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3.5 Haltungen in der Familienmedizin 3.5.1 Wertekollisionen beachten – ärztliche Reflexion der eigenen Wertvorstellungen und des eigenen Familienbildes »Was willst Du, das ich weiß?« Wertekonflikte und ihre Bedeutung für die Familienmedizin

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Ein 55-jähriger LKW-Fahrer stellt sich in der hausärztlichen Sprechstunde bei der Ärztin in Weiterbildung vor. Er ist seit mehreren Jahren Patient der Praxis und wünscht sich zum wiederholten Male eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung wegen Erschöpfung zur Vorlage beim Jobcenter. Seine 50-jährige Ehefrau ist ebenfalls in derselben Praxis, jedoch bei einer anderen Ärztin, in Behandlung. Die Ehefrau hatte vor kurzem einen Apoplex erlitten mit einer rechtsseitigen Halbseitensymptomatik. Auf die Frage, was ihn gegenwärtig belaste, beichtet der Patient sehr erleichtert, dass er schon seit Monaten eine Freundin außerhalb seines Wohnortes habe, die er liebe, jedoch seine Ehefrau nicht verlassen möchte. Dieses Fremdgehen ihres Patienten und seine Ambivalenz, auszuharren oder seine erkrankte Ehefrau zu verlassen, sind mit den Wertvorstellungen der Ärztin überhaupt nicht vereinbar. Aus ihren Erfahrungen in der Herkunftsfamilie ist eine solche Ambivalenz kaum tolerierbar. Sie müsse das schlucken, ist ihr Gefühl, und sie wisse nicht, ob die in ihr entstehende Ablehnung des Patienten die weitere Behandlung nicht negativ beeinflussen könnte. Der Patient war ihr in seiner jovial überheblichen Art eh schon unangenehm, und sein Fremdgehen der letzte Tropfen, der das Wasserglas zum Überlaufen bringt. Sollte sie den Patienten überhaupt weiter behandeln? Sie teilt ihr Wissen der die Ehefrau behandelnden Kollegin mit.

Was sind die Motive des Patienten, der Ärztin sein Fremdgehen zu beichten? Was sind die unbewussten Aufträge des Patienten? Vielleicht erhofft er sich ein Verstehen seines Verhaltens und eine Absolution von ihr. Vielleicht sieht er in der Ärztin in Weiterbildung seine Tochter, die im selben Alter wie die Ärztin ist? Stellvertretend könnte sie gewähren, was er sich von seiner Tochter wünscht.

Erhofft er sich nicht nur, dass er verstanden wird, sondern auch, dass die Ärztin ihr Verständnis ihrer Kollegin vermittelt, die seine Frau behandelt? Er könnte annehmen, dass die beiden Ärztinnen sich miteinander austauschen. Wünscht er sich, nicht als rücksichtsloser Mensch von beiden Ärztinnen betrachtet zu werden, auch wenn er sich scheiden lässt und den bisherigen Wohnort verlässt, und spekuliert darüber hinaus, dass eine positivere Meinung der seine erkrankte Frau behandelnden Ärztin auch seine Frau positiver stimmen würde?

Die Ärztin in Weiterbildung erlebt einen belastenden Konflikt in Bezug auf ihre eigenen Wertvorstellungen. Diese könnten unbeachtet zu ablehnenden Emotionen und davon geleiteten Aktionen führen. Sie könnte zum Beispiel die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung für das Jobcenter nicht mehr ausstellen. Dass sie ihre eigene Wertekollision wahrnimmt, kann ihr eine weitere Begleitung des Patienten ermöglichen, und zu den Fragen führen, die dem Patienten helfen, seine eigene Ambivalenz zu klären.

Das Team steht vor der Frage, ob es sich mit dem Opfer, der Ehefrau, solidarisiert oder die Wertekollision soweit reflektiert, dass es gelingt, nicht Richter zu werden, sondern beiden Parteien die richtigen Fragen zu stellen. Solches Nachdenken ist auch hilfreich für den Fall, dass sich die Ärztin in Weiterbildung für die Trennung von ihrem Patienten entscheidet.

Die die Ehefrau behandelnde Ärztin ist nun im Besitz eines Geheimnisses, dass sie aufgrund der Schweigepflicht der Ehefrau nicht mitteilen darf. Dies ist belastend. Das sollte in jedem Fall gegenüber dem Indexpatienten thematisiert werden. »Was würde passieren, wenn Sie Ihr Fremdgehen und Ihre zukünftigen Pläne Ihrer Ehefrau gestehen?«, »Was erwarten Sie von mir, wenn Ihre Frau mir in der Praxis als Patientin begegnet?«

Die Hausarztpraxis von morgen

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