Читать книгу Die Hausarztpraxis von morgen - Iris Veit - Страница 38
3.6.3 Die Intimität des Einzelnen wahren – Wenn Paare zusammen erscheinen Sie sieht nicht, er hört nicht
ОглавлениеEs schien naheliegend, das Ehepaar, beide ca. 75 Jahre alt, immer zusammen in der Sprechstunde zu betreuen. Die Ehefrau war schwer sehbehindert und nicht in der Lage, eigenständig ihre Medikamente zur Einstellung ihres Bluthochdrucks einzunehmen. Der Ehemann war hörbehindert, und die Rolle der Ehefrau in der Sprechstunde war die einer Übersetzerin der ärztlichen Interventionen zur Behandlung einer koronaren Herzkrankheit. Sie schienen auch in der Behinderung ihrer sensorischen Funktionen als eine symbiotische Einheit, in der der eine nicht ohne den anderen existieren kann. Erst als die Hausärztin die Ehefrau allein zum Gespräch bat, klagte sie über den rigiden Druck ihres Ehemannes, seine ständig kontrollierende Aufsicht über sie und seine unwirsche Behandlung. Die Möglichkeit, ihre Klagen dem Arzt mitzuteilen, war für sie erleichternd. In der Folge schuf die Hausärztin immer eine Situation, in der der jeweilige Partner auch allein angehört wird.
Es gibt Geheimnisse in den komplexen Beziehungssystemen einer Familie, von denen der Hausarzt nie erfahren würde, wenn er mit mehreren dieses Systems gleichzeitig spricht. Der Indexpatient fürchtet vielleicht die Kontrolle des anderen oder möchte sich oder den anderen durch konfrontative Äußerungen nicht beschämen, oder er möchte seine Rolle durch Zugabe von Schwächen nicht minimieren. Möglicherweise eskaliert bei einem Ehepaar der schon vorhandene Streit in Anwesenheit des Arztes: »Siehst Du, das habe ich Dir schon immer gesagt!« Die Einmischung des Hausarztes sollte nicht darin bestehen, wertend zu urteilen und Gewichte zu verschieben, sondern ein Gespräch unter den Beteiligten zu fördern, damit sie zu eigenen Lösungen kommen können. Das ist bei gleichzeitiger Anwesenheit aller Beteiligten schwierig. Es ist grundsätzlich einfacher, Paare nicht gleichzeitig gemeinsam zu behandeln und sie auch getrennt in das Sprechzimmer zu bitten. Wenn der Arzt es dennoch tut, ist seine Rolle verändert. Er ist nun ein Moderator, der die Kommunikation in Gang setzen will. Lädt der Arzt zu einem Gespräch mit Angehörigen ein, muss er vorher mit dem Indexpatienten klären, dass aus seiner Sicht die Schweigepflicht gilt, und die Ausnahmen jetzt vereinbart werden sollten.
Sitzen nun zwei Personen in der Gesprächssituation vor dem Arzt, wenn auch nicht von ihm gewollt, könnte er zunächst die begleitende Person wertschätzend ansprechen: »Schön, dass Sie Ihren Partner/Tochter… begleiten.« »Was möchten Sie, dass ich über Ihren Mann/Tochter…wissen sollte?«
Sich bedankend für die Informationen kann der Arzt nun beiden vermitteln, dass er seinen Regeln entsprechend mit dem eigentlichen Patienten allein sprechen will. Auf keinen Fall sollte die Verantwortung für diese Entscheidung dem Patienten zugeschoben werden, der eher den Konflikt vermeidend antworten würde: »Ich habe doch nichts zu verbergen!« Der Hausarzt setzt die Regeln in seiner Praxis!
Auch beim Hausbesuch in der Familie oder im Heim sollte der Hausarzt zumindest von Zeit zu Zeit zusätzlich mit dem Einzelnen allein sprechen, weil ihm andernfalls zum Beispiel Gewalt in der Pflege eher verborgen bleibt. Diese Regel sollte auch für Menschen mit kognitiven Einschränkungen – zum Beispiel Menschen mit geistiger Behinderung und dementiellen Erkrankungen – gelten, die mit ihrem Betreuer in der Praxis erscheinen.
Ausnahmen von der Regel sind Aufklärungsgespräche und Gespräche zur Überbringung schlechter Nachrichten. Im letzteren Fall braucht der betroffene Patient wahrscheinlich die unmittelbare Unterstützung eines nahen Angehörigen. Im ersteren Gesprächstypus fördert der Hausarzt Verständnis durch Information auf der kognitiven Ebene. Er führt es mit der Intention, Wissen zu vermitteln, das die Familie zur Problemlösung und zur Wahrnehmung ihrer Ressourcenfunktion bei Krankheit benötigt.