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3.6.1 Erlebte Anamnese und biografische Anamnese

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Erlebte Anamnese betont die Wichtigkeit von Informationen, die der Arzt für seine Hypothesenbildung benötigt. Natürlich sind Informationen wichtig, die Ärzte durch geteilte Lebenswelten oder im longitudinalen Verlauf der Betreuung oder durch andere Familienmitglieder erhalten, die gleichzeitig behandelt werden. Selbstverständlich ist es wichtig, von der Ehefrau zu erfahren, dass das Schnarchen des Ehemannes sie stört. Der Hausarzt kann den Beziehungs- wie den Sachaspekt dieser Aussage nutzen. Die erlebte Anamnese ist jedoch kein Ersatz für die Erfassung der individuellen Sichtweise des jeweiligen Einzelpatienten. Implizit stellt der Begriff den Arzt in den Mittelpunkt und hält die Bedeutung für ausschlaggebend, die er dem Geschehen erteilt. Er unterstellt, dass der Arzt weiß, was »richtig« ist. Dies steht im Gegensatz zur Auffassung systemischer Familientherapie, dass die Familie immer selbst eine Lösung finden muss. Erlebte Anamnese ist auch kein Ersatz für eine biografische Familienanamnese. Ausdrücklich sollten Hausärzte die biografische Erzählung ihrer Patienten erfassen (Veit et al. 2018).7

Die Familie ist der Ort, an dem sich alle Entwicklungsschritte vollziehen. Jeder entwickelt sich nur im kommunikativen Tanz mit seinen ersten Bezugspersonen. Fehlende Nestwärme oder gestörte Resonanz kann weitreichende Folgen für Gesundheit und Krankheit haben.8

Wie kann der Arzt für sich und seine Kollegen Familienstrukturen sowohl in der Herkunftsfamilie als auch in der aktuellen Familiensituation dokumentieren? Hierzu wird in allgemeinmedizinischen Lehrbüchern das Genogramm (www.ge nogramm.de) vorgeschlagen, das verschieden Symbole bereithält, um das Beziehungsgefüge einer Familie über die Generationen in einem Flussdiagramm zu veranschaulichen. Sicherlich empfehlenswert, aber vielleicht für alle Fälle zu ausführlich, zumal sich der Hausarzt anamnestisch an den Einzelnen wendet.

Für die Autorin hat sich bewährt, in einem Anamnesebogen Genealogie wie folgt zu erfassen: Alter des jeweiligen Elternteils bei der Geburt des Indexpatienten (zum Beispiel: Mutter +20, wenn diese zum Zeitpunkt der Geburt des Patienten 20 Jahre alt war), deren Geburtsort und Beruf. Die Stellung in der Geschwisterreihe (zum Beispiel: Männlichkeitszeichen +7, wenn ein Bruder 7 Jahre älter ist als der Patient). In ähnlicher Weise kann mit den eigenen Kindern des Indexpatienten verfahren werden. Wichtige Trennungserlebnisse und Verluste sollten dokumentiert werden: Scheidung der Eltern (+7), wenn der Indexpatient zum Zeitpunkt der Trennung der Eltern 7 Jahre alt war. Der berufliche Werdegang einschließlich des erlernten Berufes sollte erfasst werden.

Neben der Dokumentation kann eine Skizze der Familienbeziehungen als ein räumliches Bild klärend wirken, vor allem dann, wenn es gemeinsam mit dem Patienten entwickelt wird ( Abb. 3.1). Familientherapeuten und Kinder- und Jugendpsychotherapeuten nutzen dafür Symbole wie Holzpüppchen oder Tiersymbole.

Abb. 3.1: Skizze zu Fallbeispiel »Wer hat Schuld?«

Der Ehemann scheint isoliert und umgeben von negativen Beziehungen, und seine einzige Hoffnung ist das Kind. Die Skizze zeigt auch Lücken, die in späteren Gesprächen gefüllt werden könnten, so die Beziehung der Patientin zu ihrem Vater.

Die Hausarztpraxis von morgen

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