Читать книгу Die Hausarztpraxis von morgen - Iris Veit - Страница 31
3.5.2 Die falsche Frage: »Was ist die wirkliche Wirklichkeit?«
ОглавлениеNicht selten haben Ärzte den Wunsch, den Partner eines Patienten zusammen mit dem eigentlichen Patienten einzubestellen, um die Wahrheit herauszufinden, ob die unterschiedlichen Anklagen der verschiedenen Familienmitglieder stimmen, und sich einen eigenen Eindruck zu verschaffen, wie es wirklich in der Lebenswelt dieser Familie zugeht. Oder er stolpert über die ungereimten Geschichten desselben Geschehens, die ihm die verschiedenen Mitglieder erzählen. Er mag auf die Idee verfallen, mittels eines Hausbesuches Beweise für die eine oder andere Sichtweise zu sammeln. Dieser Ansatz führt in die falsche Richtung. Hat der Arzt überhaupt die Aufgabe, diese »wirkliche« Wirklichkeit herauszufinden? Die Frage, wer hat Recht, stellt sich ihm nicht. Wahrheit ist ein Wert, der für die Zeit, die Person und die Situation spezifisch ist. So formulierte es der jüdische Psychoanalytiker Wurmser 1989. Es geht also darum, welche Bedeutung der Einzelne dem Geschehen beimisst. Diese Bedeutung muss der Arzt verstehen. Vielleicht kann er dazu beitragen, dass der eine die Sichtweise des anderen versteht. Um das zu erreichen, sollte er sich mit eigenen Werturteilen und der konfrontativen Mitteilung der eigenen Beweiserhebung und Hypothesen zurückhalten. Der Arzt sollte eher die Haltung der Neutralität einnehmen, d. h. nicht Partei ergreifen und niemanden entwerten; er sollte stattdessen die richtigen Fragen stellen. Richtig sind Fragen, die die Bedeutung aus Sicht des anderen gegenwärtig machen und patientenseitige Ambivalenzen klären helfen: »Was würden Dritte zu diesem Verhalten sagen? Wie würden andere reagieren, wenn sich das Verhalten ändern würde? Was wäre, wenn das Problem nicht mehr existierte?«
Wenn mehrere vor dem Arzt im Sprechzimmer sitzen, ist es schwierig, durch Einforderung von Einsicht ein Verstehen der Position des anderen zu ermöglichen. Wenn in einem Gespräch in der Gruppe einer der Teilnehmer das Gefühl hat, der Arzt verbünde sich mit dem anderen, wird er seine Anklagen verschärfen oder sich gänzlich zurückziehen. Nichts ist gewonnen, damit die Familie eine gemeinsame Lösung findet.
Doch ist diese Regel hinfällig, wenn Hausärzte für den Schwächeren Partei ergreifen müssen, um zum Beispiel den Schutz eines Opfers in einer von Gewalt und Vernachlässigung charakterisierten Familie zu gewährleisten.