generationen, zwischen den primären Bezugspersonen, meistens den Eltern, und ihrem Kind. Nicht zuletzt hat dazu die systemische Familientherapie beigetragen, die auf mathematischen und biologischen Modellen des vergangenen Jahrhunderts aufbaut. Hier wird die Familie als offenes, soziales System verstanden, deren Funktion sich in unterschiedlichen Subsystemen wie dem Sub-System Eltern und dem Sub- System Geschwister vollzieht (Minuchin 1988). Die Strukturen befinden sich in einem fortgesetzten Muster der Bewegung. Kein Teil kann sich verändern, ohne die anderen Teile zu beeinflussen.6

Nicht zuletzt hat dazu auch die epidemiologische Forschung beigetragen, die das Ausmaß emotionaler Vernachlässigung, körperlicher und sexualisierter Gewalt in der Kindheit (www.mikado-studie.de) und ihre Auswirkungen auf die Entstehung von chronischen Krankheiten und somatoformer Körperbeschwerden (Felliti 2002) belegt. Epigenetischer Forschung zufolge können traumatische Erfahrungen transgenerational weitergegeben werden.

Dass das Individuum als Gewordener und Handelnder als Teil eines Systems oder – anders formuliert – seiner Lebenswelt zu verstehen ist, ist für Ärzte aller Fachrichtungen von Bedeutung. Familienanamnese würde daher mehr bedeuten, als den Patienten nur als Träger biologischer Eigenschaften zu verstehen. Alle Ärzte sollten daher in ihrer Familienanamnese neben der spezifischen Krankheitsanamnese auch die psychosozialen Strukturen der Herkunftsfamilie und gegenwärtige Bezugspersonen berücksichtigen. Für Allgemeinmediziner kommen jedoch Besonderheiten hinzu:

• Sie behandeln gleichzeitig mehrere Mitglieder derselben Familie. Überwiegend wählen Familien in Deutschland eine gemeinsame Hausarztpraxis. Ärzte werden daher von verschiedenen Individuen verschiedene Geschichten hören und damit unterschiedliche Bedeutungen, die der jeweilige Patient aus seiner Sicht dem gleichen Geschehen erteilt.

• Sie betreuen Patienten im longitudinalen Verlauf oft über mehrere Jahrzehnte und erleben mit ihnen den Prozess der dauernden Bewegung der Familienstrukturen. Sie betreuen am Beginn ihrer Praxistätigkeit den Jugendlichen, der im weiteren Verlauf heiratet, sich eventuell scheiden lässt, dessen Kinder ebenfalls in der Praxis betreut werden und vielleicht weiterhin die Eltern, die nun Rentner sind oder deren Sterben sie schließlich begleiten. Familienstrukturen sind in Bewegung, Änderungen sind häufig mit Krisen verbunden und die Hausärzte sind beobachtende Teilnehmer.

• Bei ihrer Hausbesuchstätigkeit stellen sich ihnen in einer Szene die Beziehungsstrukturen der Familie und nicht zuletzt der soziale Hintergrund dar. Solche Beobachtungen eröffnen sich selbstverständlich nicht nur beim Hausbesuch, sondern auch beim gemeinsamen Auftreten zum Beispiel von Ehepaaren oder Müttern und Vätern mit ihren Kindern in der Praxis. Möglicherweise wohnen die Ärzte im selben Quartier, wo sich auch die Praxis befindet. Sie treffen Patienten am Elternsprechtag der Schule, im Supermarkt, im Sportverein. Sie erhalten dadurch Informationen über die Lebenswelt der Patienten, die ihnen der jeweilige Patient vielleicht gar nicht erzählen wollte und konnte, die aber dennoch ihre Wahrnehmung und Gefühle beeinflussen. (Umgekehrt nehmen auch Patienten Tatsachen der Lebenswelt der Ärzte wahr, die diesen peinlich sein könnten, weil sie in den Augen der Patienten ein ärztliches Ideal-Bild ankratzen könnten.)

Die wissenschaftliche Allgemeinmedizin hat dafür den Begriff der erlebten Anamnese geprägt.

Entsprechend dieser Besonderheiten hat sich die deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin umbenannt in »Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin« und den Arbeitsauftrag formuliert: »…die haus- und familienärztliche Funktion – insbesondere Betreuung des Patienten im Kontext seiner Familie oder sozialen Gemeinschaft, auch im häuslichen Umfeld (Hausbesuch)«. Die Aufgabe ist benannt.

Die Hausarztpraxis von morgen

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